Von Theresienstadt in die Schweiz
Vilma Cohn-Leven schildert Anfang Februar 1945 ihren Transport aus Theresienstadt in die Schweiz:
3. Februar 1945
Ein trüber, naßkalter Morgen - Sonnabend -, so begann der Tag, der für 1200 seit Jahren geknechteten Juden die Schicksalswende bringen sollte. Wie immer ging ich auch heute meiner täglichen Arbeit im Röntgeninstitut des Krankenhauses Hohenelbe nach - heute mit besonderer Freude, da ich am Nachmittag frei hatte, um mich von den wirklichen Strapazen des Röntgens auszuruhen. Im allgemeinen pflegte ich an diesen Nachmittagen mich mit einem Buch ins Bett zu legen und mich auszufaulenzen. Heute aber ließ mich eine innere Stimme nicht zur Ruhe kommen; ich begann, Wasche zu waschen, zu stopfen etc., holte mir sogar mein Nachtmahl, das ich mir sonst immer von einem Bekannten mitbringen ließ. Auf diesem Wege traf ich einen Pfleger, der mich mit den Worten begrüßte: „Sie können mich zur Bahn bringen, ich fahre in die Schweiz.“ Er erzählte mir daraufhin, es gehe ein Transport in die Schweiz, zu welchem sich jedoch nur Dänen, Holländer und Prominente melden dürften. Ich zweifelte natürlich sehr an der Echtheit des Transportzieles und erklärte den jungen Mann für verrückt, wenn er auf einen solchen Schwindel hereinfiele. Das Gerücht über den Transport verbreitete sich natürlich in Windeseile in Theresienstadt; überall wurde heftig darüber debattiert, die einen waren begeistert, auf diese Weise frei zu werden, andere wieder begannen zu unken, es sei eine Falle usw. Auch ich traute der Sache nicht und stand ihr sehr skeptisch gegenüber, wurde aber noch durch [...], eine l[iebe] Kollegin, mit der ich zusammen das Zimmer teilte, in meiner Ansicht bestärkt. [.. .] kam erst spät am Abend, um 10 Vi h. nach Hause - Paula, meine 3. Zimmergenossin schlief bereits - und erzählte in furchtbarer Erregung, sie komme jetzt aus Magdeburg und habe vom Ältestenrat erfahren, die Richtlinien für den angeblichen Schweizer Transport seien bereits von der Kommandantur dahin geändert worden, daß weder Dänen noch Prominente zugelassen seien, sondern nur Deutsche, Protektoratsangehörige und Holländer. Auch Partner aus Mischehen, Mischlinge seien ausgeschlossen, also ein Beweis dafür, daß an der Echtheit des Bestimmungslandes unbedingt gezweifelt werden müsse. Sicher würde der Zug aus Th. fortgeführt und irgendwo außerhalb auf einem toten Gleise würde man die Transportteilnehmer erfrieren und verhungern lassen. Sicher hätte das Schicksal auch sie dazu auserkoren, während andere davor geschützt seien. Noch bis gegen 12 h währte diese Unterhaltung, die mich derartig erregt hatte, daß ich kaum einschlafen konnte. Schon eine halbe Stunde später wurden wir durch heftiges Klopfen an der Tür aufgeweckt; der Hausälteste Steckler brachte Paula und mir die Aufforderung, uns unverzüglich in die Socolovna zu begeben, wo wir uns zu entscheiden hatten, ob wir uns an dem Transport beteiligen wollten oder nicht. Noch nie hatte man bei Transporten selbst darüber entscheiden dürfen, es war also schon etwas Besonderes. Aber zu was sind die Nazis nicht fähig, wenn es sich um das Verderben ihrer Mitmenschen handelte. Es konnte also trotzdem eine Falle sein. Paula war begeistert und fest davon überzeugt, daß die Sache echt sei. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und war fest entschlossen abzulehnen.
