Wiedergutmachung nach Kriegsende
Im „Aufbau“ erläutert Siegfried Moses am 15. Dezember 1944, wie nach dem Krieg Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht werden sollen:
Im Rahmen der War Emergency Conference des World Jewish Congress in Atlantic City haben die Wiedergutmachungsfragen eine besondere Rolle gespielt. Zum ersten Mal hat eine Tagung, an der Vertreter der Juden aller wichtigen Länder teilnahmen, sich mit diesem Fragenkreis beschäftigt, und wir dürfen feststellen, daß das Ergebnis der Beratungen eine bedeutsame Etappe in unserem Kampf um eine gerechte Wiedergutmachungsregelung bildet.
Die Resolution, mit der die Verhandlungen abgeschlossen wurden, gipfelt in einer Anzahl von Forderungen, die sich in erster Reihe an die alliierten Nationen, zugleich aber auch an die Weltjudenheit richten. Gegenstand der Verhandlungen waren sowohl die individuellen Ansprüche von Juden, die durch Nazideutschland geschädigt worden sind, als auch die Ansprüche der jüdischen Gemeinden und sonstigen Institutionen sowie schließlich - und keineswegs in letzter Reihe - der kollektive Anspruch des jüdischen Volkes als Ganzes: Die Konferenz hat sich so gleichermaßen von denjenigen distanziert, die nur individuelle Ansprüche berücksichtigt haben wollen, und von denjenigen, die sich vorstellen, daß die Ansprüche der jüdischen Individuen „kollektivisiert“ werden, d. h. in einem Gesamtanspruch des jüdischen Volkes aufgehen sollen.
Die Verwirklichung der individuellen Ansprüche soll dadurch gesichert werden, daß für die Grundsätze, nach denen die Wiedergutmachung erfolgen soll, Richtlinien festgesetzt werden, die in allen beteiligten Ländern zur Anwendung kommen sollen. Praktisch soll so erreicht werden, daß die geschädigten Juden nicht etwa nur auf dem Papier Entschädigungsansprüche zugesprochen erhalten, sondern daß auch die Realisierung dieser Ansprüche gesichert wird. Vor allem und in erster Reihe sollen selbstverständlich Deutschland und seine Verbündeten für die Wiedergutmachung der jüdischen Schäden haftbar sein. Die Regierungen der früher besetzten Länder sollen verpflichtet werden, die Entschädigung der Juden in gleichem Ausmaß und in gleicher Weise zu sichern, wie das gegenüber den Bürgern ihres Landes, die sich in der gleichen Lage befinden, geschieht. Die alliierten Nationen sollen nicht nur ihren Bürgern, sondern auch allen „residents“ bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche helfen und ihnen insoweit vollen Schutz gewähren; die Entscheidung über die Ansprüche soll durch Sondergerichte erfolgen, die die alliierten Nationen schaffen.
Die jüdische Gesamtheit soll in zwiefacher Weise bei der Verwendung der Entschädigungen, die erlangbar sind, berücksichtigt werden. Von besonderer Wichtigkeit ist, daß das jüdische Volk Reparationen zur teilweisen Wiedergutmachung der allgemeinen Schäden, die es erlitten hat, erhalten soll; diese Reparationen sollen dazu dienen, den Aufbau Palästinas als jüdisches Nationalheim zu erleichtern. Daneben aber sollen allenthalben „Jewish Reconstruction Bodies“ geschaffen werden, die aus einer internationalen Reconstruction Commission und je einer Reconstruction Commission in den beteiligten Ländern bestehen sollen. Diesen Reconstruction Bodies soll das Eigentum an allen Vermögenswerten zufallen, die nicht mehr bestehenden jüdischen Gemeinden und Institutionen oder nicht mehr lebenden jüdischen Familien gehören. Die Gelder, die auf diese Weise erlangt werden, sollen dazu verwendet werden, den europäischen Juden und ihren Gemeinden in jeder erforderlichen Weise zu helfen und - auf dem Wege über die Jewish Agency for Pales-tine - die Entwicklung Palästinas als ein Jewish Commonwealth zu fördern. Eine weitere Aufgabe von besonderer Wichtigkeit, die den „reconstruction bodies“ zugewiesen ist, besteht darin, daß sie sich systematisch mit allen Fragen beschäftigen sollen, die mit den Wiedergutmachungs-Forderungen des jüdischen Volkes, der jüdischen Körperschaften und der jüdischen Individuen Zusammenhängen. Wenn es gelingt, die „reconstruction bodies“ zu schaffen und ihre Anerkennung durch die alliierten Nationen durchzusetzen, so kann die internationale „reconstruction commission“ zu einer „Keimzelle für die Gesamtrepräsentanz des jüdischen Volkes“
werden, die wir zur Verwirklichung der Wiedergutmachungsforderungen so dringend brauchen: für das Stadium des politischen Kampfs um unsere Rechte und für das Stadium der Durchsetzung unserer Ansprüche, das schneller herankommen mag, als manche von uns glauben.
