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Chronik und Quellen
1945
März 1945

Arbeit im jüdischen Krankenhaus Berlin

Eine britische Jüdin berichtet nach ihrem Austausch im März 1945 über ihre Arbeit im Jüdischen Krankenhaus in Berlin:

Beobachtungen einer englischen Jüdin in Deutschland 1943/1945 (Vertraulicher Bericht) Die folgenden Beobachtungen stammen von einer jüdischen Engländerin, die, weil sie [die] englische Staatsangehörigkeit besaß, von den Nazis nicht angetastet wurde, sondern sogar noch am 3.3.45 ausgetauscht wurde. Da sie Jüdin war, unterlag sie nicht der üblichen Internierung feindlicher Zivilgefangener, sondern stand unter Aufsicht der Gestapo, die für sie verantwortlich war.

Sie berichtet: Am 12. April 1943 kam ich in das Berliner Jüdische Krankenhaus, Iranische Str. Das Krankenhaus wurde von dem früheren Ober-Medizinalrat Dr. Lustig geleitet. Lustig hatte gleichzeitig verschiedene Arbeiten zu erledigen, die ihn sozusagen zum Nachfolger des Präsidenten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland machten. Er wurde daher im Scherz „König der Juden“ genannt. Er war mit einer arischen Ärztin verheiratet, die in München wohnte, aber Erlaubnis erhielt, ihn zu besuchen. Der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses hieß Neumann, stand in der Mitte der 40er, stammte aus der Prov. Posen und war früher im Kaufhaus des Westens in Berlin angestellt. Bis 1945, mindestens bis zu dem Termin, wo die Berichterstatterin Deutschland verließ, konnten Neumann und seine Frau, eine polnische Jüdin, im Krankenhaus arbeiten. Allerdings besaß er ein Zertifikat für die Ausreise nach Palästina. Auch ein Inspektor namens Kaskel, ebenfalls Mitte der Vierziger, war dort noch tätig, und seine wie Neumanns Frau arbeiteten in der Küche.

Ferner waren noch März 1945 die folgenden Ärzte im Jüdischen Krankenhaus tätig: Dr. Hellmuth Cohen, Chefarzt, etwa 40 Jahre, wahrscheinlich aus Zossen bei Berlin. Er lahmte etwas. Dr. Wolffsohn, verheiratet, wahrscheinlich aus Berlin, etwa 40 Jahre alt. Dr. Elkan (mit Mutter), etwa 30 Jahre alt. Ferner ein jüdischer Zahntechniker, verheiratet, etwa 50 Jahre alt, namens Schapski. Schließlich ein Sekretär der Verwaltung, Zwilski, Mitte 40, wahrscheinlich aus Königsberg/Pr.

Die Insassen des Jüd. Krankenhauses bestanden im wesentlichen aus Leuten, die nicht transportfähig waren, um nach Polen abgeschoben zu werden. Der letzte große Transport nach Polen oder Theresienstadt fand im Juni 1943 statt. Durch Umfrage wurde festgestellt, wer arisch versippt war oder wer Ausländer war. Nur diese Kategorien wurden nicht abtransportiert. Vor Juni 1943 fand Ende Februar die Festnahme aller in Berliner Betrieben jeder Art tätigen Juden statt. Die über 70 Jahre alten kamen gewöhnlich nach Theresienstadt. Die anderen wurden nach Polen befördert. Das Sammellager für diese Transporte war das frühere Altersheim der jüd. Gemeinde, Große Hamburger Str. Um sicherzustellen, daß kein Jude dem Abtransport entging, wurden diejenigen, die nicht in den Betrieben verhaftet werden konnten oder nicht in Betrieben tätig waren, durch die Gestapo bei der Erneuerung der Lebensmittelkarten verhaftet und dann wie üblich abtransportiert. Sehr merkwürdig wurde auch mit den ausländischen Juden verfahren, die einem mit Deutschland verbündeten Staate angehörten. Wollten diese nicht bis zum 1.4.43 in den betr. Staat zurückgehen, oder lehnte ihre Regierung ab, sie zurückzunehmen, so wurden sie ab 1.4.43 als deutsche Juden behandelt, d.h. entweder nach Polen oder Theresienstadt verschickt.