Der große Saal der Socolovna, in dem sonst Konzerte stattfanden, war hell erleuchtet; im Hufeisen waren etwa 50 Tische aufgestellt, an denen je 2 Personen - Juden - amtierten. Eine unübersehbare Menschenmenge vor der Tür, teils strahlende, teils besorgte Gesichter. Sehr viele hatten bereits ihr „Ja“ abgegeben, es wurde eine neue Kennkarte ohne das sonst obligatorische „J“ ausgestellt, Fingerabdrücke gemacht, genau wie ehemals in der Heimat, und die alte Legitimation wurde eingezogen. Es hatte also wirklich den Anschein einer reellen Angelegenheit, und kurz entschlossen gab ich meine Kennkarte ab, eine neue wurde ausgestellt. Das Schicksal sollte seinen Lauf nehmen. Ging’s wirklich in die Schweiz, so winkte die Freiheit; ging’s in ein anderes Lager, so hatte ich eben das Schicksal mit all den anderen zu teilen, die ebenso wie ich auf ein baldiges Kriegsende hofften.
4./5. Februar 1945
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken, als wir um 3 h in unser Zimmer zurückkehrten. Zudem hatten wir um 7 h früh im Hof der Magdeburger Kaserne anzutreten, um vor H[errn] Rahm, dem Lagerkommandanten, zu defilieren, der dann über die tatsächliche Teilnahme an der Fahrt zu entscheiden hatte. Trotz des Tauwetters war es scheußlich kalt, dazu kamen die Aufregung und die durchwachte Nacht, so daß die 3 Stunden, die wir vor der Kommandantur zu warten hatten, kein Ende nehmen wollten. Endlich stand ich vor Rahm, der nur die Frage an mich stellte, ob ich alleinstehend sei. Ich antwortete „ja“, was er wiederholte, einen Stempel an Stelle des Fotos auf meine neue Legitimation setzte; ich wußte, ich war dabei. Ich kann nicht sagen, daß ich erfreut darüber war, denn ein beklemmendes Gefühl ließ mich nicht los.
Zunächst suchte ich die Röntgen-Abt. auf, um meine Schürzen und was noch dort von mir lag, zu holen und mich gleichzeitig von den mir in der kurzen Zeit des Zusammenarbeiten lieb gewordenen Kolleginnen zu verabschieden. Meine Chefin, die felsenfest von der Echtheit des Endzieles überzeugt war, hatte als Mischehepartnerin, die ja von der Fahrt ausgeschlossen war, bereits alle möglichen Schritte unternommen, um teilnehmen zu dürfen, da sie ihre arischen Kinder in der Schweiz hatte. Leider glückte es nicht, und sie mußte mit schwerem Herzen Zurückbleiben.
Dann nach Hause, es mußte gepackt werden, die Abreise sollte bereits am nächsten Morgen erfolgen, und bereits abends hatte man in die Schleuse einzurücken, obwohl wir die endgültige Einreihung in den Transport noch nicht in Händen hatten. Mitgenommen werden durfte nur ein „guter“ Koffer, die besten Sachen - woher sollte man diese nehmen, nachdem man uns bei unserer Ankunft in Th. vor 31 Monaten alles gestohlen hatte - und 2 Stücke Handgepäck. Rucksäcke und Bettsäcke waren verboten. Man wollte der Schweiz zeigen, in welch vortrefflichem Zustand die Juden im Eldorado Theresienstadt, der jüdischen Mustersiedlung, leben! Ein wirkliches Eldorado! Doch davon an anderer Stelle.
Viel hatte ich nicht zu packen, besaß ich doch außer meiner Schwesternkleidung, die ich mir nach und nach gegen Brot wieder angeschafft hatte, nur ein einziges Kleid und etwas minderwertige Wäsche. Zudem waren mein Koffer und Rucksack noch seit Oktober gepackt - ich hatte mich damals zu meinem gel[iebten] Chef freiwillig zum Transport gemeldet, stand aber auf der Stopliste und durfte deshalb nicht mit. - Ich hatte also nur den Rucksack in den Koffer umzupacken, dazu eine alte dünne Wolldecke mit kleinem Polster fertigzumachen, meine Lebensmittel in die große Handtasche, und fertig war ich. - Um 7 h abends kam die Einberufung zum Transport. Nun war es endgültig geworden. Freunde, Bekannte kamen zum Abschiednehmen. Trotz allem war mir Th. eine neue Heimat geworden, war doch das letzte Jahr voll der schönsten Erinnerungen an herrlich verlebte Stunden. Meine Stationsschwester aus dem Röntgen, Zdenka Adler, mit der ich im Anfang meines Th.