Tage vor der Deportation
Pavel Weiner beschreibt vom 25. bis 28. September 1944 die Tage vor der Deportation seines Vaters und seines Bruders
den 24. IX.
Am Nachmittag eile ich zu Mama. Der ganze Vormittag, ja der ganze Tag wurde mit dem letzten Einpacken zugebracht. Täta und Handa meinen immer noch, dass ihr Gepäck ziemlich schwer sei, und packen alles wieder um; das wird bei Papa in [,..] gemacht. Sollte ich die Menschen aufzählen, die ebenfalls mitkommen, müsste ich dieses dicke Heft ganz vollschreiben. Mir ist immer noch nicht richtig bewusst, was eigentlich los ist. Auf der Straße sehe ich lauter weinende Menschen, zumindest nehme ich nichts anderes wahr. Mit den Eltern vereinbaren wir irgendeinen Punkt und geraten in Streit, aber das ist nicht von langer Dauer. Papa weist mich daraufhin, dass, wenn er weg sei, die ganze Verantwortung auf mir liegen wird. Ich bin erstaunt, dass er so aufrichtig ist. Ich kann kaum den Augenblick erwarten, wenn sie einsteigen, weil ich den Abschied hinter mir haben will. Sie hätten schon früh [den Zug] besteigen sollen, aber [nun] werden [doch] alle erst am Abend einsteigen. Meine Leute werden bestimmt nicht so spät einsteigen, weil es dann schon zu dunkel wäre. Ich bin das Gegenteil von Papa. Er würde am liebsten ständig Abschied nehmen. Von [unserer] Baracke hat er sich bestimmt schon dreimal verabschiedet, und er kehrt ständig zurück. Auch auf der Straße wird dauernd Abschied genommen. Alles wirkt so traurig. Es ist interessant, dass mein dummer kleiner Talisman - aufgehoben am Magdeburger Fenster - heute verschwunden ist. - Es ist schwer, den Transport in knappen Worten zu schildern. Die Situation ändert sich ständig und dadurch auch meine Gefühle. Einerseits hätte ich gern alles hinter mir, [dann wiederum] würde ich die Abreise am liebsten aufhalten. Es tut mir leid, dass Papa nicht mit in dem zweiten [Transport] ist. Erstens hat er dort Bekannte, und zweitens gäbe es mehr Möglichkeiten zu Reklamationen. Endlich kommt die Zeit zum Aufmarsch an der Schleuse. Meine Leute haben sehr schweres Gepäck dabei. Ich könnte nicht ein Stück davon tragen. Die Bettrolle ist schrecklich [schwer] zu handhaben. Vor der Schleuse drängt sich eine Menschenmenge. Die Eltern dürfen sich [noch] ein paar Küsse geben, was nicht ohne Tränen abgeht, dann verschwinden alle im Tor, das sie verschluckt, und sie lassen uns alleine zurück. Meine Aufgabe als Samariter beginnt. Ich frage herum, wo sie bleiben werden. Endlich finde ich heraus, dass es sich um Zimmer im ersten Stock der Nummer 801 und 802 handelt. Zufällig kenne ich dort jemanden, der sie holt. Handa macht großes Geschrei, dass das Gepäck zu schwer sei und die Hälfte rausgeschmissen werden müsse. Das macht die Stimmung nicht besser, und wir gehen traurig nach Hause. Ich versuche, die Mutter zu beruhigen, aber es will mir nicht gelingen. Ich bringe ihr Abendbrot, und wir gehen zur L 218, wo wir alles Nötige zusammenpacken und es zu mir bringen. Dann gehen wir noch [einmal] zur Schleuse. Wir lassen sie aufrufen. Sie kommen herunter, wir sprechen ein wenig miteinander, und dann kommt die zweite Phase des Abschiednehmens. Mit dem Papa geht es gut, als jedoch Handa kommt, beginne ich, ich weiß nicht warum, zu weinen, treu begleitet von meiner Mutter. Zum Glück hüllt mich der Mantel der Dunkelheit ein. Dann gehen wir traurig [...]. Langsam beruhige ich mich. Der Waggon ist selbstverständlich noch nicht da. Ich verabschiede mich von der Mutter. Franta fährt [auch] mit und kam, um sich zu verabschieden, ich war [aber] nicht da. Jetzt sollen wir [ihm] einen Abschiedsbrief schreiben, was ich auch tun werde. Wir reden noch eine Weüe über die kursierenden [...], dann schlafe ich ein.