Trotzdem gelang es natürlich immer noch Juden, sich dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Die Gestapo beschäftigte daher einige jüdische Helfer und Helferinnen, deren Aufgabe es war, solche verborgenen Juden und Jüdinnen aufzuspüren und sie der Gestapo auszuliefem. Die Berichterstatterin ist nicht in der Lage, eine Liste dieser „Greifer“, wie sie die Juden nannten, herzustellen. Sie betont aber, daß Dr. Lustig die meisten, wenn nicht alle, dieser kennen müßte. Sie nennt zwei Namen: einen namens Kahn, etwa Mitte 20, und einen namens Goldstein, der ebenfalls in jungen Jahren war. Sie behauptet ferner, daß auch eine hübsche Jüdin in diesem schmutzigen Dienste tätig war, die sogar über Handschellen verfügte. Sie schätzt die Zahl der „Greifer“, die nur in Berlin tätig waren, auf etwa 15-20.

Im Juni 1943 wurden auch Kranke, darunter Schwerkranke, von Berlin abtransportiert, und zwar nach Theresienstadt. Die Zahl dieser Kranken allein betrug etwa 170. Sie wurden in Möbelwagen zum Bahnhof gebracht. Während sich bis zu diesem Termin im Krankenhaus etwa 60-70 jüdische Schwestern befanden, mußten etwa 30-40 davon die Transporte im Juni 1943 sowohl nach Ther. wie nach Polen begleiten.

Die Bedeutung des jüd. Krankenhauses Berlin stieg dadurch, daß im Juni 1943 die jüdischen Krankenhäuser Köln, Hamburg etc. aufgelöst und alle Insassen nach Berlin überführt wurden. Die Verpflegungs- und Behandlungskosten betrugen damals RM 7,- für die allgemeine Klasse und RM 17,- für die erste Klasse pro Tag.

Nach den großen Transporten im Juni 1943 hatte das Krankenhaus zwei Aufgaben:

I) diente es als Krankenhaus für a) jüd. Abkommen aus Mischehen, d. h. für Kinder aus Mischehen, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten; b) für Mischlinge, d. h. Abkömmlinge aus einer Mischehe, die aber in der christlichen Religion oder als Religionslose erzogen waren, oder aber für Mischlinge, das sind Kinder mit einem jüdischen Großelternteil und einem jüdischen Glaubens-Elternteil.

II) Als Unterkunftsort für bestimmte Kategorien der soeben aufgeführten sog. „Geltungsjuden“.

In der Aktion im Februar 1943, in der die Juden aus den Betrieben heraus nach Ther. oder Polen abtransportiert wurden, wurden die „Geltungsjuden“ nicht nach Polen oder Ther. abtransportiert. Sie wurden sämtlich zunächst nach der Rosenstr. in Berlin, dem früheren Gemeindegebäude, gebracht, wohin mittlerweile auch die Geltungsjuden aus dem Reiche, z. B. aus Köln etc., überführt worden waren. Sie wurden dann zu schwerer Arbeit eingeteilt. Sie durften bei ihren Eltern dann wohnen, wenn solche vorhanden waren. Waren die Eltern nicht in Berlin oder verstorben etc., so mußten die Geltungsjuden im jüd. Krankenhaus Iranische Str. wohnen. Sie hatten in der Außenarbeit normale Arbeitszeiten unter Beschränkungen auf vorgeschriebene Übernachtungszeiten in der Iranischen Str.

Die Rassenauffassung der Nazis führte, wie auch anderswo, zu den merkwürdigsten Ergebnissen und Aktionen: Es kam vor, dass die sog. Geltungs-Jüdinnen (d. h. die Töchter aus Mischehen, die aber weiter zur jüd. Religion gehörten), uneheliche Kinder zur Welt brachten. Sie wurden sofort nach Polen abtransportiert, wenn sie bekannten, daß der Vater Nichtarier war. Deshalb gaben sie regelmäßig an, der Vater sei ihnen unbekannt. Daraufhin nahm die Gestapo an, der Vater sei „Arier“, und Mutter und Kind wurden nicht deportiert.

