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Chronik und Quellen
1934
Februar 1934

Bericht aus Nürnberg/Fürth

Am 5. März 1934 legt die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth für die zweite Hälfte Februar folgende „Politische Nachrichten“ vor:

1. ''Reichsvertretung der deutschen Juden''
2. Palästina-Amt Berlin
3. Jüdische Jugendbewegung
4. ''Der deutsche Vortrupp''
5. Jüdische Sportbewegung

1. ''Reichsvertretung der deutschen Juden''

Der Beirat der Reichsvertretung der deutschen Juden hat am 11.2.1934 die folgende Entschließung gefaßt:

''Die Art und Weise, in der innerhalb der deutschen Judenheit in der letzten Zeit vielfach innerjüdische Auseinandersetzungen geführt worden sind, veranlaßt den Beirat der Reichsvertretung der deutschen Juden zu folgender Erklärung:

Die Reichsvertretung der deutschen Juden beruht auf der Überzeugung, daß die Gegenwart über alles Trennende im Weltanschaulichen hinweg in der praktischen Arbeit die geschlossene Einheit des deutschen Judentums gebietet. Mag dieses in sich auch noch so stark gegliedert sein, keine Richtung darf hoffen, durch rücksichtslose Vertretung einseitiger Grundsätze und Interessen auch nur so viel zu gewinnen, wie eine Zerspaltung des deutschen Judentums der Gesamtheit, aber auch ihr selbst, schadet. Alle Kräfte müssen dem einen Ziele dienen, daß jeder deutsche Jude im Vaterlande nicht nur seinen Lebensraum findet, sondern seine jüdische Überzeugung auch offen und frei bekennen und betätigen kann.

Die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen weltanschaulichen Strömungen, die nicht unterbunden werden sollen, dürfen die durch die notwendige Solidarität gezogene Grenze nicht überschreiten. Der Beirat fordert deshalb die Reichsvertretung der deutschen Juden auf, eine Einrichtung zur Schlichtung von Streitfällen zwischen jüdischen Verbänden, Gruppen, Institutionen und Zeitungen zu schaffen. Die Reichsvertretung darf aber auch äußersten Falles nicht zögern, der jüdischen Öffentlichkeit den bekannt zu geben, wer gleichwohl fernerhin den Frieden und die Einheit der deutschen Judenheit gefährdet.

Einer würdigen Zukunft des ganzen deutschen Judentums soll unsere Arbeit gewidmet sein.''

Hierzu ist zu bemerken:

Die ''Reichsvertretung der deutschen Juden'' Berlin besteht seit 1933. Sie ist gedacht als politische Interessenvertretung aller in Deutschland lebenden Juden, wurde jedoch von der Gruppe der gesetzestreuen (orthodoxen) Juden bis jetzt noch nicht anerkannt.

Innerhalb der gesamt-jüdischen Bewegung bestehen, wie aus der oben zitierten Entschließung der Reichsvertretung der deutschen Juden ersichtlich ist, weltanschaulich sehr scharfe Gegensätze. Man kann im Allgemeinen drei Richtungen unterscheiden, die [auch] bei der jüdischen Jugendbewegung in dem neuerdings für Bayern geschaffenen ''Dreier-Rat'' (vgl. unten) besonders deutlich hervortreten:

a. Die religiös-liberalen Juden . Sie operieren hauptsächlich mit ihrer Assimilation und ihrer Verbundenheit mit Deutschland und sind das treibende Moment in der Reichsvertretung der deutschen Juden.

b. Die Zionisten . Diese spielen, durch die Emigration in den Vordergrund gerückt, zur Zeit eine Hauptrolle. Sie sind als jüdische Nationalisten anzusprechen, deren Hauptziel die Errichtung des jüdischen Nationalstaates in Palästina ist. Von den gesetzestreuen Juden werden die Zionisten teilweise scharf abgelehnt.

c. Die gesetzestreuen (orthodoxen ) Juden. Für sie bildet das jüdische Gesetz (Thora ) die primäre und ausschließliche Grundlage für alle Handlungen des religiösen wie des weltlichen Lebens.

In Bayern besteht, unabhängig von der oben genannten Reichsvertretung der deutschen Juden, seit längerer Zeit der ''Verband israelitischer Gemeinden'' , München, Herzog Maxstraße 7 (Dr. Neumeyer ). In ihm sind alle bayerischen jüdischen Gemeinden ohne Rücksicht auf die jüdisch-politische Einstellung zusammengeschlossen. Nach unten gliedern sich die einzelnen Kultusgemeinden wieder in die verschiedenen Religionsgesellschaften wie ''Ohel (=Zelt) Jaakob'' München (Dr. Ehrenbacher), ''Adas (=Gemeinde) Israel '' Nürnberg (Dr. Klein), usw.

