Bericht über Bergen-Belsen
Ein britischer Reporter verfasst am 20. und 21. April 1945 einen Bericht über die Zustände im Lager Bergen-Belsen nach der Befreiung:
Belsen
Freitag, 20. April 1945
Kam nach Belsen, ein riesiges, von Stacheldraht umgrenztes Areal. Das Ganze wurde von bewaffneten ungarischen Posten bewacht. Sie waren in der deutschen Armee gewesen und haben sich jetzt, sofort und ohne Zögern, uns zur Verfügung gestellt. Fürs Erste ersetzen sie uns eine große Zahl von Leuten. Außerhalb des Lagers, das von Büschen, Kiefern und Heidekraut umgeben ist - alles ziemlich frisch gepflanzt -, gab es große Warnschilder, auf denen in roten Lettern stand: „Typhusgefahr“. Wir fuhren auf ein Gelände, das sich als großes Ausbildungslager herausstellte - eine Art Aldershot. Hier standen zweistöckige Gebäude aus Backstein an asphaltierten Straßen - Adolf-Hitler-Straße, Rommel-Straße, Fridericus-Rex-Straße usw. Am Ende ein schönes Offiziershaus, auf das wir Zufuhren und wo wir Offiziere der Oxfordshire Yeomanry antrafen. Der Kommandeur Colonel Taylor war einst einer meiner Schüler (ein sehr fauler) in Oxford. Sie machten [...], hießen mich willkommen und luden uns zu einem Drink ein.
Sie erzählten uns vom Konzentrationslager. Es liegt südlich des Ausbildungsgeländes, hinter einem eigenen Stacheldrahtzaun. Die Wehrmacht durfte sich [dem Lager] nicht nähern. Es war ausschließlich von SS-Männern und -Frauen bewacht.
Über die Befreiung des Lagers - die am 15. [April] erfolgte - habe ich Folgendes herausbekommen. Diese Geschichte haben mir Derek Sington, Offiziere und Mannschaften des Oxfordshire-Regiments erzählt.
Nachdem im Lager Typhus ausgebrochen war, wurde eine Waffenruhe vereinbart, so dass wir das Lager übernehmen konnten. Zunächst schlugen die Deutschen vor, wir sollten das Lager umgehen. Doch in der Zwischenzeit wären Abertausende Menschen gestorben oder erschossen worden. Wir wiesen diese Bedingungen zurück und forderten den Rückzug der Deutschen und die Entwaffnung der SS-Wachen.
Zurück blieben einige Dutzend SS-Männer und -Frauen unter dem Kommando von Hauptsturmführer Kramer, der in Auschwitz gewesen war. Man hatte ihnen offenbar allerlei Märchen über die Waffenruhe erzählt - dass sie weiter Wachdienst leisten könnten, dass wir sie freilassen würden usw. Tatsächlich hatten wir lediglich vereinbart, dass das Lager ein paar Tage lang eine neutrale Zone sein sollte, damit wir es übernehmen und verhindern konnten, dass die Insassen ausbrechen und den Typhus verbreiten. Sington (der großartige Arbeit geleistet hat) rückte mit einigen Lastwagen an - und traf mit Kramer zusammen, der ihn im Lager herumführte. Wo immer er hinkam, gab es Beifall und Hochrufe - die Leute brachen aus dem umzäunten Areal aus, um die britische Vorhut zu begrüßen.
Kramer erwartete offenbar, dass wir sein Verhalten als ganz normal hinnehmen. Er rechnete nicht damit, dass wir von dem Gesehenen schockiert waren. Er war derjenige gewesen, der in Auschwitz an den Öfen stand und diejenigen auswählte, die sofort verbrannt werden sollten.
Er beschrieb die Lagerinsassen als asoziale, antisoziale und verdreckte Leute. Er betrachtete sie offenbar als Vieh. Als wir auf das Gelände fuhren, feuerte die SS von ihren Wachtürmen aus auf die Menschen, die aus dem umzäunten Bereich ausbrachen, um auf ein Kartoffelfeld zu gelangen. Das wurde schnell unterbunden. Wir hatten zunächst nur eine Handvoll Männer dabei, und die SS blieb diese Nacht noch da. In der ersten Nacht der Freiheit kamen Hunderte Menschen vor Freude um.
