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Chronik und Quellen
1944
Oktober 1944

Korrektur eines Theresienstadt-Berichts

Roswell McClelland vom War Refugee Board kommentiert und korrigiert am 26. Oktober 1944 den Bericht des Internationalen Roten Kreuzes zu Theresienstadt:

Betreff: Versand von vier Kopien eines Berichts über einen Besuch im Getto Theresienstadt (im Protektorat Böhmen und Mähren) am 23. Juni 1944, verfasst von Dr. M. Rossel, Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.

Sehr geehrter Herr Pehle,

ich erlaube mir, Ihnen beiliegend vier Kopien eines Berichts (in englischer Übersetzung, der Originalbericht ist auf Französisch abgefasst) über einen Besuch des bekannten Gettos Theresienstadt zu schicken, den Dr. M. Rossel, Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, am 23. Juni 1944 unternommen hat. Dieses Dokument gelangte über einen Freund aus dem IKRK in meine Hände und unterliegt allerstrengster Geheimhaltung. Ich muss daher darauf bestehen, dass nichts daraus veröffentlicht wird. Andererseits war es mir ein Bedürfnis, es Ihnen und dem War Refugee Board vertraulich zukommen zu lassen. Vielleicht könnten Sie es nach Ihrem Ermessen an ausgewählte Vertreter vertrauenswürdiger jüdischer Organisationen weiterreichen.

Dr. Rossels Bericht ist tatsächlich die erste Schilderung Theresienstadts von einem neutralen Beobachter, bedarf aber meiner Ansicht nach einer Reihe von erklärenden Anmerkungen. Das Bild, das er von dem Getto zeichnet, kann leider nicht für bare Münze genommen werden.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Empfang des Vertreters des IKRK sowie zweier weiterer, ihn begleitender Delegierter des Dänischen Roten Kreuzes wie bei fast allen „offiziellen“ Besuchen von Lagern oder Gefängnissen ganz offensichtlich im Voraus gut geplant worden ist. Die verschiedenen jüdischen „Funktionäre“ zum Beispiel hielten alle interessante, aber eindeutig „einstudierte“ Vorträge. Zeit für Fragen war nicht vorgesehen. Die Besucher verbrachten nur zehn bis zwölf Stunden in Theresienstadt und wurden in dieser Zeit ununterbrochen von einer Reihe von SS-Männern begleitet, darunter der berühmt-berüchtigte Dr. Günther aus dem SS-Hauptquartier in Berlin, der unter anderem unmittelbar den Aufbau von Theresienstadt verantwortet. Dr. Rossel boten sich nur ein, zwei flüchtige Gelegenheiten, um unkontrolliert ein paar Worte mit Dr. Paul Eppstein, dem „Judenältesten“ (Bürgermeister) des Gettos, zu wechseln. Von daher blieben die gesammelten Eindrücke eher oberflächlich. Als beispielsweise die Frage nach dem Befinden einiger Personen aufkam, bei denen man davon ausgeht, dass sie in Theresienstadt leben, und insbesondere nach den Möglichkeiten, an solche Informationen zu gelangen, zeigte sich Dr. Eppstein sofort bereit, den IKRK-Delegierten eine vollständige Liste der im Getto lebenden Personen auszuhändigen. Dies wurde ihm von der SS umgehend untersagt.

Darüber hinaus hielt Dr. Rossel eine Reihe von Gegebenheiten für selbstverständlich, die einer genaueren Betrachtung bedürfen. In seiner Beschreibung der Ankunft in Theresienstadt spricht Dr. Rossel davon, dass sie eine „Kleine Festung“ erblickten, und vermittelt dadurch den Eindruck, als läge diese etwas entfernt vom Rest der Stadt. Tatsächlich ist diese nach Auskunft von Personen, die vor dem Krieg öfters in Theresienstadt waren, jedoch integraler Teil des Gettos, in dem neben bestimmten Juden auch eine beträchtliche Zahl von nichtjüdischen politischen Häftlingen untergebracht ist. Die Gefangenen werden im Wesentlichen wie die Insassen anderer deutscher Konzentrationslager behandelt. Die Festung wird sehr stark bewacht, hauptsächlich von bewaffneten tschechischen Gendarmen. Natürlich hat man der IKRK-Delegation diesen Teil von Theresienstadt nicht gezeigt.

Dr. Rossel hat zudem hervorgehoben, dass es nirgendwo Stacheldraht und generell auch keine SS-Wachen gäbe. Hätte er die Nacht im Getto verbracht, hätte er allerdings mitbekommen, dass der gesamte Umkreis der Stadt massiv ausgeleuchtet ist und in regelmäßigen Abständen Wachposten eingerichtet sind. Dabei handelt es sich um gesichertes Wissen, das auf frühere Berichte über Theresienstadt aus verlässlichen Quellen zurückgeht.