2. Palästina-Amt Berlin der Jewish Agency for Palestine (Zionisten)

Ein Einblick in die augenblickliche Organisation des Palästina-Amts Berlin kann durch das nachstehend zitierte Rundschreiben vom 20.2.34 gewonnen werden. (Das ''Palästina-Amt Berlin'' ist eine Institution der Zionisten und nicht zu verwechseln mit der ''Palästina-Zentrale'' in Frankfurt a/M, deren Tätigkeit sich in der Hauptsache auf die ''Agudisten'' (orthodoxe Gruppen wie ''Agudas Jisrael '', ''Adass Israel '', usw. erstreckt.) [...]

Aus hier vertraulich bekannt gewordenen Briefen nach Palästina ausgewanderter Juden konnte wiederholt entnommen werden, daß ihren hohen Erwartungen die tatsächlichen Verhältnisse in Palästina keineswegs entsprechen. So schrieb dieser Tage ein Nürnberg-Fürther Jude, nachdem er seine Enttäuschung über die ''Eintönigkeit und Geistlosigkeit'' in Palästina zum Ausdruck gebracht hatte:

''.... man vergißt, daß man im ''heiligen Land'' ist, über das man eigentlich nichts Schlechtes schreiben darf. Aber im Hitlerdeutschland ist es schöner und - man kann dort ein besserer Jude sein. Das zu Deinem Trost! ...''

3. Jüdische Jugendbewegung

Die oberste Instanz der jüdischen Jugendbewegung ist z.Zt. die ''Reichsvertretung der jüdischen Jugendverbände'' Berlin.

Diese führt auch die einschlägigen Verhandlungen mit dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach . Die nachgeordnete Instanz der jüdischen Jugendbewegung für Bayern ist der ''Landesausschuß Bayern der jüd. Jugendverbände''. Dieser untersteht der Zuständigkeit des HJ -Gebietsführers Klein in München.

Der Landesausschuß Bayern der jüd. Jugendbewegung steht unter Führung eines sogen. ''Dreier-Rats'', der sich aus den Vertretern der nachstehend bezeichneten drei Richtungen der jüdischen Bewegung an sich (vgl. oben) zusammensetzt:

a. Religiös-Liberale Dr. Teutsch , Nürnberg, Königstr. 33/37 Vors. des Dreier-Rats,
b. Zionisten   Dr. Josephstal , München, Herzog-Maxstraße 5
c. Gesetzestreue (Orthodoxe)Adolf Kohn, Nürnberg, Albrecht Dürerstr. 19.

In Nürnberg-Fürth sind die nachfolgenden jüdischen Jugendverbände dem Landesausschuß Bayern angeschlossen:

Name: Sitz: Leiter: Zuständiger Reichsverband:

Agudas Jisroel Jugendgruppen   Nürnberg Felix Gelernter, Nbg., Rothenburgerstr. 19 Agudas Jisroel Jugendgruppen
Brith Chaluzim Datiim   Nürnberg Max Bermann, Nbg., Zufuhrstr. 6 Brith Chaluzim Datiim
Esras Noschim Mädchengruppe   Nürnberg Martha Hess, Nbg., Martin Richterstr. 7 Esra Berlin
Bund der jüd. Jugend   Nürnberg Franz Biermann, Fürth, Bahnhofstr. 6 Bund der Jüd. Jugend
Habonim noar chaluzi   Nürnberg Otto Reiss, Nbg., Neue Gasse 12 Habonim noar chaluzi Jugendgemeinschaft

Name:            Sitz: :             Leiter: :Zuständiger Reichsverband:

Hechaluz   Nürnberg Otto Reiss, Nbg., Hechaluz, Deutscher Landesverband
Jüd. Jugendbund   Nürnberg Gustav Heinsfurter, Nbg., Findelwiesenstr. 21 Verband der jüd. Jugendvereine Deutschlands
Noar Agudati   Nürnberg Felix Gelernter, Nbg., Ottostr. 14 Noar Agudati
Zeire Misrachi     Nbg./Fürth Simon Eldod, Fürth, Ottostr. 17 Zeire Misrachi
Esra Gruppe     Nürnberg Adolf Kohn, Nbg., Albrecht Dürerstr. 19 Esra Berlin N 27, Krausnickstr. 14

4. ''Der deutsche Vortrupp''

Ende Februar 1933 wurde in Kassel eine jüdische Jugendorganisation (bündische soldatische Einstellung) gegründet unter der Bezeichnung ''Der deutsche Vortrupp ''.

(Bundesleiter: Dr. Hans Joachim Schoeps , Frankfurt a/M. Schoeps ist gleichzeitig Schriftleiter der Monatsschrift ''Der deutsche Vortrupp''.)