Am nächsten Tag trafen einige Männer der Oxfordshire Yeomanry ein. Die Leute umringten sie und küssten ihre Hände und Füße und starben aus Entkräftung. Leichen in jedem Stadium der Verwesung lagen herum, zu Haufen übereinandergeschichtet. Es gab Leichen im Gelände und in den Lagerbaracken. Überall fielen Menschen tot um - Menschen wie wandelnde Skelette. Eine Frau trat zu dem Soldaten, der den Milchstand bewachte und Milch an Kinder ausgab, und bat um Milch für ihr Baby. Der Mann nahm das Baby und sah, dass es schon seit Tagen tot war - schwarz im Gesicht und eingeschrumpelt. Die Mutter bat weiter um Milch - also goss er etwas zwischen die toten Lippen. Daraufhin brabbelte die Mutter etwas, summte vor Freude - und trug das Baby triumphierend davon. Nach ein paar Metern stolperte sie und fiel tot zu Boden. Ich habe diese und einige andere Geschichten aufgenommen, erzählt von Männern, die sie miterlebt haben. Am 16. [April] wurden Kramer und die SS-Leute festgenommen und von unseren Leuten mit Stiefeln getreten und mit Gewehrkolben gründlich zusammengeschlagen. Kramer zog man aus und steckte ihn in der Offizierswohnung in die Eiskiste (zusammen mit stinkenden Fischen). Inzwischen ist er wieder draußen. Die übrigen Männer und Frauen wurden ständig bewacht (um sie vor den Insassen zu schützen). Die Männer wurden eingesetzt, um die Leichen auf Lastwagen zu hieven. Die Zahl der Leichen wird auf 35 000 geschätzt - das sind mehr als die etwa 30 000 Lebenden.
Die SS-Männer wurden [die Lagerstraßen] entlanggetrieben und gestoßen, und man zwang sie, auf der Ladung von Leichen sitzend mitzufahren und diese dann in die großen offenen Massengräber zu schaufeln. Sie waren so müde und kaputt, dass sie inmitten der Leichen erschöpft zusammenbrachen. Johlende Menschenmengen drängten sich um sie herum, und man musste sie streng bewacht halten. Zwei begingen Selbstmord in ihren Zellen. Zwei sprangen von den Lastwagen herunter, versuchten wegzurennen und in der Menge zu verschwinden. Sie wurden niedergeschossen. Einer sprang in ein Wasserbecken aus Beton und wurde von Kugeln durchsiebt. Der andere wurde mit einem Bauchschuss niedergestreckt und anschließend mit einer Maschinenpistole erledigt.
Die SS-Frauen müssen kochen und schwere Lasten schleppen. Eine von ihnen versuchte, Selbstmord zu begehen. Die Lagerinsassen sagen, dass sie grausamer und brutaler waren als die Männer. Sie sind alle jung - zwischen zwanzig und dreißig. Eine SS-Frau versuchte, sich als Gefangene verkleidet zu verstecken. Sie wurde verraten und festgenommen. Das Lager war so überfüllt, weil man die Menschen aus Osten und Westen hierher gebracht hatte. Einige wurden von Nordhausen hergebracht - eine Reise von 5 Tagen ohne Essen. Viele waren 2 bis 3 Tage lang marschiert. Im Lager gab es keinerlei Lebensmittel. Ein paar Häuflein Mangoldwurzeln inmitten der Leichenberge. Einige der Toten waren so hungrig gewesen, dass sie versucht hatten, sich der Mangoldwurzeln zu bemächtigen, obwohl die von SS-Männern bewacht wurden, und dabei sind sie dann erschossen worden. Es gab kein Wasser. Nichts außer diesen Wurzeln und ein paar stinkenden gekochten Karotten - das musste für einige Hundert Menschen reichen. Männer und Frauen hatten um rohe Mangoldwurzeln gekämpft. Die Körper von Toten - schwarz und blau und aufgedunsen - und Skelette hatten kranken Leuten als Kissen gedient. Am Tag nachdem wir [das Lager] übernommen hatten, sind sieben Blockleiter - die meisten davon Polen - von den Insassen ermordet worden. Einige schlugen die Leute immer noch. Wir verhafteten eine Frau, die eine andere mit einem Brett geschlagen hatte. Sie gab ihre Tat ganz offen zu. Wir verhaften solche Leute.