Auf Seite drei wird festgehalten, dass es sich bei Theresienstadt um ein „Endlager“ handelt (also um das endgültige Bestimmungsziel der Insassen, von dem aus keine Weitertransporte mehr stattfinden). Das mag für eine bestimmte Gruppe von Juden zutreffen, insbesondere für solche mit deutscher Herkunft. Im Sommer (Juli) 1943 jedoch lebten in Theresienstadt noch 43 800 Menschen. Zum Zeitpunkt des Besuchs von Dr. Rossel (Juni 1944) lag die Zahl bei etwa 35 000. In dem dazwischenliegenden Jahr sind also ganze 8800 Personen aus dem Getto verschwunden. Aufgrund des hohen Anteils alter Menschen ist die Sterblichkeitsrate sicherlich recht hoch, aber selbst wenn man Dr. Rossels Schätzung von zwölf Toten pro Tag zugrunde legt, würde sich die Zahl der Verstorbenen im entsprechenden Zeitraum auf ungefähr 4300 belaufen. Damit wäre noch immer offen, was mit den restlichen mehr als 4000 passiert ist.

Zweifellos ist eine beträchtliche Zahl von Juden aus Theresienstadt in die in Oberschlesien und Polen gelegenen Lager wie Birkenau, Litzmannstadt, Lublin-Majdanek und Izbi-ca deportiert worden (vgl. hierzu den Bericht aus Auschwitz-Birkenau über Konvois von Deportierten aus Theresienstadt). Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um Juden, die nur temporär in Theresienstadt waren, da das Getto nach Auskunft überaus verlässlicher Quellen von den Deutschen in größerem Umfang auch als Transitlager genutzt wurde. Über die Zahl der deportierten Personen, die Theresienstadt durchlaufen haben, liegen keinerlei Informationen vor, es müssen jedoch mehrere Tausend gewesen sein. Es ist zum Beispiel belegt, dass die Ehefrau und der Sohn des ehemaligen „Judenältesten“ von Theresienstadt, Dr. Jakob Edelstein (dessen Unterschrift immer noch auf Banknoten von Theresienstadt auftaucht!), in das Vernichtungslager Birkenau verbracht wurden, weil von ihr dort geschriebene Postkarten in der Schweiz angekommen sind. Was Dr. Edelstein widerfahren ist, der nicht zusammen mit seiner Frau deportiert wurde, konnte nie in Erfahrung gebracht werden.

Hinsichtlich der Informationslage über die sich in Theresienstadt befindlichen Personen muss berücksichtigt werden, dass Informationen ohnehin nur zu denjenigen zu erhalten sind, die sich tatsächlich im Getto aufhalten. Anfragen zu Personen, die gerade nicht dort sind, werden nicht beantwortet. Dr. Eppstein hat dies gegenüber Dr. Rossel bestätigt.

Auf Seite zwei ist der Abschnitt über die 240 Personen (etwa 60 Familien) schwedischer Staatsbürgerschaft von Bedeutung. Als die Frage nach ihrer Freilassung aufkam, antworteten die Deutschen wie fast immer in solchen Fällen, dies sei nicht möglich, weil deren Personaldokumente kurz vor Ausbruch des Krieges ausgestellt worden seien und es sich tatsächlich um Deutsche handele und diese auch als solche behandelt würden. Es ist zudem vermerkt, dass die Vertreter des Dänischen Roten Kreuzes nach dem Verbleib von 100 offensichtlich vermissten dänischen Juden gefragt haben. Ihnen wurde bedeutet, dass diese Personen eigentlich deutsche Pässe besäßen und in Dänemark lediglich verhaftet worden seien. Dies ist die Standardantwort der Deutschen bezüglich aller Insassen von Theresienstadt, die laut Ausweispapieren einer anderen Nationalität angehören als die von den Deutschen angenommene. Deshalb gibt es nach meiner Kenntnis keinen einzigen Fall und keinen einzigen Bericht über eine Person oder eine Familie, die aus Theresienstadt „befreit“ oder von dort aus in ein besseres Lager oder in einen besseren Status überführt worden wäre. Es heißt, es gebe eine Gruppe von Personen dort, die über inzwischen abgelaufene Ausreisevisa für die Vereinigten Staaten verfügten, aber alle Bemühungen, hierfür eine Bestätigung zu erhalten, haben sich als erfolglos erwiesen.

Das Bild, das Dr. Rossel in seinem Bericht von den Lebensbedingungen im Getto vermittelt, ist ebenfalls etwas irreführend. Er behauptet etwa, die Bevölkerung von Theresienstadt erhalte die gleichen Lebensmittelrationen wie die im „Protektorat“. Er versäumt zu erwähnen, dass es sich um die gleichen Rationen handelt wie für die Juden in Böhmen und Mähren, was etwas völlig anderes ist, da alle gehaltvolleren Nahrungsmittel (Fleisch, Eier, Zucker, Butter, Fett, frisches Gemüse etc.) für die im Protektorat lebenden Juden nicht zugänglich sind, so wie in fast allen von den Deutschen okkupierten Teilen Europas.

