Bericht über untergetauchte Juden in Berlin
Ein Bericht für den Jüdischen Weltkongress schildert am 4. August 1944 die Lage der untergetauchten Juden und die Zerstörungen in Berlin:
In der Iranischen Straße 2, Berlin NW 35, ein früheres jüdisches Krankenhaus, ist die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland untergebracht. Es arbeiten dort noch einige Beamte. Im Haus selbst befindet sich die Gestapo, der die Reichsvereinigung untersteht. Außerdem ist ein jüdisches Spital, in dem jüdische Kranke, die noch im Reich leben dürfen, gepflegt werden, dort eingerichtet. In diesem Spital sind einige Ärzte sowie Krankenschwestern.
In der Iranischen Straße ist auch die Zentrale des von der Gestapo unterhaltenen jüdischen Spitzeldienstes. Einigen Juden ist bewilligt, ohne Judenstern durch die Straßen zu gehen und nach versteckten, verkleideten oder aber mit falschen Papieren versehenen Juden Ausschau zu halten. Diese Streifen ziehen durch die Straßen der Stadt und suchen nach Bekannten. Treffen sie mit dem einen oder anderen zusammen, so zeigen sie sich sehr erfreut, aber in der nächsten Stunde oder spätestens am nächsten Tag sind die Opfer bereits von der Gestapo abgeholt und in die Iranische Straße verbracht, wo auch ein Lager sich befindet und wo Transporte zusammengestellt werden - der letzte ca. Ende Mai - und wenn je einige 100 Leute zusammen sind, nach Theresienstadt abgefertigt werden. Die 3-4000 versteckten Juden in Berlin sind größtenteils mit anderen Papieren versehen, hausen teils in den Ruinen der ausgebombten Häuser, teils sind sie von Ariern versteckt. Lebensmittel erhalten sie nur im Schleichweg oder im Schwarzhandel und müssen dafür hohe Preise zahlen: 1 Pf. Kaffee kostet 350-400 M[ark], 1 Pf. Tee bis 500 M, ein Pf. Butter 78-80 M, für ein Stück gute Seife zahlt man 40 M oder gibt 40 Zigaretten. Zucker ist billig, 1 Pf. kostet höchstens 15 M.
Es ist erlaubt, Freunden, Verwandten, Juden wie Nicht-Juden, Pakete nach Theresienstadt zu senden. Diese Pakete enthalten größtenteils Haferflocken, Gerstenmehl, Erbsmehl, Kartoffeln, kurzum, unrationierte Produkte. Dagegen Fleisch, Fett, Butter können nicht geschickt werden. Produkte, die aus dem Ausland nach Berlin kommen, können nach Theresienstadt weitergeschickt werden, und so gehen vor allem Sardinen aus Deutschland jeden Monat zu vielen hunderten Paketen nach Theresienstadt. Die Pakete werden direkt an die Aufgeber bestätigt.
Aus Theresienstadt sind Berichte da, daß die Verpflegung sehr mäßig ist, d. h. daß die rationierten Gegenstände, die Juden im Reich beziehen dürfen, in Theresienstadt zugewiesen werden, aber diese rationierten Gegenstände enthalten weder Fleisch noch Fisch noch Eier noch Konserven noch Fett, weder Obst noch Konfitüren, kurzum, es sind alle die Produkte, die durch den seinerzeitigen Erlaß für Juden zum Kauf verboten wurden, auch in Theresienstadt nicht zugelassen.