Dienstag, den 25. IX.
Ich würde zwar am liebsten im Bett bleiben, aber etwas zwingt mich, zur Schleuse zu gehen. [...] kam noch nicht, also ist es so gut wie sicher, dass der Transport heute nicht abgehen wird. Im Gegenteil, man sagt, dass er verschoben worden sei. Gestern bekam Mama die Aufforderung, wieder in die Bäckerei zu kommen. Draußen regnet es, und es ist nasskalt. Ich gehe zunächst zu den Baracken, wo man mir sagt, dass Mama arbeiten gegangen sei. Ich möchte mir [ein Stück] Brot abschneiden, kann es aber nicht finden. Es ärgert mich, dass die Frauen in der Baracke bereits einen Halbwaisen in mir sehen. Ich bin unentschlossen, ob ich zu Papa gehen soll oder nicht. Ich möchte nicht schon wieder Abschied nehmen. Also gehe ich nach Hause. Ich müsste dringend zum Friseur, aber ich habe keine Lust. Zu Hause kann ich es jedoch nicht aushalten, und etwas drängt mich, zu Papa zu gehen. Um die Hamburg[er Kaserne] herum stehen die Gettowachleute und lassen niemanden ans Fenster heran. Zum Glück finde ich dort Mama, die ganz nervös wartet, bis Papa am Fenster erscheint. Ich lasse ihn aufrufen. Mutter will ihm Essen bringen. An Details kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Wir beide bedauern zutiefst, dass wir nicht alle im zweiten [Transport] gelandet sind. Man hört nämlich, dass er gar nicht fahren soll. Auch die Abfahrt des ersten ist unsicher. In ganz Theresienstadt verbreiten sich Gerüchte, wie beispielsweise dass ein Generalstreik der Arbeiter und Eisenbahner ausgerufen worden und die Bahn unterbrochen sei und es keine Waggons mehr gebe. Mit solchen Berichten tröste ich Mama. Jetzt gehen wir ständig zwischen Schleuse und Baracken hin und her, mit Tee oder anderem Essen. Wir beneiden diejenigen, die im zweiten [Transport] sind, und innerlich wünschen wir, dass mit dem ersten auch der zweite [endlich] fahren möge. Auch Mama versucht, zu Rudla zu kommen, erreicht aber nichts. Sie hat die schreckliche Eigenschaft, sich immer nur alles Böse auszumalen, das Gute sieht sie nicht. Handa und Papa packen schon [wieder] ihr Gepäck um, insbesondere die Bettrollen, die sie verkürzen. Weggeworfen haben sie nur die Sandalen. Geistesgegenwärtige Leute haben aus einem Fenster die Gitter herausgenommen, so dass man [zu ihnen] hineinkriechen konnte. Auf diese Weise gelange ich abends zur Schleuse und unterhalte mich mit Papa und Handa, vielleicht zum letzten Mal. Im gesamten Getto herrscht schreckliche Unordnung. In [...] beschimpfen mich z. B. kleine Kinder. Die Mutter ist schrecklich nervös. Es ist schwer, sie zu beruhigen. Heute ist der Vorabend von Jom Kippur. Überall brennen Lichter. Alle dürfen die Schleuse verlassen und gehen nach Hause, um zu schlafen, auch mein Bruder. Ich gehe erst später heim. Kurz danach kommt Franta und berichtet, dass der Transport morgen früh wahrscheinlich aufgelöst werde. Mit dieser frohen Botschaft renne ich zur CIII, wo sie kühl entgegengenommen wird. Im Vertrauen darauf, dass der Transport nicht fahren wird, gehe ich unter die Dusche und gleich danach ins Bett, wo ich erschöpft einschlafe.
Am Mittwochabend verabschiede ich mich instinktiv vom Vater. Zu Hause erfahre ich dann, dass die Waggons in der Frühe bereitgestellt werden und um 6 [Uhr] bereits aufgeladen wird. Ich schlafe ein.
Donnerstag, den 26. IX.