Die Angabe bezüglich der Tagesration von 2400 Kalorien muss ebenfalls in Zweifel gezogen werden. In dem erwähnten Gespräch der Delegierten mit Dr. Eppstein ging es auch darum, dass einmal versucht worden sei, die tägliche Ration für ältere Menschen (über 60 Jahre) um 300 Kalorien zu senken, wodurch die Sterblichkeitsrate rapide angestiegen sei. Wenn das stimmt, kann es kaum sein, dass diese Menschen zuvor mit 2400 Kalorien am Tag versorgt worden sind. Im besten Fall ist es irreführend, die Versorgungslage von Inhaftierten lediglich anhand der Kalorienzufuhr zu messen.

Im Sommer 1943 (das heißt im Juli) erlaubte man es Vertretern des Deutschen Roten Kreuzes, Theresienstadt zu besuchen, und nach dem Bericht des vertrauenswürdigsten Mannes in der Joint Relief Commission des IKRK in Genf, der mit den Delegierten nach ihrer Rückkehr ein langes Gespräch geführt hat, zeigten sich diese sehr bestürzt und hatten einen negativen Eindruck von ihrem Besuch. Zu betonen ist, dass dies das erste Mal war, dass man es Vertretern des Deutschen Roten Kreuze s gestattet hatte, in Kontakt mit deportierten Juden zu treten. Diesem vertraulichen Bericht zufolge sind die materiellen Lebensbedingungen in Theresienstadt sehr schlecht. Das Getto war heillos überfüllt (mehr als 43 000 Menschen in einer kleinen Stadt, in der zuvor um die 7000 gewohnt haben), die Insassen waren stark unterernährt, und es herrschte ein grundlegender Mangel an Kleidung und medizinischer Versorgung. Das Deutsche Rote Kreuz beurteilte die interne jüdische Verwaltung des Gettos unter den gegebenen Umständen jedoch als gut.

Angesichts dieses Berichts aus deutschen Quellen, der ungefähr ein Jahr zurückliegt, bestehen doch einige Zweifel daran, dass die Versorgungslage in Bezug auf Nahrung, Arzneimittel und andere medizinische Hilfe sich in der Zwischenzeit so wesentlich verbessert haben soll, wie es die Ausführungen von Dr. Rossel nahelegen. Eine durchaus typische „Aussage zu Theresienstadt“ taucht auf Seite zehn des IKRK-Berichts auf. Dort wird festgestellt, dass trotz der allgemein hinreichenden Versorgung im Getto die Zusendung bestimmter Produkte (speziell Kindernahrung, Milchprodukte und vitaminhaltige Nahrung, Sardinen und Schuhe) sehr willkommen sei. Ähnliche Formulierungen finden sich auf Hunderten von Postkarten aus Theresienstadt, die im Laufe der letzten beiden Jahre in der Schweiz angekommen sind. Die fast immer identischen Wendungen lauten: „Wir bekommen reichlich zu essen, aber wir sind immer froh über den Erhalt von Paketen mit Kondensmilch, Sardinen etc.“ Dr. Rossel äußerte in einem vertraulichen Gespräch gegenüber dem IKRK (und dies hätte auch in seinem Bericht deutlicher zum Ausdruck kommen sollen), dass die Lebensmittellieferungen nach Theresienstadt unter keinen Umständen verringert oder unterbrochen werden sollten.

Dr. Rossel beklagt in seinem Bericht jedoch ganz offen den großen Mangel an Schuhen. Das gilt leider inzwischen auch für die „normale“ zivile Bevölkerung in fast ganz Europa, ganz zu schweigen von den Flüchtlingen, Gefangenen und Deportierten. In zahllosen Berichten etwa über die Bedingungen für Juden in den Arbeitslagern in Polen und Schlesien ist oftmals davon die Rede, dass die Männer barfuß zur Arbeit gehen. Abschließend kann über Theresienstadt wohl wahrheitsgemäß gesagt werden, dass es sich hierbei zweifelsohne um ein „Lager“ für bestimmte „privilegierte“ Gruppen von Juden handelt, wobei die Bezeichnung privilegiert als äußerst relativ zu verstehen ist. Die Art und Weise, wie sie in der Hauptfestung behandelt werden - wenig bis nichts ist diesbezüglich über die „Kleine Festung“ bekannt -, ist nicht vergleichbar mit dem, was die Juden in den polnischen Lagern erleiden müssen. Die brennende Frage bleibt freilich: „Was wird am Ende mit diesen Menschen geschehen?“ In den wenigen Momenten, in denen Dr. Rossel vertraulich mit Dr. Eppstein sprechen konnte, fragte er ihn, wie er, Eppstein, sich den auffälligen Unterschied zwischen Theresienstadt und den anderen Lagern für Juden erkläre und was er denke, was das Schicksal dieser Getto-Bewohner sei. Dr. Eppstein erwiderte, er habe auf diese Frage keine Antwort, und fügte hinzu, er sehe keinerlei Ausweg.

Als Frank, der „Reichsleiter“ des Protektorats, kürzlich gefragt wurde, was aus Theresienstadt werden solle, antwortete er einem vertrauenswürdigen Bericht zufolge, dass er persönlich nichts dazu wisse („wir fragen uns das auch“), womit er andeutete, dass er in derartige Angelegenheiten nicht eingeweiht ist.

Hochachtungsvoll

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