Es kann sehr wohl sein, daß die Periode des Waffenstillstands bereits darüber entscheidet, in welchem Ausmaß die jüdischen Wiedergutmachungs-Forderungen realisiert werden können. Deshalb kann die Funktion, die die Konferenz des Weltkongresses erfüllt hat, ihren vollen Sinn vor allem dann erlangen, wenn die Beschlüsse der Konferenz als Ausgangspunkt für die baldige Schaffung einer Gesamtrepräsentanz des jüdischen Volkes dienen. In dieser Gesamtrepräsentanz werden auch die Organisationen der Juden, die aus Deutschland ausgewandert sind, entsprechend ihrer besonderen Vertrautheit mit den einschlägigen Fragen und vor allem entsprechend ihrem besonderen Interesse an dem für sie wichtigen Lebenskreis mitzuarbeiten haben.
Der Raum, der hier zur Verfügung steht, reicht nicht aus, um eingehend zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Aussichten dafür bestehen, daß die von uns geforderte Wiedergutmachungsregelung real und praktisch wird. Manche neigen zu der Meinung, unsere Aussichten seien so schlecht, daß es wenig Sinn hat, sich mit diesen Fragen intensiv zu beschäftigen. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir uns durch einen Pessimismus dieser Art in unserer politischen Aktivität lähmen ließen: Wir haben Grund anzunehmen, daß es eine Chance nur gibt, wenn wir uns um ihre Verwirklichung auf das intensivste bemühen. Im übrigen ist aber die negative Beurteilung unserer Chancen auch sachlich unberechtigt, denn das Ausmaß, in dem eine Wiedergutmachung erfolgen kann, ist zwar zweifelhaft, es ist aber auf der anderen Seite sehr unwahrscheinlich, daß es überhaupt keine Wiedergutmachung geben wird. Von den befreiten Ländern erwarten wir, daß sie den Juden im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Wiedergutmachung garantieren werden. Was Deutschland selbst anbe-trifft, so ist noch nicht vorauszusehen, inwieweit ein besiegtes Deutschland zu Wiedergutmachungsleistungen an die Juden, denen unmittelbare Ansprüche gegen Deutschland zustehen, und an das jüdische Volk imstande sein wird. Es gibt aber immerhin gewisse Quellen für eine Wiedergutmachung, die mit einiger Sicherheit zur Verfügung stehen werden, weil sie nicht von der Nachkriegs-Leistungsfähigkeit Deutschlands abhängen. Ich erwähne in diesem Zusammenhang besonders die Bestände an Gütern aller Art, die beim Kriegsende in Deutschland vorhanden sein werden; auch nach dem vorigen Weltkrieg bildeten diese Bestände den Ausgangspunkt für deutsche Reparationsleistungen. Eine andere Quelle für Wiedergutmachungsleistungen, die von dem Zustand, in dem Deutschland sich nach Beendigung des Krieges befinden wird, nicht abhängig ist, bildet das deutsche Auslandsvermögen.