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Chronik und Quellen
1944
Oktober 1944

Alltag in Bergen-Belsen

Lilly Zielenziger schildert am 9. Oktober 1944 in ihrem Tagebuch den Alltag und die Atmosphäre in Bergen-Belsen:

Papas Geburtstag.

Ganz allein begehe ich diesen Tag. Wie oft standen wir alle drei mit Mama am Grabe, um seiner zu gedenken. Dann ohne Mama. Dann tauschten wir alle drei zu diesem Tage Briefe. Seit beinahe 2 Jahren weiß ich nichts mehr von Wallys Verbleiben, seit % Jahr bin ich von Lony ohne Wissen, seit fast 3 Monaten hier ganz allein. Wie ist es möglich, daß man es erträgt?

Nur die Atmosphäre von Bergen-Belsen kann dafür eine Erklärung geben, diese Monotonie von Warten auf Essen, auf Appell etc.

Heute 5 Stunden Quarantäne-Bad! Dazu der ständige Lärm, der mir höchstens des Nachts Distanz zu mir selbst gibt.

Gestern war ein ganz trister Oktober-Sonntag; dazu kamen Aufrufe für Leute, die heute verlegt wurden. Alles spielt sich ja hier viel schlagartiger als in Westerbork ab, da keine Antragsstelle existiert.

Da oft abends jetzt schon sehr früh das Licht wegen Luftalarm ausgedreht wird, so ziehe ich mich schon um 7 Uhr gleich nach dem Essen aus, um bequemer ins Bett zu kommen. So auch gestern, nachdem ich mit Pfifferlings gemeinsam gegessen hatte. Wir hatten voller Heroismus 3 Kartoffeln aufgehoben, um sie abends zu braten, und mit ihrem Esbit und meiner Butter war es für uns ein Festessen, danach noch Fischpaste, Harzer Käse, den wir jetzt öfters erhalten, und als Dessert eine Scheibe Weißbrot mit Jam:

So unterhielt ich mich gerade im Morgenrock noch nach diesem Essen mit einer Bettnachbarin über Musik, als deren Mann uns aufforderte, in die Griechenbaracke 21 zu einem Konzert zu kommen, was wir sofort gerne taten. Und es war wirklich ein Erlebnis: Pim würde sagen: „Shot“.

Eine ungarische Geigerin spielte Sarasate und später Wiener Lieder, eine Holländerin sang Hallelujah und Boheme, ein Sänger ebenfalls Bohème.

Dies alles in einer schmutzigen Baracke mit der Elite des Lagers, die einst bei Mengelberg oder Furtwängler Zuhörer in dem entsprechenden Dress war. Verhungerte, Geschlagene, Vertriebene, die dankbar diese Stunde zu genießen imstande sind, und andererseits Menschen, die auf ihre Deportation ihre Geige mitnehmen.

Nur ein Zeichenstift kann diese Impressionen wiedergeben.

Welch eine Stärke:

Wie sagt Stephan Zweig im Jeremias: „Unsterblicher Geist“.

Er hat von Ägypten bis China, von Platon bis Shakespeare, von Goethe bis Dostojewski alles überdauert.

Und die Eroica erklang, als der Belerophon schon in See stach, um ihren Helden für immer zu entführen!

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