Die „Geltungsjuden“ versuchten ständig, ohne den vorgeschriebenen Judenstern sich auf der Straße zu zeigen. Wurden sie dabei ertappt, so wurde regelmäßig eine Gefängnisstrafe von 56 Tagen verhängt. Im Wiederholungsfälle wurde die Strafe erheblich verlängert.

Die Mischlinge, also Kinder aus christlichen oder religionslosen Misch-Ehen oder Kinder mit einem jüdischen Großeltern- und einem jüd. Glaubenselternteil konnten völlig frei mit allen Rechten der Arier leben. Im Jahre 1941 aber wurde ihnen verboten, Universitäten, Hochschulen und höhere Schulen zu besuchen. Am Ende 1944 wurden diese Mischlinge aus den Stellen, in denen sie arbeiteten, geholt und zu schwerer Kriegsarbeit (Organisation Todt) verpflichtet.

Die oberste Leitung der Gestapo, die sich mit diesen Juden- und Mischlingsangelegenheiten befaßte, befand sich in der Kurfürstenstraße in dem ehem. Brüdervereinshaus. Dort wirkte auch ein Brunner aus Wien. Ob dieser mit dem berüchtigten Kaltenbrun-ner aus Wien, der von den alliierten Armeen bereits verhaftet ist, identisch ist, ist zweifelhaft. Eine weitere Stelle der Gestapo befand sich in der Gr. Hamburger Str. im früheren Altersheim der jüd. Gemeinde. Diese unterstand der Kurfürstenstraße. Dort, in der Gr. Hamburger Str., wurden die Transporte zusammengestellt. Die Oberleitung Gr. Hamburger Str. hatte ein Oberscharführer Doberkel, der als verhältnismäßig anständig geschildert wird. Er war etwa 25 Jahre alt. Das Deportationslager wurde Anfang 1944 nach der Iranischen Str. verlegt. Es unterstand dem gen. Doberkel. Ein jüdischer Lagerleiter namens Reschke, Mitte der 40, und ein jüd. Stellvertreter namens Franz Meyer wirkten dort. Beide werden als anständig und mutig beschrieben und haben alles getan, um den Abzutransportierenden das Leben zu erleichtern. Die Transporte nach dem Osten oder nach Ther. fanden durchschnittlich alle zwei Wochen statt. Die Größe der Transporte war verschieden. Für Transporte nach Polen oder nach Ther. waren übrigens auch jüdische Teile aus Mischehen bestimmt, wenn der arische Teil verstarb oder sich scheiden ließ. Solche Tatsachen hatten unmittelbare Deportation zur Folge.

Streng vertraulich!

Die folgenden Angaben über einzelne Persönlichkeiten, die die Berichterstatterin freiwillig machte, können nicht eher öffentlich verwendet werden, wenn sie nicht noch von anderer Seite bestätigt oder wenn die Betreffenden dazu Stellung genommen haben:

1. Sie behauptet, daß Dr. Lustig eine Reihe von Liebesverhältnissen mit den jüdischen Schwestern hatte und daß seine Gunst nur durch körperliche Hingabe zu erkaufen gewesen sei. Sie behauptet ferner, daß Lustig u. a. ein Verhältnis mit der Schwester Elli von der Kinderstation gehabt habe und daß diese Schwester im Febr. 1944 ein Liebesverhältnis zu dem gen. SS-Oberführer Doberkel auch eingegangen sei. Dr. Lustig ist auch in London nicht unbekannt. Er war 1934 an der Lehrer-Bildungsanstalt der jüd. Gemeinde für Biologie etc. tätig. Schon damals sollen Beschwerden über ihn, insbesondere über die zynische Art seiner Vorträge, erhoben worden sein. Jedenfalls verdient der Fall Lustig unbedingt eine Untersuchung. Es muß insbesondere festgestellt werden, ob er von seiner Pflicht, Kranke oder Gesundende als transportfähig für Polen auszuschreiben, einen Gebrauch gemacht hat, den er menschlich rechtfertigen kann.

Es wird ferner von der Berichterstatterin behauptet, daß der genannte Neumann Insassen geschlagen habe.

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