Vergraben im Boden wurde ein riesiges Depot entdeckt, mit Koffern voll persönlichem Schmuck und anderen Habseligkeiten.
Als ich im Lager ankam, 5 Tage nach der Befreiung - lagen noch immer überall Leichen herum. Ich habe etwa tausend gesehen. An einer Stelle waren Hunderte mit Bulldozern in ein Massengrab geschoben worden. An einer anderen legten ungarische Soldaten Leichen in ein 60 mal 60 Fuß großes und 30 Fuß tiefes Grab. Es war fast halb gefüllt. Weitere ähnliche Gruben wurden ausgehoben. 5000 Menschen sind gestorben, seitdem wir in das Lager gekommen sind. Menschen starben vor meinen Augen, kaum mehr Menschen ähnelnde Skelette, viele von ihnen wahnsinnig geworden. Die Leichen wurden einfach aufeinandergeworfen - zu wüsten und wirren Haufen. Viele hatten Schussverletzungen und schreckliche offene Wunden. Ein Engländer (der in Ostende gelebt hatte) mit einer großen Schusswunde auf dem Rücken wurde halbtot aufgefunden. Er konnte nur noch mühsam sprechen. Er hatte keine Ahnung, wann man auf ihn geschossen hatte. Er muss halb bewusstlos am Boden herumkrochen sein, als ein SS-Mann auf ihn geschossen hat. Das war nicht unüblich.
Ich schaute mir das ganze Lager an. Überall der Gestank des Todes. Nach ein paar Stunden gewöhnt man sich daran und nimmt ihn gar nicht mehr wahr. Die Menschen haben Typhus und Ruhr. In einem Teil des Lagers sah ich Frauen völlig nackt dastehen und sich waschen; gleich daneben Leichenhaufen; andere Frauen, die an Ruhr litten, erleichterten sich im Freien und stolperten dann in halbtotem Zustand zu ihren Baracken zurück. Einige lagen stöhnend am Boden. Ein Rückfall des Lebens in absolute Primitivität. Es war eine große Leistung, das Lager mit Wasser zu versorgen. Man hat es von außen hineingepumpt und mit Hilfe von Pferden überall im Lager verteilt; es gibt viele Ausgabestellen. Überall kommt jetzt sauberes Wasser aus Hähnen, und Wasserkarren fahren herum. Das RASC hat bei der Lieferung von Lebensmitteln ebenfalls Großartiges geleistet.
Ich ging in die Typhus-Station - vollgestopft mit Menschen, die in dreckigen Lumpen und Decken ächzend und stöhnend auf dem Boden lagen. An der Tür saß ein Tommy, der mit den Menschen sprach, sie aufmunterte - obwohl die nicht verstehen konnten, was er sagte - und Milch aus einem großen Kessel ausschenkte.
Ich suchte mir ein paar Frauen zusammen, die Englisch und Deutsch sprechen konnten, und begann Gespräche aufzunehmen. Erstaunlich ist dabei, wie viele es geschafft haben, sich sauber und gepflegt zu halten. Alle sagten, noch ein oder zwei Tage länger, und sie wären an Hunger und Schwäche zugrunde gegangen. Im Lager gibt es drei Kategorien von Menschen: die Gesunden, die sich einigermaßen halten konnten, wobei fast alle Typhus hatten. Sodann die Kranken, die mehr oder weniger von ihren Freunden betreut wurden. Und dann gibt es noch die riesige Schattenwelt all jener, die jede Selbstachtung verloren haben, die in Lumpen herumkriechen, in entsetzlichem Dreck leben, sich im Freien entleeren, häufig verrückt oder halb verrückt sind. Von den anderen Gefangenen werden sie die Muselmänner genannt. Sie sind es, die immer noch wie die Fliegen sterben. Sie können sich kaum auf den Beinen halten. Von ihnen sind Tausende nicht mehr zu retten - und wenn man es könnte, wären sie für den kurzen Rest ihres mitleiderregenden Lebens nutzlose, im Wahnsinn versunkene Invaliden.
Im Lager gibt es sehr viele Mädchen - meist Jüdinnen aus Auschwitz. Sie müssen, da sie überlebt haben, sehr gesund sein. Immer und immer wieder wurde mir dieselbe Geschichte erzählt - von den Appellschlangen, aus denen man die Leute willkürlich herausholte, für die Gaskammern und für die Krematorien, in denen viele lebendig verbrannt wurden. Nur Personen, die kerngesund waren, konnten überleben. Leben und Tod waren reine Glückssache. Ich unterhielt mich mit zwei schönen Schwestern - Anita und Renate Lasker, Nichten des Schachspielers Lasker. Renate wäre in Auschwitz fast an Typhus gestorben. Als die Aufsicht kam, mussten alle aufstehen - wer das nicht konnte, kam auf die Todesliste. Renate konnte nicht stehen. Ihr Name wurde aufgeschrieben. Da sagte sie: „Ich bin die Schwester von einem der Mädchen, die im Orchester spielen.“ -„Oh, das ist dann in Ordnung.“ Und ihr Name wurde durchgestrichen. Andernfalls wäre sie innerhalb einer Stunde tot gewesen. Nur wer im Orchester spielte oder etwas Ähnliches machte, hatte eine gewisse Überlebenschance.
In Auschwitz musste das Orchester auf der Bahnstation spielen, wenn die neuen Häftlingstransporte ankamen, und während des Appells, wenn diejenigen selektiert wurden, die vergast und verbrannt werden sollten. In Auschwitz gab es auch einen grauenerregenden Luxus. Reiche Juden kamen mit ihrer Habe an und konnten einiges davon behalten. Da gab es Seife und Parfüm und Füllfederhalter und Uhren. All dies inmitten eines jederzeit möglichen willkürlichen Todes; inmitten von Arbeitseinsätzen, von denen die Menschen so erschöpft zurückkehrten, dass sie, falls sie überlebten, beim nächsten Appell ganz sicher für die Gaskammer bestimmt wurden. All das inmitten von Tod, Dreck und Elend, wie man es sich schrecklicher nicht vorstellen konnte. Leute in Auschwitz wurden gerettet, indem man sie zu Arbeitseinsätzen aus Städten wie Hamburg anforderte, von wo man sie dann nach Belsen zurückbrachte, als wir vorrückten.
In Auschwitz hatte man jeder Frau den Kopf radikal kahlgeschoren - bei vielen zweimal. Mir sind schöne junge Mädchen begegnet, deren Haar ein Inch lang war. Alle hatten ihre Nummern auf den linken Arm eintätowiert. Ein Ehrenzeichen, das sie ihr ganzes Leben lang tragen werden.
Zu den ungewöhnlichsten Erscheinungen gehörten die Frauen und Männer (von denen es nur wenige gibt), die sich ordentlich und sauber gehalten haben. Am 5. Tag hatten viele Puder und Lippenstift aufgetragen. Die SS-Läden waren geplündert und Stiefel und Kleider gefunden worden.
Hunderte von Leuten brachten mir Briefe, die ich an mich genommen habe und die ich nach London weitersende, damit sie in alle Welt verschickt werden. Viele haben sämtliche Verwandten verloren. „Mein Vater und meine Mutter wurden verbrannt“, „Meine Schwester wurde verbrannt“ - solche Aussagen hört man ständig. Die britische Armee tut, was sie kann. Einheiten geben freiwillig Decken ab - während meines Aufenthalts dort trafen 50 000 ein, die jetzt gewaschen werden. Es werden Süßigkeiten, Schokolade und Zigarettenrationen gespendet. Während ich dort war, traf von der Militärregierung ein langer Konvoi mit 240 000 Portionen Trockenproviant ein - eine 4-Tage-Reserve an Biskuits, Schokolade, Büchsenfleisch usw.
An diesem ersten Tag nahm ich ein Interview mit den Lasker-Schwestern auf. Beide hatten französischen Soldaten geholfen, über die Grenze zu gehen. Ich interviewte auch Charlotte Grund, eine Frau aus Berlin, und einen Holländer.
Ich traf den Militärrabbiner bei der 2. Armee, und wir zeichneten die erste abendliche Sabbatfeier auf, die im Lager abgehalten wurde.
An jenem Abend ging ich mit Derek Sington, dem politischen Offizier, zum Lager zurück. Er führte mich zu dem Frauenblock am gegenüberliegenden Ende des Lagers. Wir unterhielten uns eine Weile mit einer Gruppe polnischer Frauen. Sie wollten etwas über Jalta und das Lubliner Komitee erfahren. Sie wollen alle nach Palästina gehen.
Dann sprachen wir mit einer hübschen Französin von 24 Jahren. Sie ist von der Gestapo geschlagen worden und hat mehrere Jahre in Konzentrationslagern verbracht. Sie war im Widerstand aktiv gewesen. Wir unterhielten uns im Freien [zwischen den Baracken], In der Mitte befand sich ein Haufen aus Altpapier und Skeletten. Um uns herum lagen Leichen von Leuten, die in den letzten 3 Tagen verstorben waren. Überall lagen stöhnende und delirierende Frauen. Und alle paar Minuten stolperte eine stöhnende typhuskranke Frau heraus und erleichterte sich im Freien.
Wo die französische Frau schlief, gab es 10 gesunde und 50 kranke und sterbende Menschen. Sie erzählte uns, was sie gesehen hatte: wie Leichen auf Befehl der Deutschen von den noch Lebenden mit Seilen über den Boden weggeschleift wurden. Ihre Schädel waren geöffnet, die Leute hatten das Hirn herausgeschnitten, um es zu essen. Im Lager war es zu Kannibalismus gekommen. Man hatte Fleisch, Gehirn und Leber von Leuten gegessen, die an Typhus gestorben waren.
Ich schenkte dieser Frau die gute Fliegeruhr, die man mir in Braunschweig gegeben hatte.
Samstag. 21. April
Ich ging früh ins Lager. Wir zeichneten einen weiteren jüdischen Gottesdienst auf, den Sabbat-Morgen-Gottesdienst. Die Leute hatten dem Padre zum Willkommen einen kleinen glasierten Kuchen gemacht. Und als ich eintrat, sangen sie Shalom Aleichem. Während der Thora-Lesung und dem traditionellen Totengebet brachen überall Frauen und Männer in Tränen aus und weinten ganz offen. Wir waren in einer Holzhütte zusammengepfercht, die Leute standen an den Wänden.
Dann nahm ich einige Ansprachen in verschiedenen Sprachen auf.
Dann versammelten wir das Orchester. Ihre Instrumente hatten sie sich von der alten Lagerkapelle besorgt. Einige von ihnen spielten sehr gut. Sie liebten alten Jazz und spielten Melodien wie „I can’t give you anything but love“. „Alexander’s Ragtime Band“ sangen sie auf Englisch. Eine Frau, die Violine gespielt hatte, brach in Tränen aus, als wir ihr die Aufnahme vorspielten: „Ich konnte immer spielen. Ich habe vor großem Publikum gespielt. Aber ich habe vergessen, wie man spielt.“
Als wir durch das Lager gingen, kam eine Frau auf uns zu und bat um eine Zigarette. „Ich gebe Ihnen dafür Brot“ - und sie zeigte mir den Brotlaib. Dann gingen wir zu der Kinderbaracke. Davor ein Haufen von Leichen, den wegzuschaffen noch keine Zeit gewesen war. Wir stellten eine Gruppe russischer Mädchen von 12 bis 14 [Jahren] zusammen und eine von holländischen Jungen und Mädchen im Alter von 9 bis 15 Jahren. Sie sangen Lieder. Die russischen Kinder waren sehr eindrucksvoll - saubere, ziemlich große Kinder. Bei all dem Hunger rundum waren sie phantastisch versorgt worden. Sie sangen die Lieder, die sie aus der Zeit vor ihrer Gefangenschaft in Erinnerung hatten. Sie machten jetzt einen glücklichen Eindruck.
Die holländischen Kinder waren seit langer Zeit im Lager und waren sehr mager und bleich. Wir standen im Freien inmitten von Kiefern und Birken, mit dem Rücken zu den Leichen - direkt neben dem Stacheldrahtzaun, der das Lager umgibt.
Später unterhielt ich mich mit einem holländischen Mädchen, der 15-jährigen Hetty Werkendam, und mit ihrem jüngeren Bruder. Sie sind seit 14 Monaten im Lager. Ihr Vater und ihre Mutter hatten in den Werkstätten gearbeitet (wo die Leute zur Eile angetrieben und geschlagen wurden und scharenweise starben). Ihre Mutter musste um drei Uhr aufstehen, um zu versuchen, für ihren Mann etwas zu essen zu bekommen, während dieser bei der Arbeit war. Eines Tages ist der Vater mit einem Schal um den Hals zur Arbeit gegangen. Der diensthabende SS-Mann hat, einfach so zum Spaß, die Enden des Schals gepackt und ihn halb erdrosselt. Die Erzählungen des kleinen Mädchens nahmen kein Ende.
„Einmal musste mein Vater“, sagte sie, „bitte entschuldigen Sie meine Sprache - in der Scheißhausgrube arbeiten. Bis zu den Armen stand er in der Scheiße und schaufelte sie raus - ich habe ihn gesehen, als er von der Arbeit kam.“
Ihre Mutter und ihr Vater sind etwa einen Monat zuvor weggebracht worden. Wann immer sie einen Offizier sahen, fragten sie: „Wie können wir herausfinden, wo unsere Eltern sind?“ Das kleine Mädchen sagte: „Wenn ich jemals diese SS-Männer wiedersehe, werde ich sie mit meinen eigenen Händen töten. Sie ließen uns zum Appell antreten -Kinder von drei fahren aufwärts - stundenlang und im Schnee.“
Ich nahm auch ein Interview mit einem russischen Mädchen auf, Olga Schlochberg, 14 fahre. Man hatte ihre beiden Eltern umgebracht. Sie war ein stämmiges, aufgewecktes Ding und hatte etwas Deutsch gelernt. Inzwischen war es spät geworden - etwa acht und es begann zu dunkeln. Ich kam dann zu den Zellen, in denen die SS-Männer und -Frauen untergebracht waren. Sie waren so erschöpft, dass man ihnen eine kleine Ruhepause gegönnt hatte - damit man mehr Arbeit aus ihnen herausholen konnte -, und sie waren jetzt nur zu viert in einer Zelle statt zu zwölft. Als wir die Zellentür aufmachten, mühten sie sich alle strammzustehen. Sie waren jetzt in besserer Gemütsverfassung.
Ich holte einen von ihnen heraus - einen blonden, schmalgesichtigen Mann von 35 Jahren; um uns herum lauter bewaffnete Wachen. Sie beschimpften die Männer und ließen sie springen. Ich herrschte den Mann sehr grob an und ließ ihn dabei strammstehen. Ich erklärte ihm, er habe kaum Chancen, der Hinrichtung als Kriegsverbrecher zu entgehen. Aber er könne uns helfen, und das könnte dann vielleicht ihm helfen. Ich wollte ihn interviewen, und er sollte beschreiben, was er in dem Lager, in dem er gewesen war, gesehen hatte. Ich schickte ihn in die Zelle zurück, damit er über die Sache nachdenken konnte. Ich rief einen anderen heraus, der sich als ein Rumäne herausstellte. Ich fluchte und schickte ihn zurück.
Dann rief ich einen Arzt heraus, der in übler Verfassung war. Seine Hand war blutig und sein Hemd zerrissen, und es sah so aus, als sei einer seiner Arme gebrochen. Er war Arzt in Auschwitz gewesen. Er erzählte, er habe die Insassen betreut. Tatsächlich hat er Experimente an Frauen, missgebildeten Menschen und Zwillingen durchgeführt. Er war für mich nicht zu gebrauchen: Also sagte ich ihm, er habe nicht mehr lange zu leben, und schickte ihn zurück. Dann rief ich den ersten Mann wieder heraus. Er war bereit zu sprechen, er bat nur darum, seine Aussage etwas weiter weg machen zu können, damit seine Kameraden ihn nicht hören konnten. Wir brachten ihn nach draußen. Und ich nahm das Interview auf. Dann ging ich in die Frauenzelle und holte rein zufällig die Aufseherin heraus, die alle Wachen unter sich gehabt hatte - eine Frau von 24 Jahren. Sie war verstockt, sah unreif aus, mit einem harten, brutalen Mund. Ich ließ sie strammstehen und sagte ihr zunächst, sie sei eine Kriegsverbrecherin, ihre Uniform sei eine Schande - und stellte ihr dann Fragen. Sie war in Auschwitz gewesen und dort mit der Leitung eines Lagers betraut gewesen. Es war ein Musterlager, sagte sie - Kinos usw. Ich lachte laut auf. „Und wir sollen glauben, die SS habe Geld für Juden ausgegeben?“ Sie behauptete weiter, sie sei bei den Gefangenen beliebt gewesen. - „Wenn wir Sie hier draußen allein lassen würden, ohne den Schutz diese Männer, würden sie keine 2 Minuten überleben. Sehen Sie sich um, wir müssen Wachleute dabeihaben, um Sie zu schützen.“ Sie gab zu, dass sie geholfen hatte, in Auschwitz die Frauen auszuwählen, die vergast werden sollten. - „Sie wissen, dass jeder Gefangene hier sagt, die SS-Frauen seien sogar noch grausamer gewesen als die Männer.“
„Das ist nicht wahr.“
„Wie viele Frauen haben Sie selbst geschlagen? Hatten Sie eine Peitsche?“
„Ich hatte nie eine Peitsche in der Hand.“
„Na gut, abgesehen von Ihnen, der leuchtenden Ausnahme, die so gütig und so beliebt war - wie viele Frauen haben die anderen SS-Frauen geschlagen?“
„Ich will nicht lügen. Wenn Frauen es verdient hatten, habe ich sie geschlagen - aber nur mit der Hand.“
Sie meinte, viele Frauen in diesem Lager würden ihr freundliches Verhalten bestätigen. „Nennen Sie mir einen einzigen Gefangenen in diesem Lager, egal wen, und ich werde ihn holen lassen.“
Keine Antwort. Sie sagte, sie habe viele Zeuginnen in einem anderen Lager, in dem sie gewesen war.
Ich gab ihr Stift und Papier und forderte sie auf, alle Namen aufzuschreiben. Sie dachte eine Weile nach und sagte dann: „Das ist nicht gut. Das ganze Lager wird mir recht geben.“ Also ließ ich sie den Namen des Lagers aufschreiben.
„Sie wissen, dass Sie eine Kriegsverbrecherin sind, und Kriegsverbrecher werden vor Gericht gestellt und erschossen. Sie haben eine sehr kleine Chance, noch lange am Leben zu bleiben.“
„Das ist mir klar. Ich gehe nicht davon aus, dass ich noch ein Jahr zu leben habe.“ Langes Schweigen.
„Es gibt etwas, womit Sie uns vielleicht helfen könnten. Und wenn Sie uns helfen, könnte das womöglich Ihnen helfen.“
Und dann fügte ich hinzu, dass ich ihre Beschreibung des Lagers aufnehmen will. Dann begann eine lange Debatte, in der sie versuchte, Fragen auszuweichen, indem sie mir Fragen stellte.
Einmal sagte sie: „Wenn ich nicht tue, was Sie wollen, werdet ihr mich erschießen. Wenn ich es tue, werden mich meine eigenen Leute erschießen.“
„Mein Gott, Ihre Seite existiert nicht mehr. Wissen Sie, wie viel von Deutschland wir besetzt haben? Leipzig, Regensburg, Frankfurt an der Oder, Vororte von Berlin.“
Ich bat einen der Soldaten um eine Zeitung. Er reichte mir eine 4 Tage alte, und ich zeigte sie ihr. Sie studierte sie lange. Die Wirkung war ersichtlich. Dann begann sie zu flehen, man solle ihr noch etwas Zeit zum Überlegen geben.
„Fünf Minuten.“
„Könnte ich morgen früh reden? Meine Stimme ist schwach und heiser. Ich bin so aufgeregt.“
„Sie müssen jetzt reden oder gar nicht. Ich kann eine andere Frau finden, die redet, dann werde ich Sie nicht brauchen. Wenn Sie tun, was ich will, können Sie eine Zigarette haben.“
Dann schickte ich einen der Soldaten nach einem Glas Wasser. Und ich ließ sie sich hinsetzen. Sie hatte die ganze Zeit gestanden, etwa eine halbe Stunde. Jetzt bettelte sie vor allem, ihr Zeit bis zum Morgen zu geben.
„Ich bin immer noch ein Mensch.“
„Möglicherweise. “
„Ich bin ein Mensch, und ich spreche zu Ihnen als ein Mensch. Sie sind der Stärkere, und wir sind die Schwächeren. Ich bin eine Frau.“
Dann sagte sie, sie habe gehört, wir hätten Konzentrationslager in England. Ich wurde sehr wütend und erzählte ihr, wie wir unsere Deutschen und unsere Faschisten behandelt haben. Dann fragte sie mich, welche Dinge sie zu nennen hätte.
„Ihren Namen. Ihr Alter. Ihren Dienst in der SS. Ihre Beschreibung von Zuständen in diesem Lager.“
„Aber das würde alle meine Kollegen hier belasten.“
„Die sind bereits vollständig belastet, Sie können meinetwegen alle höheren SS-Leute beschuldigen.“
„Ich möchte keine anderen Namen erwähnen. Muss ich meinen eigenen Namen erwähnen?“
„Natürlich.“
Dann begann sie hysterisch zu werden. Sie trank von dem Wasser und schaute auf die Zigarette, die ich vor ihr hingelegt hatte. Sie griff sich immer wieder an den Kopf und sagte: Was soll ich nur tun?
„Ich war schon bei vielen Verhören dabei, und ich weiß, dass es nicht gut für mich sein wird, egal was ich tue.“
„Es könnte gut für Sie sein, aber ich mache keine Versprechungen. Mir ist es vollkommen egal, ob Sie es sind, die redet, oder irgendeine andere Frau. Ein Mann hat mir schon was erzählt.“
„Das kann ich mir gut vorstellen.“
Sie war viel mutiger, als es der Mann gewesen war. Sie sah mir ständig in die Augen. Manchmal verzog sie ihren Mund zu einem trotzigen, brutalen Strich. Wahrscheinlich rechnete sie damit, geschlagen zu werden. Dann wurde ich auf einmal sehr entschieden. „Innerhalb 1 Minute müssen Sie mit Ja oder Nein antworten.“
Ich setzte meine Stoppuhr in Gang.
„Setzen Sie mir keine zeitliche Frist.“
„Na gut.“
(Ich hielt meine Uhr an.)
„Aber ich muss die Antwort schnell haben. Wenn Sie nicht antworten, werde ich das als Nein auffassen. Sie werden in Ihre Zelle zurückgehen, und ich werde jemand anderen holen.“ Sie griff sich wieder an den Kopf und nippte am Wasserglas.
„Werden Sie mir nur die Fragen stellen, die Sie genannt haben?“
„Ja. Werden Sie reden oder nicht?“
Ein langes Schweigen. Dann:
„Ja, wenn Sie mir nur diese Fragen stellen.“
Also holte ich mein Mikro, und sie bestritt ihr Interview, wobei sie die Fragen mit leiser, angespannter Stimme beantwortete. Am Schluss gab ich ihr die Zigarette. Dann sagte sie:
„Jetzt werden Sie mich wohl schlagen.“
„Wir tun das nicht.“
„Darf ich meine Zigarette rauchen, bevor ich in meine Zelle zurückgehe?“
„Sie dürfen.“
Und ich ging hinaus.
In Belsen wurden Menschen vier Stunden lang an ihren hinter dem Rücken zusammengebundenen Armen aufgehängt. In den Werkstätten wurde pausenlos geprügelt, hier gab es viele Tote.
Kurz vor meiner Abreise wurde ein Krematorium entdeckt.
Als ich das Lager verließ, wurde ich entlaust und der Aufnahmewagen auch.
Eine Geschichte, die mir Helen ... erzählt hat, eine Tschechoslowakin:
Als man den Frauen die Möglichkeit eröffnete, woanders hinzugehen und in der ersten Gefahrenzone zu arbeiten, etwa in Hamburg, stellte man Mütter mit Kindern gleichsam vor die Wahl zwischen ihrem Leben und ihren Kindern. Kinder konnten nicht mitgenommen werden. Viele zogen es vor, bei ihren kleinen Kindern zu bleiben und dem sicheren Tod entgegenzugehen. Einige entschlossen sich, ihre Kinder zurückzulassen. Doch unter den 6 Jahre alten Kindern sprach sich herum, dass man sie, wenn sie zurückgelassen wurden, sofort vergasen würde.
Zwischen den Kindern und ihren Müttern kam es zu schrecklichen Szenen. Ein Kind war so aufgebracht, dass es, obwohl die Mutter es sich anders überlegte und am Ende blieb, nicht mehr mit ihr sprach.
In jener Nacht, als ich etwa um 11 Uhr total erledigt zurückkam, traf ich noch einmal den jüdischen Padre, und wir unterhielten uns, bevor er zu Bett ging. Plötzlich brach er völlig zusammen und brach in lautes Schluchzen aus.