Obwohl ich länger schlafen könnte, stehe ich auf und renne zur Schleuse. Überall stehen die Gendarmen und Gettowachmänner herum. Vergeblich schaue ich zum Fenster hinauf. Von meinen Leuten erscheint niemand. In der Menschenmenge erblicke ich die weinende Mama. Ich tröste sie grob. Mama befürchtet Schlimmes. Die Gendarmen bilden eine Kette, sie sind zwar anständig, schicken jedoch die armen Frauen weg. Mama macht sich Sorgen, weil sie vergaß, Handa zu sagen, wo er seine Mütze hat. Ich verstehe es zwar, zeige es aber nicht und schimpfe mit Mutter schrecklich. Mutter weint ständig, es verletzt mich, und deswegen schimpfe ich mit ihr. Ich sage ihr die ganze Zeit, sie solle klug sein, aber in dem Moment erinnert sie sich an sie und beginnt zu weinen. Ich bin traurig. Ich gehe nach Hause und von dort Sardinen holen, [...] habe ich bereits gestern bekommen, konnte es aber erst jetzt abholen. Wir gehen zusammen mit Mangl, der ein großes Paket hat. Noch vorher gehe ich bei Mutter vorbei, um den Ausweis zu holen. Mutter macht mir Vorwürfe, weil andere Kinder auf der Bastei gestanden haben und ich nicht dort gewesen sei. Es tut mir leid, aber ich befürchte, es hätte ihm auch nicht geholfen. Herr Popper, der heute fährt, hört es und fragt, was er dem Papa ausrich-ten soll. Mutter antwortet für mich und sagt, ich sei nicht artig gewesen. Diese unwahren Worte ärgern mich. Ich bin ziemlich wütend. Ich gehe Sardinen holen. Es steht dort keiner Schlange. Zu Hause schreibe ich Tagebuch. Man sagt, Eppstein wird fahren. Sicher ist, dass er in der Kommandantur eingesperrt ist. Schliesser fährt mit [dem Transport]. Im Getto sieht es ohne die Männer traurig aus. Ich kann mir gar nicht vorstellen, monatelang ohne Papa und Handa zu leben. Ich gehe das Mittagessen holen. Ständig muss ich auf die Stühle schauen, auf denen eigentlich Handa und Papa sitzen sollten. Nur Gott weiß, wann ich sie Wiedersehen werde. Am Nachmittag geht Mama arbeiten. Innerlich freue ich mich, dass ich einen freien Nachmittag für mich habe, schiebe den Gedanken aber bald von mir. Am nächsten Tag wird mir klar, dass es schwer werden wird, sich an dieses neue Leben zu gewöhnen. Zu Hause lege ich mich aufs Kavalett und fange an zu lesen. Eine Stunde später macht es mir keinen Spaß mehr, und ich frage Mangl, ob er mit mir spazieren gehen möchte. Wir gehen los und schauen in Handas Mansarde in der L 218 vorbei, ob dort irgendwelche Bücher zurückgeblieben sind. Ich hole mir dort [...] auf Französisch, vier [...] und einen englischen Krimi sowie „Wie man sich verteidigen soll“. Es sind weder wertvolle noch gute Bücher. [.. .] Bald darauf hole ich mir das Abendbrot. Es gibt Getto-Suppe, ich nehme davon. Solange meine Mutter nicht da ist, genieße ich sie sogar. Auch hier nehmen die Männer Abschied. Ich bin in allem selbständig und mache alles so gut wie möglich. Ich freue mich wie ein Kind auf eine halbe Büchse Sardinen. Die Mutter hat den Inhalt falsch aufgeteilt, und ich bin ihr böse. [...] Ich gehe zu Mama in die Bäckerei. Sie kommt völlig erschöpft heraus. Sie tut mir leid, aber nicht deswegen. Mama ist in Eile. Wir sind wieder gut miteinander. Dann gehe ich nach Hause. Ich möchte den Abend ruhig verbringen, kann zwei Partien Schach aber nicht widerstehen. Diese Saison bin ich nicht in bester Form. Alles kommt wieder ... Nur der Papa nicht!!!
Ich nehme eine heiße Dusche. Der Bademantel passt jetzt gut. Ich verbringe lange Zeit mit der Suche nach einem Buch, dann finde ich es endlich und lese bis halb elf. Ich vergaß zu schreiben, dass Prof. Nobel unser neuer Jugendleiter[...] ist.