Letzte Tage im Getto
Ein jüdischer Informant berichtet Ende April 1945 der Dienststelle der SS in Theresienstadt über die letzten Tage und Ereignisse im Getto:
Mit dem Weggang der Dänen begannen die Sensationen für das Ghetto Theresienstadt. Als sich die Nachricht verbreitete, daß durch Vermittlung der Genfer Konvention das schwedische Rote Kreuz den Heim-Transport der Dänen-Juden übernommen habe, war die Stimmung im Ghetto derart, daß man glauben mochte, die Liquidierung des Ghettos sei eine Frage von Stunden.
Die Überoptimisten in allen Lagern packten ihre Koffer und selbst in den Reihen der Protektoratsangehörigen machte sich eine starke Nervosität bemerkbar. Herr Meissner war überall und nirgends zu sehen und zu sprechen, auch Prof. Meiers hatte mit Auskünften aller Art sehr zu tun.
Für die Insassen des Ghettos war es eben eine Sensation, daß durch Verhandlungen die deutsche Reichsregierung Juden aus dem deutschen Ghetto entläßt. Der Abtransport selbst durch die Autocars am Sonntag war eine Sehenswürdigkeit für sich, und hier ist besonders zu bemerken, daß die Bevölkerung einmütig die Großzügigkeit des Chefs der Dienststelle anerkannte, mit welcher er gestattete, dass die Zurückgebliebenen sich zu den Cars begeben konnten. Er selbst wurde einige Male beobachtet, wie er die Kolonne entlangging und keinerlei Beanstandungen machte, während der Judenälteste sich nicht genug tuen konnte, es als ungehörig zu betrachten, was bei der Bevölkerung allerdings wenig Eindruck machte.
Weiterhin war ein besonderes Tagesgespräch, daß Herr SS-Obersturmführer Rahm den zum Barackenbau einberufenen Juden Mimich, der sich dem Antritt zum Dienste entzog, nicht bestrafte, sondern dem Ghettorichter zur Aburteilung ff eigab. In Kreisen der Prot.-Angehörigen war man darob sehr überrascht und sind dadurch sehr viele Stimmen gedämpft worden, man hätte dort gerne gesehen, daß die Dienststelle nicht so „generös“gewesen wäre, und es wäre eben Gelegenheit gewesen, sich über die „Deutschen“ den Mund zu zerreißen. Hierbei wäre anzuführen, daß in gewissen Tschechenkreisen infolge der Lage sie nicht genug tuen können, einen weiteren Zwiespalt zwischen sich und den Angehörigen aus dem Reich zu schaffen. Man hört immer mehr die Redensart „nach dem Krieg fliegt ihr Deutschen samt und sonders aus der Tschechei im hohen Bogen hinaus. “
Ungeheures Aufsehen machte auch im Ghetto der Durchzug der motorisierten Formationen des Deutschen Heeres auf der Umgehungsstraße in der Richtung Prag zu beobachten. Am Kinderspielplatz gab man sich „Rendezvous“ und die Wippen und Schaukeln waren tagelang dicht belagert. Zeitweise konnten dort Persönlichkeiten beobachtet werden, die sich sonst nicht so ohne weiteres unter das Volk begaben. Die Verbinder zählten einen Personenwechsel bis zu 200 Juden in der Stunde.
Die größte Angelegenheit jedoch war die „nächtliche Fanfare“, daß das Ghetto in Händen des Roten Kreuzes übergegangen sei.
Im vorneherein sei bemerkt, daß in allen Bevölkerungslagern des Ghettos die Stimme vorherrscht, die Sache sei von gewissen unverantwortlichen Elementen „provokatorisch“ bestellt worden, was allerdings damit bezweckt werden sollte und wollte, ist eine Frage, die sich ein Jude im Ghetto nicht beantworten kann. Letzten Endes hätte die Angelegenheit nach Ansicht aller Ghettoinsassen ein anderes Ende nehmen können.
Spezialbericht und Verbindungsbericht:
Am Abend der bewußten Nacht war eine starke Beunruhigung zu bemerken und der Straßenverkehr war stärker als sonst. Gerüchte über Kommissionen, Dienststellenveränderungen usw. eilten von Gruppe zu Gruppe und von einer Unterkunft zur anderen. Es war kaum möglich, allem zu folgen. Gegen 10 Uhr trat plötzlich schlagartig Ruhe ein, als gegen 24-1 Uhr der Ruf erklang: „Das Ghetto ist frei, die Kommission hat es übernommen, wir stehen unter dem Schutz der Genfer Konvention.“
Das war natürlich eine Sache, die einem Lauffeuer gleichkam. In der Dresdner Kaserne (wie nachträglich festgestellt wurde) erschienen in einzelnen Zimmern Frauen mit der angeblichen Abschrift des R-Protokolles, das man durch eine Indiskretion aus der Kanzlei des Judenältesten erfahren haben wollte. In allen Fällen waren es Frauen, die den Einwohnern unbekannt waren, und die Fälle waren in der Hannover und Hamburger ebenso gebaut als in der Dresdner. Nun ging es los. Frauen kamen mit der Sensationsnachricht zu ihren Männern und umgekehrt ebenso. Um sich zu vergewissern, was an der Sache wirklich sei, versuchte man an Dr. Murmelstein zu kommen, der auch um diese Zeit bereits unterrichtet war über die Vorgänge. Er stellte es strikte in Abrede, daß irgendwelche Verhandlungen mit dem „Roten Kreuze“ wären, geschweige denn Veränderungen oder Erleichterungen zu erwarten wären (?!!!!?). Um diese Zeit war der Chef der Dienststelle SS-Obersturmführer Rahm bereits unterwegs zur Baracke an der Hauptstraße, wo sich die Situation geradezu dramatisch zuspitzen sollte.
