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Chronik und Quellen
1944
November 1944

„Mischlinge“ in Baubataillonen

Erich Alenfeld berichtet am 13. November 1944 in einem Brief über den Einsatz von nichtjüdischen Ehepartnern und von „Mischlingen“ in Baubataillonen:

Liebe Anneliese!

Ich danke Dir herzlichst für Deine warmgehaltenen Glückwünsche zu meinem Geburtstage sowie für die verschiedenen Lebensmittel, die Du mir zukommen ließest. Das ist wirklich sehr freundlich. Ich werde auch alles zu mir nehmen, denn ich weiß leider selber, wie stark ich im letzten Jahre abgefallen bin. Unaufhaltsam ist dieser Schrumpfungsprozess vor sich gegangen, obwohl ich nicht an einer ernstlichen Krankheit leide, es sind allein die Nerven, die streiken und das Futter nicht richtig verwerten. Der Druck der letzten Jahre war hart und die noch zunehmende Unsicherheit bezüglich der Zukunft lastet schwer auf mir. Die Dinge haben in den letzten Wochen eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen. Vor kürzerer Zeit ist es zwischen Himmler und Speer zu heftigen Kontroversen wegen dieses einen Sektors der Bevölkerung gekommen. Himmler hat gesiegt. Irgendwelche wirtschaftlichen Überlegungen sind beiseite geschoben. Auf Grund eines Befehls des Reichsführers SS und des Ersatzheeres sind alle Arier, die jüdisch versippt sind, und alle Mischlinge I aus staatspolitischen und Polizeisicherungsgründen zur Organisation Todt für Baubataillone eingezogen worden. Reklamationen sind nicht zu berücksichtigen. Personen, die infolge Krankheit nicht geeignet sind für Baubataillone, sind zu körperlicher Arbeit heranzuziehen, in gleicher Weise zu gemeinschaftlicher körperlicher Arbeit die weiblichen Mischlinge I und die jüdisch versippten arischen Frauen. Das Einziehen der Männer ist in vollem Gange. Es gibt zwei sogenannte Aktionen: Aktion Mitte und Aktion Hase. Zu ersterer sind, soweit man sehen kann, die älteren Jahrgänge gekommen. Sie sollen nach Thüringen gekommen sein, zum Bauen von Fabriken, angeblich unterirdischen Werkstätten in verlassenen Gipsbergwerken. Die jüngeren Kräfte sind nach Holland zum Schanzen gekommen. Männer über 65 Jahren sind nach Hause geschickt worden. Bei Männern über 60 Jahren sind ärztliche Zeugnisse wohlwollend berücksichtigt worden. Sonst gilt das Obengesagte. Da man von früheren Aktionen wußte, daß ein großer Teil der betreffenden Personen in leitenden Stellungen in der Wirtschaft beschäftigt ist, so hat man fast alle Reklamationen abgelehnt. Die wirtschaftlichen Stellen: Gauwirtschaftskammer und Rüstungskommando sind ausgeschaltet. Allein die politischen Stellen: Reichssicherungshauptamt für Juden, die sogenannte Kurfürstenstr., hat zu befinden. So ist es denn gekommen, daß Bankdirektoren, Chemiker, Ärzte, Rechtsanwälte mit den Baubataillonen davonfuhren, daß ein Ingenieur, Konstrukteur in einem großen Werk, jetzt als Arbeiter bei einem Essigwerk fungiert, weil er für das Baubataillon zu krank ist. Tausende sind gemustert, andere sind noch hier; angeblich soll eine Pause eingetreten sein. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit traut keiner dieser Pause. Was nun mich und meine Schicksalsgenossen betrifft, so steht nichts fest. Ein Gerücht besagte, daß auch wir zu Baubataillonen zusammengefasst werden sollten. Andere behaupten das Gegenteil. Die Juden sollten dienstverpflichtet werden und am Wohnort bleiben. Da die meisten bereits dienstverpflichtet sind, so würde dies an dem bestehenden Zustand nichts ändern. Doch kann man dies nie wissen. Die gleiche Ungewissheit herrscht wegen der geplanten Heranziehung der Frauen, die jüdisch versippt sind. Gelten für diese die allgemeinen Bestimmungen wegen des Alters und wegen der Kinder oder wird man darüber hinwegsehen? Wer weiß es? Daß diese Ungewissheit die Nerven belastet, wirst Du Dir vorstellen können. Wenn Du noch hinzunimmst, daß immer wieder Gerüchte aufkommen, daß wir, d. h. die Mischehen, kaserniert werden sollen, dann hast Du ein Bild, wie der Krieg für uns im 6. Jahr aussieht. Dazu treten die allgemeinen Nöte, denen alle Zeitgenossen unterworfen sind. Darüber ist nichts weiter zu sagen, denn jeder von uns kennt diese Nöte, und jeder hat seinen Anteil daran. Genug davon.

Abgesehen von den Sorgen um Zukünftiges geht es uns gut. Wir leben friedlich miteinander und genießen die Kinder in vollen Zügen. Ich bin zum Heizer, Stiefelputzer, