Situation in Theresienstein
Benjamin Murmelstein informiert am 5. Mai 1945 das Internationale Rote Kreuz über die Situation in Theresienstadt und bittet um seine Absetzung:
Sehr geehrter Herr Dunant!
Bezugnehmend auf unser heutiges Gespräch erlaube ich mir, wunschgemäß die wichtigsten Probleme, welche mit der Lage in Theresienstadt Zusammenhängen, wie folgt zu skizzieren:
a) Arbeits-Situation
Die Notgemeinschaft geht auseinander; jeder denkt an sich. Ein externer Nachdruck ist nicht zu merken: die interne Notwendigkeit genügt nicht. Die Leute streben nach Haus. Die Durchführung von Arbeiten ist mit großen Schwierigkeiten verbunden.
b) Quarantäne
Mehr als 40 % der Bevölkerung befinden sich in Quarantäne, so daß man ca. 13 000 Personen versorgen muß, ohne ihre Arbeitskraft ausnutzen zu können.
Die Neugekommenen sind ein kompliziertes Menschenmaterial, mit allem unzufrieden und wenig diszipliniert, und können sich an die neue Lebensweise nicht gewöhnen; daher ist es notwendig, ständig einen großen Ordnungsdienst zu mobilisieren, um die Ruhe zu erhalten.
Wegen der Alimentation bestehen überdies zwischen den Neuangekommenen und den früheren Einwohnern von Theresienstadt Spannungen. Man muß immer achtgeben, daß diese Spannungen nicht zu einem Konflikt führen.
c) Sanitäre Lage
Der Flecktyphus und andere Infektionen schaffen eine ernste Lage und machen eine Reihe von Arbeiten notwendig, deren Durchführung aus den sub a) und b) angeführten Gründen schwer ist. Die drohende Infektion und die eventuelle Quarantäne für alle lassen die Nervosität unter der Bevölkerung von Theresienstadt immer größer werden.
d) Reorganisation
Für den Fall einer externen organisatorischen Änderung erscheint es richtig, auch intern an leitender Stelle eine Änderung herbeizuführen. Der Ältestenrat hat sich bereit erklärt, nach der Demission des Judenältesten die volle Verantwortung für die Führung der Geschäfte zu übernehmen. Gegenwärtig hat also der administrative Apparat vor sich
1) den bisherigen Judenältesten,
2) als eventuellen neuen Faktor den Ältestenrat.
Die Existenz von zwei Instanzen schafft eine Desorientierung und bringt weitere Schwierigkeiten.
Um eine Klärung der Situation herbeizuführen und die Einhaltung einer präzisen Linie zu ermöglichen, habe ich den Leiter der Dienststelle Theresienstadt gebeten, bei den Vorgesetzten Autoritäten meine sofortige Demission durchzusetzen. Der Fakt, daß das Internationale Rote Kreuz am gestrigen Tage die Mitverantwortung für Theresienstadt übernommen hat, schafft meiner Meinung nach eine organisatorische Änderung, deren Resultat diese Decision sein muß.
Ich bitte Sie, mich richtig verstehen zu wollen und mich nicht für einen Deserteur zu halten. Ich will aus der politischen Lage im richtigen Moment die richtigen Konsequenzen ziehen.
Mit vorzüglicher Hochachtung