Verbinder, die dort wohnen, erklärten frei, daß niemand im ersten Augenblick für sich und die Juden auch nur noch die geringste Chance gab. Erst als der Chef der Dienststelle zum Kargo4 formen ließ und die Ansprache mit „meine Herren“ begann, war der Bann gebrochen, und heute wird wie sogleich auch damals gesagt: „Der Chef der Dienststelle war großartig, im Gegensatz zu den Judenvertretern hat er auf uns beruhigend gewirkt, und man (bitte wörtlich) ist dankbar für die Art der Lösung der Situation gewesen.“ Zu bemerken ist freilich, daß in den Baracken hauptsächlich Leute aus den jüngsten Reichsund Pragtransporten wohnen, die meist arisch versippt sind. Als Abschluß der Angelegenheit ist zu bemerken: „Herr SS-Obersturmführer Rahm ist der Mann der Ghettos, und es würde sehr bedauert werden, falls eine Änderung im Kommando wäre.“
Diese war die Frage der Nacht.
In diesen Tagen konnte man eine emsige Tätigkeit in der Holländer Kol[onie] beobachten, und der Holländer Pastor „Enkers“ wurde viel beobachtet, wie er Besuche machte, was er sonst wenig tat. Die Nachforschung ergab, daß er für sich eine Kartei nach relig. Richtung usw. des Rubrikanten machte (!!!)
Um nun alles auf den Kopf zu stellen, erscheint zwei Tage nach der „unruhigen Nacht“ die Mitteilung des Ältestenrates über die persönlichen Verhandlungen mit Herrn Dunant vom Roten Kreuz. Es ist einfach nicht zu beschreiben, was sich seit dieser Zeit hier alles tat, „was das Rote Kreuz tun und leisten wird“. Es ist bekannt im Ghetto, daß Herr Dunant zur Familie des Gründers des Roten Kreuzes „Dunant 1964 Genf“ gehört. Er war Legationsrat in Preßburg usw. Er hat unbeschränkte Vollmachten von Seiten des Schweizer Roten Kreuzes, und die Lage für die Bevölkerung des Ghettos würde von ihm mitbestimmt. Theresienstadt sei als „exterritorial“ erklärt, und Herr SS-Obersturmführer Rahm sei in einem Einvernehmen der neutralen Mächte und der deutschen Reichsregierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung usw. bestimmt und auch gleichzeitig Vertreter (diplomatischer) im Range eines Generalkonsuls für die deutsche Reichsregierung. Daß man nun voll geborgen sei, ist eine feststehende Tatsache, wenngleich die Pessimisten erklären, daß die Brotrationsverkürzung keine gute Einführung der Betreuung durch das Schweizer Rote Kreuz wäre (1!J.
Die 600 Ausreisen nach der Schweiz, die stattfinden sollen, interessieren durch die allgemein geschaffene Lage hauptsächlich die Betroffenen, wenngleich eine Gruppe, die gerne dabei sein möchte und nicht zum Zuge kommen kann, darüber große Diskussionen hält. Die einzelnen Personen, die auf der Liste stehen, insbesondere die Prominenten, befleiß[i]gen sich in allen Fällen beruhigend aufzutreten, besonders Herr Meissner mahnt nur immer zur Ruhe und Ordnung.
Allgemeine Unruhe ist durch die [...] neuen Transporte als Welle über das Ghetto gekommen. Es erscheint nun [als] ein neuer „homo Spezies “ der polnische Jude im Ghetto. Erfreut ist offen gestanden niemand von dem Eintreffen, denn die Einführung war keine gute, und eine große Angst herrscht besonders bei den älteren Leuten, falls die „K. Z. 1er“ aus der Quarantäne kommen. Handfeste Gehstöcke sind sehr gefragt. Auch ist man ängstlich, daß die Verpflegung weiter eingeschränkt wird. Daß die Leute nicht sehr angenehm sind, haben schon Beispiele genug gegeben, und der Ruf nach Sicherheit wird immer lauter, denn schon gelingt es einzelnen Leuten, aus der Quarantäne zu entreißen, die sich bettelnd an den Küchen herumtreiben, so lange, bis sie sistiert werden.
Daß das Rauchverbot gefallen sei, darüber freuen sich die Raucher. Die Preise für die Zigaretten sind schnell gefallen dadurch, daß mit dem Ungarntransport doch einzelne Mengen bis zu 50 Stück mitgenommen sind. Der Locopreis ist 10 Stück 1 S-Brot, d. i. 20 Mark; während bisher 3 Stück für ein „n“-Brot getauscht wurden. Als neueste Sensation durcheilt es eben (Freitag) das Ghetto: „Auf Vermittlung und im Aufträge der Genfer Konvention sollen der Dienststellenleiter und die Dienststelle bis zur vollkommenen Liquidierung des Ghettos verbleiben, schon aus Sicherheitsgründen.“ Die Bevölkerung des Ghettos, insbesondere die Juden aus dem Reich, würde diese Maßnahmen begrüßen. Diese Mitteilung kommt auch von den Verbindungsleuten.
Im allgemeinen rechnet man hier mit einer sehr baldigen Beendigung des Krieges und harrt stündlich der kommenden Dinge.