Freude über Befreiung
Anneliese Borinski freut sich in ihrem Tagebuch zwischen dem 20. April und dem 8. Mai 1945 über ihre wiedergewonnene Freiheit und schmiedet Pläne für ihre Emigration nach Palästina:
Nach der Befreiung
Gleich ist es Mitternacht. Alles ist ganz ruhig, ich bin alleine munter. Ich sitze an einem Tisch unter einer Lampe. Es ist Feder und Tinte da und genug Papier zum Schreiben. Ich brauche nur zum Schrank zu gehen, wenn ich etwas essen möchte, und kann mir nehmen, soviel und was ich will - ohne Angst zu haben, daß morgen nichts mehr da sein wird. Dort steht auch eine Kanne mit Wein. In der Ecke steht ein Ofen - ich könnte ein bißchen heizen, aber mir ist nicht kalt. Und wenn ich sehr müde bin, dann lege ich mich in mein Bett.
Und das alles ist kein Traum. Es ist kein Traum, in einer unruhig durchschlafenen Nacht auf dem Strohsack, in einer Scheune, auf zusammengescharrten Biesen im Wald, kein Traum im offenen Kohlenwaggon, zum Trost, zur Betäubung sich selber vorgegaukelt. Auch nicht in den Fiebernächten im Revier zwischen all dem Gestank, Gestöhn und Geschrei, zu dritt im Bett, wenn man diesen Schmutzhaufen so nennen kann - erträumt. Auch kein Traum der kurzen frierenden Rasten im Straßengraben - da war man selbst dazu zu erschöpft. Es ist kein Traum - es ist ein Wunder, aber es ist wahr.
Ich weiß nicht, ob ich morgen noch hier sitzen kann. Wir haben es ja gelernt, daß jede halbe Stunde, ach, jede Minute, Neues, Unverhofftes bringen kann. Aber wir haben immer und immer wieder erfahren, und gerade in den letzten Wochen, daß alles, wie es kam, für uns zum Guten wurde. Und darum weiß ich, daß, auch wenn wir aus diesem Schlaraffenland fortmüßten, wenn wieder ein härteres Leben beginnen sollte, daß doch alles nur ein Schritt näher zum Ziel wäre, ein Schritt mehr auf dem Wege zu unserer Heimat. Denn wenn es nicht so wäre, dann würde ich heute nicht mehr leben. Und dann wäre ich nicht frei geworden. Frei. - Keiner kann das Wort richtig verstehen, der es nicht selbst erlebt hat, was es heißt: Gefangener zu sein. (Bei allem Verständnis für innere Freiheit!) Dabei bin ich weiter in dieser so ganz sicheren beglückenden Ruhe, für die ich dankbar bin, unaussprechlich dankbar.
Und jetzt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Denn erzählen muß ich, nicht nur um zu berichten, auch - vielleicht hauptsächlich - daß ich fertig werde damit, soweit man es eben verarbeiten kann. Es gibt viele, die mehr gesehen und erlebt haben als ich, ich kann alles vielleicht nur von einem ganz kleinen Gesichtskreis aus sehen, aber es sind für mich unendliche Weiten und Tiefen. Ich weiß noch nicht, wo zu beginnen, aber ich weiß, daß ich hier beginnen muß. Ich darf nicht länger warten, ich muß diese erste Möglichkeit in den ersten Minuten der Ruhe ausnutzen. Vielleicht auch, weil grade hier in dieser beglückenden Atmosphäre des Freiseins und der Kameradschaft dieser Männer, die ähnliches erlebten und wohl mehr als alle anderen mitempfinden können als ehemalige Kriegsgefangene, weil in dieser Atmosphäre sich alles am leichtesten löst.
Den 5.5.45
Ich muß auch das noch sagen: Was es heißt, bei jedem Schritt, den man über die Straße tut, zu spüren: Ich kann gehen, wohin ich will! Gar nichts mehr von dem Sich-ängstlichen-Umgucken nach Posten, Warten auf den Pfiff zum Appell, vom vorsichtigen In-den-Fünfer-Reihen-Bleiben, vom Weitergetriebenwerden. Nur in den Träumen jeder Nacht ist alles noch voll davon.
Aber dieses Leben hier ist auch so außerhalb jedes normal Bürgerlichen, so gerade ins Gegenteil umgeschlagen, daß man es sich eigentlich genau sowenig vorstellen konnte, wie phantastisch wir uns auch immer die ersten Tage der Freiheit vorgestellt haben mochten, wie unser Leben der letzten zwei Jahre: Und das ist das Schönste von allem, daß man so mitten darin ist, in diesem neuen Leben. Der „Zauberberg“ der Großen Hamburger Straße ist umgekehrt! Dieses „Wir sind die Herren der Stadt“, diese ritterliche Fürsorge der Männer uns gegenüber und dieser wütende Haß gegen die anderen. Es ist beruhigend zu wissen, daß unsere Sache in guten Händen ist.
Und trotz allem, diese Unruhe, fortzukommen von hier, auch wenn es nur ein paar Schritte mehr zum Bestimmungsort sind. Nichts ist mir in diesen Tagen so klar geworden wie dies: Man braucht ein Heimatland! Jeder dieser Männer, gleich ob er Soldat aus U. S. A. oder Canada, aus Nord- oder Südfrankreich, aus England, aus Holland, aus Serbien, aus Polen, aus Rußland, aus Italien oder aus der C. S. R. ist - jeder von ihnen ist stolz auf sein Vaterland, jeder von ihnen zeigt Photographien von Frau und Kindern. Und dieser Stolz aufs Vaterland ist das, worum ich sie beneide und was mich immer fester und fester in meinem Wege werden läßt.
Und nun weiß ich auch, daß ich alles, was ich zu sagen habe, Euch sagen muß, meine Chawerim. Nicht nur denen, die zu unserer engsten Chewrah gehören und von denen wir nicht einmal wissen, wo sie jetzt sind und an die wir immer denken, nein, allen Chawerim, die zu uns gehören und an die wir denken, wenn die anderen von ihrer Heimat sprechen.
Chawerim, bevor ich anfange, geordnet weiterzuerzählen, muß ich noch einmal hier bestätigen, daß mir immer bewußt sein wird: Es gibt keine andere Antwort für diese wunderbare Rettung, als mit die Verpflichtung für die anderen, die nicht mehr da sind, zu übernehmen.
8. Mai
Seit heute früh um 2.41 Uhr ist Friede! - Friede - Schalom! - So unvorstellbar, wie jedes der anderen Wunder, die sich nun begeben haben. Und wir leben und sitzen hier mit Kriegskameraden und trinken auf den Frieden. Und haben Blumen auf dem Tisch, und vielleicht wird man bald überall hinschreiben können, und dann werden die Freunde draußen erfahren, daß wir noch trotz allem, daß wir noch da sind. - Unvorstellbar, immer noch, unvorstellbar - Frieden! Friede! Was kann ich noch mehr sagen, ich kann heute nacht nicht mehr schreiben. Bis jetzt saßen wir mit dem Kanadier zusammen, vielleicht wird er bald zu Hause sein. Vielleicht sind wir auch bald zu Hause, zu Hause. Unmöglich, heute etwas Vernünftiges zu schreiben. Ich gebe mir Mühe, mir diesen neuen Zustand begreiflich zu machen. Aber es ist unbegreiflich. Unbegreiflich, wie eben alles, was in der letzten Zeit mir begegnet ist.