Der Bund bekennt sich zum sogen. ''deutschbewußten Judentum'', ist also mit dem ''Reichsbund jüdischer Frontsoldaten '' (RjF) wesensverwandt. Gegenüber den Zionisten wie auch den ''gesetzestreuen Juden'' steht er in schärfster Opposition. Seine Aufgabe faßt er zusammen in der Parole: ''Bildung einer jüdischen Elite im Dienste Deutschlands''.

Zum Jahreswechsel 1933/34 fand in Gersfeld/Rhön eine Tagung des Vortrupps statt. Dort wurde ein sogen. ''Gersfeldkreis'' als engerer Arbeitskreis gebildet und gleichzeitig eine Sondertagung des dem Vortrupp angegliederten ''theologischen Arbeitskreises'' durchgeführt. Hauptgegenstand der Tagung bildete die Besprechung der grundlegenden programmatischen und organisatorischen Fragen des Bundes. Bemerkenswert für die Verkennung der rassischen Grundgesetze ist die in den dort geführten Erörterungen immer wiederkehrende Hypothese:

''Wir sind Deutsche, nicht obschon, nicht zwar, wenn auch, sondern weil wir Juden sind.

Erlebnis des Deutschen, das ist die geistige und leibhaftige Mitte unseres Kreises. Erlebnis des Deutschen, weil wir Juden sind, das ist der Anfang und das Ende, die Quelle und das Ziel.''

Der Bund will nicht als Jugendbund, sondern als ''politische Gruppe'' gelten. Er ist in ''Landschaften'' und ''Gefolgschaften'' gegliedert...

Im März 1934 sollen Gebietstreffen in Kreuznach (für Westdeutschland) und in Görlitz (für Sachsen und Schlesien) durchgeführt werden. Am 27./28.1.34 wurde durch den ''Erfurter Kreis'' in Erfurt bereits ein kleines Treffen durchgeführt.

In Nürnberg wurde Werbematerial des Bundes festgestellt; ernsthafte Anhänger scheinen hier bis jetzt aber nicht vorhanden zu sein.

5. Jüdische Sportbewegung

Die jüdische Sportbewegung, deren Anfang bis in die Zeit vor dem Weltkrieg zurückreicht, nahm erst in den letzten 5-6 Jahren einen stärkeren Aufschwung. Einerseits war es der ''Reichsbund jüdischer Frontsoldaten'' (RjF), der aus den Kreisen des religiös-liberalen Judentums (sogen. ''deutschbewußte'' Juden) allenthalben eigene Sportgruppen (Sportgruppen ''Schild'', usw.) bildete und durch planmäßige Erfassung der jüd. Jugend seinen Rahmen als Kriegsteilnehmerorganisation überschritt.

Diese Expansionsbestrebungen der durch den RjF verkörperten liberalistischen Richtung des Judentums bildeten für die jüdisch-nationalsozialistische [sic] Richtung (Zionisten) den Anlaß, den schärfsten Konkurrenzkampf aufzunehmen.

Die zionistische Richtung der jüd. Turn- und Sportbewegung ist organisatorisch durch den internationalen ''Makkabi-Weltverband '' vertreten, der sich für die einzelnen Länder in ''Kreise'' untergliedert, in denen wiederum die einzelnen örtlichen Organisationen des betreffenden Landes zusammengefaßt sind. Die wesentlichste Grundlage des ''Makkabi Weltverbandes, deutscher Kreis'' bildeten die ''Bar-Kochba ''-Vereine.

Es ist feststehende Tatsache, daß der Aufbau einer Turn- und Sportbewegung weder seitens der ''deutsch-jüdischen'' Liberalisten noch seitens der Zionisten lediglich wegen des Sportes an sich vorgenommen wurde; beide Richtungen wollten ihre Turn- und Sportbewegung in erster Linie der Förderung ihrer jüdisch-politischen Bestrebungen nutzbar machen.

Durch die nationale Erhebung wurde die Situation grundlegend verändert.

Noch bis Ende 1933 wurde in der jüdischen Turn- und Sportbewegung in Nürnberg-Fürth ängstlich vermieden, sich irgendwie bemerkbar zu machen oder gar gegen die inzwischen ergangene Anordnung des Politischen Polizeikommandeurs Bayern zu verstoßen, die jede Betätigung jüdischer Organisationen verbietet, soweit diese nicht rein religiöser oder caritativer Art sind.

