Ankunft in Theresienstadt
Bernhard Kolb beschreibt in seinem Tagebuch am 18. und 19. Juni 1943 seine Ankunft in Theresienstadt:
Evakuierungstag. An den fahrplanmäßigen Personenzug Nürnberg-Eger wurde unser Wagen angehängt, und über Marktredwitz-Karlsbad-Aussig ging es nach der für Theresienstadt zuständigen Bahnstation Bauschowitz. Wenige Tage vorher war die von den Juden erbaute Bahnstecke nach Theresienstadt fertiggestellt worden. In Bauschowitz wurden wir vom Lagerkommandanten Dr. Seidl und tschechischer Gendarmerie übernommen, wir hatten aufgehört, freie Menschen zu sein. Als erster Transport wurden wir auf der neuen Strecke nach Theresienstadt gefahren und kamen dort ungefähr um V2 22 Uhr an. „Niemand aussteigen.“ Erster Eindruck: Entlang des Zuges viele junge Männer und Frauen in tadelloser Kleidung und bester Stimmung. „Koffer und Rucksäcke bleiben im Wagen, mit Handgepäck aussteigen.“ Eintritt in eine der Festungskasematten, Jägerkaserne genannt. „Gold, Schmuck und Rauchwaren sind sofort abzuliefern, bei schwerster Strafandrohung.“ Leibesuntersuchung durch tschechische Gendarmerie. Hierbei Beschlagnahme meines teuren Taschenmessers und Taschenlampe; den anderen auch nur Kleinigkeiten. Untersuchung auf Läuse. Ablieferung der Kofferschlüssel zur Kontrolle, hier Durchschleusung genannt. Es wird uns warme Kartoffelsuppe angeboten, eine große Anzahl Leute als Transporthilfe begleitet uns von einem in den anderen Raum. Mehrmalige Aufnahme der Personalien. Endlich gegen V2 24 Uhr Abmarsch ins Quartier, hier Ubikation genannt. Stockfinstere Nacht, einige Straßen, an denen man große Häuser unterscheiden kann, stolpern - nur mit dem Handgepäck - durch Höfe und werden in einem kleineren Hause auf den Speicher geführt. Alle Speicher sind in Theresienstadt mit Ziegelsteinen gepflastert.
3. Theresienstadt
Der Speicher ca. 14 x 8 m Bodenfläche, 3 elektrische 25-Watt-Lampen. Dachluken ohne Glas. Auf dem Fußboden Matratzen und holzwollgefüllte Ersatzmatratzen aus Papierstoff. 20 Personen unseres Transportes, die übrigen, ohne die Kranken, die sofort in Siechen- oder Krankenhäuser kommen, in ein Parterrezimmer im gleichen Haus. Jede Familie sucht so schnell wie möglich zur Ruhe zu kommen, denn die Nacht vorher hat fast niemand geschlafen.
19.6.43
Alles hat annehmbar, wenn auch unbequem geschlafen. Jede Familie holt Kaffee in einer Kasernenküche - Hannover. Kaum daß wir unsere wenigen Sachen etwas geordnet haben, kommen Besuche der bereits hier befindlichen Nürnberger. Leider sind es nur noch ungefähr 160 Personen von den 533. Bereits 14 Tage nach ihrer Ankunft im September 1942 kamen 70 Personen - fast alle ganz alten - nach Polen; die übrigen sind im Laufe der 9 Monate verstorben. Die meisten, glauben wir, haben Pakete für jeden einzelnen mitgebracht, unaufhörliches Fragen, hauptsächlich, ob der Krieg bald aus wäre. Die Organisation hat während der Nacht bereits bei dem Meldeamt - Zentralevidenz - alle Adressen eingetragen, so daß jeder unsere Wohnung erfahren konnte. Im Laufe des Vormittags bekommen wir auch unsere Essenskarten. Holen des Mittagessens. Erbsensuppe, Fleisch in Tunke, Kartoffeln. Abends: Erbsensuppe, Nudeln mit Zucker. Gut gekocht, aber nicht ausreichend. Am Nachmittag Zustellung der Rucksäcke und Koffer, nach einigen Tagen, auf Reklamation, auch unsere Stühle. Medikamente, Cognak und ein Paar Sporthalbschuhe geschleußt. Wir bekommen Bretter zur Unterlage unter die Matratzen, ich mache mir die mitgebrachte Hängematte auf. Ausbauen der Unterkunft durch Einschlagen von mitgebrachten Haken und Nägeln. Werkzeug war sehr wichtig, denn niemand von den anderen hatte welches mit. Aus meinem nicht benötigten Bettbrett wird mit 2 Koffern ein Tisch improvisiert; abends die Koffer unter die Bettbretter. Kleidersäcke sehr von Nutzen. Ernennung zum Zimmerältesten, dessen Aufgaben: Verteilen des Wohnraumes, Ordnung und Reinigungsaufsicht, Verteilen der Brotrationen, Margarine, Zucker, Fleischkonserven (Leberpastete); Verdunklung. Beim Betreten der Straße überrascht von dem allgemeinen ungeheuren Personenverkehr. Der Raum des Ghettos (später Siedlungsgebiet genannt) ca. 500 m2, 6 Längsstraßen (L), 9 Querstraßen (Q), ca. 45 000 Juden. Die Hälfte Protektoratsangehörige, meist Leute bis 40 Jahre; viele Kinder, meist von den Eltern getrennt in Kinderheimen gut untergebracht. Bis vor einigen Monaten Erwachsene fast nur in Kasernen - Geschlechter getrennt - untergebracht, Magdeburger Kaserne - Verwaltungsräume, Prominentenwohnungen; Hannover Kaserne - Männer; Hamburger Kaserne - Frauen; Genie-Kaserne - Frauen; Sudeten-Kaserne - Männer; Bodenbacher Kaserne - Männer; Dresdner Kaserne - Frauen; Hohenelber Kaserne - Krankenhaus; Cavalier-Kaserne Kasematten - Altersheim; später dann noch Jäger-Kaserne Kasematten - Männer. Ferner außerhalb der Ghettogrenzen Aussiger Kaserne - Unterbringung der Kleiderkammer unter ständiger Aufsicht der Kommandantur. Geschäfte mit dekorierten Schaufenstern, meist jedoch nur Ausstellungsstücke; Herrenkleider, Damenkleider, Schuhe und Wäsche je 2 Geschäfte für 2 verschiedene Preislagen (je nach Einkommen besondere Bezugsscheine). Koffer, Geschirr, Parfümerie, Galanterie, Kinderbekleidung, Lebensmittel und 9 Friseurstuben. Die Ghetto-Bewohner setzen sich aus allen Bevölkerungsrassen bis zur Biskaya zusammen. Von einer weißen Negrin, Zigeunerinnen, Ungarinnen, Slavinnen, rumänisch-italienisches Blut, auffallend viele Blonde, auch weißblonde Albinos, bis zur hohen, schlanken Westeuropäerin. Vom mongolisch-slawischem Männertyp bis zum körperlich degenerierten Geistesakrobaten. Unter den jungen Tschechen schöne kräftige Gestalten, die Frauen außerdem stark mit Lippenstift und Haarbleiche. Auffallend hübsche Kinder - ca. 8000 unter 16 Jahren, darunter ca. 2500 Reichsdeutsche, meist Mischlinge.