-Aufenthalts zusammengewohnt und mich angefreundet hatte, besuchte mich ebenfalls noch und brachte mir, da ich nur sehr alte, leichte Schuhe besaß, ihre eigenen dicken Sportschuhe, die mir zwar zu groß waren, aber mit 3 Paar Strümpfen ging’s. Es war rührend, wie sie sich um mich sorgte, und wenn sie es mir gegenüber auch nicht erwähnte, so erwähnte sie doch der mir befreundeten Dr. Nelly Stern gegenüber, daß sie es bedaure, daß auch ich in diese Falle gehen würde. Sie selbst hatte zuerst geschwankt, wurde aber dann allem Zweifel enthoben, da ihr Mann, Ing. Bienenfeld, der im Wasserwerk tätig war, für einen Kollegen mit 2 kleinen Kindern zurücktreten mußte. Stehenden Fußes wurde noch schnell ein Stück Brot gegessen, und um 11 h marschierten Paula und ich mit Sack und Pack in die Hamburger Schleuse. Es hatte geheißen, der Transport würde ganz besonders gut abgefertigt, doch war zunächst nichts davon zu bemerken, denn die Schleuse war vollkommen ungeheizt und auf einen Transport absolut nicht eingerichtet. Wir suchten uns alte Strohsäcke, um wenigstens nicht die ganze Nacht herumstehen zu müssen, und es wäre noch reichlich Zeit gewesen, wenn wir erst in der Frühe um 7 h eingerückt wären. Aber auch diese Nacht in der Kälte ging vorüber, und es erschienen plötzlich junge Mädels mit Wasser zum Händewaschen und ein Friseur, der die Herren vor der Abreise rasieren mußte. Rahm und Genossen überzeugten sich dann selbst von der „guten Equipierung“ der Teilnehmer. Die Stimmung war gemischt, und ich bin davon überzeugt, daß auch der größte Optimist ganz im geheimen ein wenig Furcht vor dem Kommenden hatte.
5. II. 45 - 10.30 h morgens. Die soeben begonnene Essensausgabe mußte eingestellt werden, die Aufstellung zur Einwaggonierung begann. Den großen Koffer hatten wir bereits am Abend abgegeben, so daß mein Handgepäck nur aus meiner Lebensmitteltasche und der Reisedecke bestand. Vor der Aufstellung wurde der Reiseproviant in großen Papiertüten verteilt. Etwas vorher noch nicht Dagewesenes. Er bestand in einem Stück Wurst, einer Pastete, 20 dkg. Zucker, 10 dkg. Margarine, einem Stück Seife und einem ganzen Paket Klosettpapier. Es hatte geheißen, die Fahrt ginge in D-Zug-Waggons vor sich, leider aber waren es nur 2 solcher Wagen, die übrigen bestanden aus 3--Klasse-Waggons, die für die in Aussicht gestellte 4-5tägige Bahnfahrt natürlich furchtbar waren. Ich hatte die neue Transport-Nr. 104, gehörte aber zu den ersten, die verladen wurden. Es gab Leute, die 5, 6 oder noch mehr Gepäckstücke bei sich hatten, und mit diesen zusammen wurde ich mit noch 8 Personen in ein Abteil hineingedrängt, in dem normalerweise 6 Personen, aber ohne Gepäck, gerade Platz haben. Die Gepäcknetze waren angefüllt mit den abgegebenen großen Koffern, so daß wir aber Aussicht hatten, diese am Bestimmungsort zu erhalten. Das Handgepäck wurde auf der Erde placiert, und wir saßen so eng aneinander, daß, wenn sich einer bewegen wollte, der Nachbar zuerst nach vorn rücken mußte. Es war schrecklich, zumal einige angenehme Zeitgenossen unter uns waren, die alles für sich beanspruchten ohne Rücksicht auf die übrigen. Der unangenehmste Fahrgast entpuppte sich später als Sally Moses, Onkel von Grete Reis. - Inzwischen wurden jedem Insassen noch 2 große Brote, Orangenjam und Ovomaltine, die sonst nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Leiters des Gesundheitswesens in dringenden Fällen verordnet werden konnte, ins Abteil gereicht sowie große Ballons mit frischem Wasser und Limonade. Die Schweizer sollten sehen, wie wir Juden von den Nazis ver pflegt wurden und daß alle anderen Gerüchte unwahr seien. - Vor der Abfahrt gegen
13.30 h hielt Rahm dem Transportleiter und den von Murmelstein bestimmten Waggonältesten eine Ansprache, deren Inhalt wir jedoch erst an der Grenze erfuhren. Vor allem wurden wir gewarnt, in der Schweiz Greuelmärchen zu verbreiten, da man sich sonst an den Zurückbleibenden schadlos halten würde.
13.30 h. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, um uns aus der Gefangenschaft in die goldene Freiheit zu führen. Doch zunächst nur bis Bauschowitz - V2 Std. Bahnfahrt -, wo wir bis abends 6 Vi h stehen blieben. Der Grund hierfür war natürlich niemandem bekannt, und schon tauchten bei den Mitfahrenden wieder Vermutungen auf, ob es wohl wirklich in die Schweiz ginge usw. Die SS patrouillierte vor dem Zuge auf und ab, zeitweise wurden die Türen aufgerissen, die Fahrgäste namentlich aufgerufen oder sogar die neuen Kennkarten kontrolliert; wahrscheinlich alles nur, um die sowieso schon aufgepeitschten Nerven nicht zur Ruhe kommen zu lassen. - Endlich, 18.30 h, ein Ruck und wir verlassen Bauschowitz. Der Zug fuhr wegen der Verdunkelung ohne Beleuchtung, was natürlich bei der dichten Besetzung der Abteile unerträglich war. An Schlafen war bei mir nicht zu denken, obwohl das regelmäßige Atmen einzelner verriet, daß sie eingeschlafen waren. Der Zug fuhr im Eilzugtempo durch die Nacht, blieb hin und wieder für kurze oder längere Zeit stehen, die Maschine wurde umgekoppelt, und wieder rückwärts ging’s. Man konnte absolut keine Richtung feststellen. Als der Morgen graute, fuhren wir in eine beleuchtete Station ein. Es war Eger. Stunden hatten wir für eine sonst ca. 2 Stunden dauernde Fahrt gebraucht. Nach kurzem Aufenthalt, während dem Wasser gefaßt werden durfte, wurde die Fahrt fortgesetzt. Es ging zunächst nach Nürnberg. Das Bild, das sich hier mir am Bahnhof bot, war erschütternd und übertraf alle Vorstellungen, die wir uns von den geschilderten Bombardierungen gemacht hatten. Nicht ein einziges Gebäude war unversehrt, alle ohne Dächer, ausgebrannt oder eingestürzt, ein Bild des Grauens. Wie mußte es erst im Stadtinnern aussehen. Und dabei erfolgte der totale Vernichtungsangriff auf N[ürnberg] erst einige Tage später, so daß von der einstmals so schönen Stadt nichts mehr übrig geblieben sein dürfte. Nicht anders oder wenigstens nicht viel anders sah es in den Städten Augsburg, Ulm und Friedrichshafen, die wir passierten, aus. Die Fahrt verlief ziemlich glatt, mit kurzen Aufenthalten auf der Strecke. Bei einem solchen hinter Ulm erschien plötzlich der Waggonälteste mit der Aufforderung: „Die Sterne herunternehmen: Der Reichsführer hat uns entlassen.“ Nur derjenige, der es miterlebt hat, kann ermessen, was diese wenigen Worte für uns bedeuteten. Es war die Parole für den Weg in die Freiheit. Tränen der Freude entströmten meinen Augen, und ich konnte es nicht fassen, daß nun die langersehnte Freiheit, an die ich schon nicht mehr geglaubt hatte, vor mir lag. Und weiter ging’s von Friedrichshafen nach Petershausen, einem Vorort von Konstanz, wo wir bei Dunkelheit eintrafen. Wir hofften, nun bald das Ziel erreicht zu haben; aber leider mußten wir die Nacht nochmals in den überfüllten Waggons verbringen. Doch auch diese Nacht fand ein Ende, und am Morgen des 7. Februar passierten wir gegen 10 h von Konstanz aus bei Kreuzlingen die Schweizer Grenze. Nicht nur ein Gefühl der Freude, sondern vor allem das des Schmerzes und der Wehmut erfüllte mich, denn ich hatte meinem Heimatland, wo ich eine sonnige Kindheit und Jugend verlebte, auf immer Lebewohl gesagt. Vielleicht, wenn ich einmal alt sein werde, werde ich nochmal zurückkehren, aber solange ich jung bin, wenigstens verhältnismäßig, und arbeiten kann, werde ich deutschen Boden nicht mehr betreten.
Der Zug hält in Kreuzlingen. Die Tür des Abteils wird aufgerissen und mit freundlichem Lächeln begrüßt uns ein Schweizer Offizier. Das erste gute Wort aus arischem Munde nach den langen Jahren der Gefangenschaft. Überall erschienen nun Schweizer Soldaten mit ihrem „Grüß Gott“ und halfen, das Gepäck in die für uns bereitstehenden Schweizer Wagen zu befördern. Welch ein Unterschied gegenüber den schmutzigen und engen deutschen Waggons! Es war unbeschreiblich, mit wieviel Liebe und Güte nicht nur das Müitär, sondern auch die Damen des Hilfstrupps vom Roten Kreuz Anteil an unserem Schicksal nahmen. Wie off hatten wir es uns in Theresienstadt ausgemalt, wie es sein würde, wenn wir einmal wieder freie Menschen sein würden. Und nun waren wir am ersten Ziel unserer Wünsche. Ich muß sagen, daß ich in den ersten Tagen meines Schweizer Aufenthalts trotz allen Entgegenkommens der Bevölkerung die Hemmungen nicht loswurde und die Menschen bewunderte, die mit allen von allem redeten und die Zeit in Th. einfach von sich abgeschüttelt hatten. Ich hatte sogar noch lange Zeit, wenn ich einen Offizier oder auch einen Zivilisten sah, die Halluzination, es sei ein Gestapomann.
Nach zirka i-stündigem Aufenthalt in K. fuhren wir bis Kreuzlingen-Ost,12 wo eine große Anzahl H. T. uns bereits mit heißer, guter Suppe, einem Stück Schweizer Käse und Äpfeln erwartete. Eine Suppe wie daheim, Käse und Äpfel, die wir seit Jahren nur noch dem Namen nach kannten. Es schmeckte natürlich ausgezeichnet aus den sauberen weißen Töpfen mit dem roten Kreuz von blütenweiß gekleideten Mädels aus blankgescheuerten Kübeln serviert. Wie anders war’s in Th., wo man beim Essen sich nicht daran erinnern durfte, aus welchen Gefäßen uns das Essen ausgeteilt wurde. Trotz allem kam kein Gefühl der richtigen Freude in mir auf; immer wieder gedachte ich meines l[ieben] Mütterleins und meiner Schwester und wie schön, wie viel schöner es für mich wäre, könnten sie an all dem Gebotenen, der goldenen Freiheit teilnehmen.
Nach der „Fütterung“ ging’s weiter nach St. Gallen am schönen Bodensee entlang, eine herrliche Fahrt. Hier wurden wir wieder von Militär empfangen und in das Hadwigs-schulhaus gebracht. Ein riesengroßes Gebäude mit allen neuzeitlichen Einrichtungen ausgestattet. Die Schlafräume waren leer und mit Stroh ringsherum ausgelegt, wo es sich nach den Strapazen der Reise sehr gut schlief. Die Verpflegung auch hier ausgezeichnet. Gute Suppe, Käse, Marmelade mit ganzen Früchten, sogar gute Butter, Wurst und Fleisch; alles Genüsse, auf die wir so lange hatten verzichten müssen. Wenn auch bei manchen alten Leuten sich Durchfall einstellte, so ist es doch erstaunlich, wie schnell sich der Körper der meisten Menschen auf die bessere und fettere Nahrung eingestellt hat. Immer wieder muß ich die Liebe und Güte hervorheben, mit der uns die Hilfstrupps und das Militär umgaben, trotzdem das Benehmen so vieler von uns sehr zu wünschen übrig ließ. Natürlich war der Aufenthalt in St. Gallen nur ein vorübergehender. Die 3-wöchige Quarantäne sollte ein Teil von uns, zu dem auch ich zählte, in Les Avants sur Montreuse zubringen, nachdem wir uns vorher einer sehr gründlichen Desinfektion und ärztlichen Untersuchung zu unterziehen hatten. Nach dieser Prozedur verbrachten wir die letzte Nacht - Samstag - in einer großen Turnhalle, ca. 200 Personen. Am Abend erschien Rabbiner Dr. Lothar Rothschild, ein Deutscher, der in St. G[allen] amtierte und bereits Schweizer Bürger geworden war. Er begrüßte uns in einer ergreifenden Ansprache und gab der Hoffnung Ausdruck, daß noch recht viele unserer geknechteten Brüder und Schwestern aus deutschen Konzentrationslägern befreit werden würden.