Seit Ende 1933 mußte beobachtet werden, daß man auch in der jüd. Turn- und Sportbewegung die Position wieder soweit gefestigt erachtete, um das Wiederaufleben der Vereinstätigkeit ernsthaft zu betreiben. Sehr aktiv zeigte sich hier der ''Reichsbund jüdischer Frontsoldaten'' (Landesvorsitzender: Rechtsanwalt Dr. Landenberger, Nürnberg, Inhaber des E.K. I. Kl.), der unter Hinweis auf seine ''deutschbewußte'' Einstellung wie auf die in ihm zusammengeschlossenen jüdischen Frontkämpfer ein besonderes Entgegenkommen seitens der Behörden für sich in Anspruch nimmt.

Auf die durch die Nürnberg-Fürther jüd. Sportkreise unternommenen Schritte erging das nachfolgende Schreiben des Beauftragten des Reichssportkommissars bei der bayer. Staatsregierung, Oberführer Schneider:

''Der Beauftragte des Reichssportkommissars bei der bayer. Staatsregierung T.B.Nr. 177/34.
München, den 15. Jan. 1934
Schönfelderstr. 11

An
Herrn Rechtsanwalt Dr. Vorchheimer,
Nürnberg
Treustraße 7/II.

Auf mein Schreiben vom 28.11.33 hat mir die Bayer. Politische Polizei mitgeteilt, daß eine Wiederbetätigung der früheren jüdischen Vereine, denen ein Betätigungsverbot auferlegt ist, zur Zeit nicht genehmigt werden kann. Es besteht dagegen keine Erinnerung gegen die Einleitung von Verhandlungen über die Gründung jüdischer Sportvereine, die in einem Landesverband jüdischer Sportvereine zusammengeschlossen werden können.

Danach ist also nicht daran zu denken, je die Bar Kochba Vereine wieder aufleben zu lassen oder Sportabteilungen des Bundes jüdischer Frontsoldaten, sondern die Bayer. Politische Polizei gibt nur die Erlaubnis ganz allgemeinen Sportvereinen, in denen alle Richtungen, sei es Bar Kochba, sei es Bund jüdischer Frontsoldaten, seien es an die Religionsgemeinschaften angeschlossene Abteilungen, vereinigt sind. Ein Beispiel wäre der jüdische Turn- und Sportverein München.

Ich ersuche bei Ihrer Organisation diese Richtlinien zu befolgen, also überall jüdische Turn- und Sportvereine zu bilden, die alles umfassen.
   gez. Schneider.''

Diese Anheimgabe, Verhandlungen über die Gründung eines einheitlichen, sämtliche Richtungen umfassenden jüdischen Sportvereins einzuleiten, wurde in Nürnberg-Fürth zu folgendem Scheinmanöver benützt:

Da weder ''Bar Kochba'' noch der ''Reichsbund jüd. Frontsoldaten'' gewillt waren, sich einer führenden Position in der Nürnberg-Fürther jüd. Sportbewegung zu begeben, wurde auf Grund gegenseitiger Vereinbarung zwischen beiden Richtungen festgesetzt, daß in Nürnberg der ''Bar Kochba'', lediglich unter Änderung seines Namens in ''Jüd. Turn- und Sportverein Nürnberg'', und in Fürth der ''Turn- und Sportverein des RJF'', lediglich unter Änderung seines Namens in ''Jüd. Turn- und Sportverein Fürth'', weiterbestehen sollen. Hierbei ist die Abgrenzung beider Richtungen derart scharf gezogen, daß z.B. die Nürnberger Anhänger des RjF nicht etwa beim ''Jüd. Turn- und Sportverein Nürnberg'' (''Bar Kochba'') organisatorisch erfaßt werden und Sport treiben, sondern Mitglieder des ''Jüd. Turn- und Sportvereins Fürth'' (RjF) werden und sich als solche in Nürnberg gesondert sportlich betätigen.

Dieses Gebaren geht nicht nur an den von Oberführer Schneider gegebenen Richtlinien (siehe oben) vorbei, sondern steht auch im Widerspruch mit der im obigen Schreiben angezogenen grundsätzlichen Auflage der Bayerischen Politischen Polizei. Da außerdem die beiden Organisationen es nicht bei Gründungsverhandlungen bewenden ließen, sondern trotz des noch bestehenden Betätigungsverbots des Politischen Polizeikommandeurs Bayern einen regelmäßigen Turn- und Sportbetrieb aufnahmen, wurde am 2.3.34 seitens der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth eingeschritten und jede weitere Tätigkeit unterbunden.

Wie aus der bei dieser Gelegenheit bekannt gewordenen Korrespondenz ersichtlich ist, dürften ähnlich gelagerte Fälle - wenn auch nicht in diesem vorgeschrittenen Stadium - auch anderorts (Aschaffenburg, Ansbach, Bamberg, Gunzenhausen, Regensburg, Schweinfurt, Würzburg, Landau, Kaiserslautern usw.) vorliegen.

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