Zustände in Dachau
Der Sanitäter Harold Porter schildert seinen Eltern in Michigan am 7. Mai 1945 die Zustände im Konzentrationslager Dachau nach der Befreiung:
Liebe Mutter, lieber Vater,
inzwischen wird Euch ein Brief erreicht haben, aus dem hervorgeht, dass ich im Konzentrationslager Dachau einquartiert worden bin. Es ist noch immer nicht darüber entschieden worden, ob wir die Erlaubnis bekommen, über die Verhältnisse hier zu berichten. Aber ich schreibe dies vorsorglich schon einmal auf, um Euch ein wenig zu berichten, und werde es später abschicken, wenn man uns die Genehmigung dazu erteilt hat.
Ich weiß nicht recht, wie man am besten beginnen soll. Mittlerweile habe ich mich von meinem ersten Schock erholt und bin in der Lage, über die Dinge hier zu schreiben, ohne wie ein hysterischer Idiot zu klingen, der nur Unverständliches von sich gibt. Und doch bin ich mir sicher, dass Ihr zögern und nicht wissen werdet, ob Ihr mir all das glauben sollt, unabhängig von meinem Versuch, konzentriert und objektiv zu sein. Ich ertappe mich dabei, dass ich das, was ich gesehen habe, versuche zu verdrängen. Was ich hier in den letzten Tagen gesehen habe, wird sich ganz sicher für den Rest meines Lebens auf meine Persönlichkeit auswirken.
Wir erfuhren erst kurz vor unserer Abfahrt, dass wir in Dachau eingesetzt würden, einem der berüchtigtsten Konzentrationslager. Und obwohl wir auf Grauenhaftes vorbereitet waren, bin ich mir sicher, dass keiner von uns ahnte, was ihn erwarten würde. Es ist eben etwas anderes, über Gräueltaten nur zu lesen. Um sie wirklich zu begreifen, muss man sie gesehen haben. Wenn ich daran denke, wie ich früher einmal Valtins Buch „Tagebuch der Hölle“ als grotesk verhöhnt habe! Ich habe inzwischen weitaus Schlimmeres ansehen müssen als das, was er beschrieben hat.
Die Fahrt von Göttingen in Richtung Süden war recht angenehm. Wir durchquerten Donauwörth und Aichach, und als wir in Dachau ankamen, wirkte die Gegend mit ihren kleinen Häusern, Flüssen, Landgütern und den Alpen in der Ferne fast wie ein Urlaubsort. Als wir aber das Zentrum der Stadt erreichten, stießen wir auf einen Zug mit einer defekten Lokomotive und etwa 50 Waggons. Jeder der Waggons war voller Leichen. Es müssen Tausende gewesen sein - die Menschen waren alle ganz offensichtlich verhungert. Das war ein unglaublicher Schock, man kann sich den Gestank kaum vorstellen. Aber das alles war noch nichts im Vergleich zu dem, was uns später noch begegnen sollte.
Marc Coyle war zwei Tage vor mir im Lager eingetroffen und dort als Wachmann eingesetzt. Sofort nach meiner Ankunft suchte ich ihn auf, und er brachte mich zum Krematorium. Überall lagen tote SS-Soldaten auf dem Boden, aber als wir die Gebäude mit den Brennöfen betraten, stießen wir auf riesige Haufen von Leichen, aufgeschichtet wie Brennholz und alle nackt, weil ihre Kleidung weiterverwendet werden sollte. Es gab Öfen, in denen sechs Leichen auf einmal eingeäschert werden konnten, und auf jeder Seite war ein etwa 20 Fuß großer Raum, der bis zur Decke mit noch mehr Leichen vollgestopft war - eine einzige große stinkende und vor sich hin faulende Sauerei. Die Gesichter waren violett angelaufen, die Augen weit aufgerissen, und viele hatten ein grässliches Grinsen im Gesicht. Sie bestanden nur noch aus Haut und Knochen. Coyle hatte am Tag zuvor bei zehn Autopsien von zufällig ausgewählten Leichen assistiert (er trug dabei eine Gasmaske). Acht von den Toten hatten unter einer fortgeschrittenen Tuberkulose gelitten, alle hatten Typhus gehabt und zeigten Symptome von extremer Unterernährung. Neben den männlichen Leichen lagen auch Frauen und Kinder. Während wir das Lager inspizierten, sahen wir befreite Häftlinge, die ganze Wagenladungen voller Leichen transportierten, die auf dem Gelände eingesammelt worden waren. Beim Entladen zuzusehen war schrecklich. Die Leichen machten quietschende und gurgelnde Geräusche, als man sie aufeinandertürmte. Der Gestank war fast greifbar. Hinter den Verbrennungsöfen befand sich die Hinrichtungskammer, eine etwa 20 Fuß große fensterlose Zelle mit Gasdüsen, die alle 30 Zentimeter in die Decke eingelassen waren. Im Freien lagen neben einem großen Haufen verkohlter Knochenreste sorgfältig sortierte und gestapelte Kleidungsstücke der Opfer - offensichtlich mehrere Tausend. Obwohl ich dort stand und alles mit eigenen Augen gesehen habe, konnte ich es nicht fassen. Dass diese ganzen Schweinereien wirklich passiert waren, dämmerte mir erst allmählich, und ich bezweifle, dass Ihr es jemals ganz verstehen werdet.
Es kursiert das Gerücht, der Krieg sei endlich vorbei. Wie die Dinge liegen, trifft das wahrscheinlich zu. Seit mehreren Tagen haben wir mit dem Ende des Kriegs gerechnet, aber unsere Begeisterung hält sich in Grenzen, weil wir wissen, dass sich an unserer unmittelbaren Situation nicht allzu viel ändern wird. Es gab keinerlei Feierlichkeiten -in der morbiden Stimmung, in der wir uns befinden, fällt es schwer, irgendetwas zu feiern.
Die Einheit hier wird wohl noch eine Weile auf ihren Einsatz im Südpazifik warten müssen. Wir haben es hier erst einmal mit rund 36 000 tatsächlichen und zukünftigen Patienten zu tun. Was für alle anderen das Ende ihres Auftrags bedeutet, ist für uns erst der Anfang.
Heute war ein glühend heißer Tag, nachdem es mehrere Tage kalt war und geregnet hat. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie sich die Hitze auf die Leichen auswirkt. Und die Situation wird wahrscheinlich noch dramatischer werden, weil sich ihre Beseitigung gewiss noch einige Zeit hinziehen wird.
Mein Arm schmerzt von einer Typhus-Impfung. Deswegen werde ich für heute erst einmal Schluss machen. Später mehr. Es gibt noch viel, worüber ich Euch berichten kann.
In Liebe