Berlin selbst ist sehr stark mitgenommen, das Gebiet um das Tempelhofer Feld ist nahezu vollkommen vernichtet, desgleichen die Gegend um das Regierungsviertel, wo nur noch einige kleine Bauten stehen. Vollkommen zerstört sind die Warenhäuser Tietz, Wertheimer, KDW, das Hotel Kaiserhof und der angrenzende Platz Bahnhof Friedrichstraße, und zerstört sind die Friedrichstraße mit den angrenzenden Straßen; der Tiergarten ist wie viele angrenzende Häuser durch Luftminen beschädigt, die Bäume sind ihrer Baumkronen beraubt, und man sieht nur Baumstämme, die 3, 4 bis 8 Meter in die Luft ragen. Desgleichen sind die Häuser vielfach bis in den ersten Stock wegrasiert. Diese Luftminen, die außerordentlich gefürchtet sind und von englischen Schnellbombern gebracht werden, zerstören im Umkreis von 300 m alles. Sie explodieren in einer Höhe von 8-20 m. Fensterauslagen sieht man gar keine mehr, und es wird auch kein Spiegelglas für die Verglasung der Auslagenfenster ausgeteilt, für Wohnfenster nur für die inneren Fenster, dagegen werden für die äußeren Fenster keine Gläser mehr geliefert. Der Kurfürstendamm bis zur Bleibtreustraße ist stellenweise ebenfalls ausgebrannt. Das Polizeipräsidium ist in seinem Hauptflügel zusammengestürzt. Der Kaiserdamm ist ebenfalls stark mitgenommen, die Schönhauser Allee ebenfalls. Zu bemerken ist, daß der Schutt nach den Bombardements nur an die Seite geschaufelt wird, daß vielfach bis zum ersten Stock ganze Einrichtungen und Vorräte unter den Trümmern begraben sind und daß durch die großen Schuttanhäufungen eine außerordentliche Zunahme von Ratten und Ungeziefer zu verzeichnen ist. Es ist auch bemerkenswert, daß bei weitem nicht alle Verschütteten gerettet werden können und Häuser oder Straßenzüge 2-3 Tage gebrannt haben. Nach 6-7tägigen Bemühungen müssen die Rettungsarbeiten manchmal aufgegeben werden. Es kommt vor, daß die mit den Rettungsarbeiten Beschäftigten mit Horchgeräten arbeiten müssen und daß man oftmals Menschenklopfen innerhalb der Schutthaufen feststellen konnte, aber die Menschen selbst nicht retten konnte.
In Oranienburg ist der Sitz der SS und befindet sich ein Konzentrationslager, das bereits vor dem Krieg bestand, das mit Wachtürmen, Maschinengewehren umgeben ist und das des Nachts mit Kugelreflektoren taghell beleuchtet ist. In diesem Konzentrationslager befinden sich größtenteils politische Gefangene, darunter auch zahlreiche ausländische Arbeiter, die wegen irgendwelchen Schmähungen, geringfügiger Meinungsäußerungen dorthin verbracht wurden.
Äußerst gefährlich ist es, in Berlin in den Straßenbahnen, Untergrundbahnen, Autobussen nach Bombardierungen zu fahren, da zu diesem Zeitpunkt die Hitlerjugend als Spitzel arbeitet und in den Verkehrsmitteln irgendwelche mißmutigen Äußerungen auffängt und die Betreffenden arretieren läßt. Man sagt, daß in Berlin im Plötzensee-Gefängnis 400 Personen täglich wegen Feindbegünstigung oder Verbreitung falscher Gerüchte erschossen werden. Darunter befinden sich zahlreiche ausländische Arbeiter.
Es ist noch zu erwähnen, daß nach den Bombardierungen die Straßen zuallererst geräumt werden und daß der Verkehr sowohl auf der Untergrundbahn wie mit der Straßenbahn und Autobussen sofort nach der Bombardierung wieder aufgenommen wird. Die Trottoirs bleiben vielfach verschüttet. Dagegen sind die Verkehrsmittel oft eine Stunde nach einem Bombardement wieder intakt. Es werden vielfach auf allen wichtigen Linien Sonderautobusse eingestellt. Übrigens ist jeder Autofahrer verpflichtet, Leute, die zur Arbeit gehen und die ihm ein Zeichen geben, daß sie mitfahren wollen, mitzunehmen.
Ein großer Teil der von den Juden konfiszierten Wohnungen steht heute noch leer. Es hat viele Monate gedauert, bis die Einrichtungsgegenstände sowie Wäsche aus den Wohnungen geräumt wurden. Die Gegenstände sollen angeblich den Bombengeschädigten ausgefolgt worden sein. Gewißheit darüber besteht nicht. Tatsache ist, daß die Bombengeschädigten nach einer Bombardierung Anweisungen für Kleider und dergleichen erhalten, daß aber mit diesen Gutscheinen keine Waren zu bekommen sind.
Nach dem Bericht sollen auch in anderen Städten, wie in Leipzig, vereinzelt Juden noch wohnen, die irgendwie für die Wirtschaft von Bedeutung sind. Auch im Reich sollen in den verschiedenen Städten noch Juden versteckt sein; über die Anzahl ist nichts bekannt. Die Reichsvereinigung unterhält heute noch in einzelnen Gebieten des Reichs Betreuungsstellen zur Betreuung, sei es von nicht deportierten Juden, sei es von B-Juden.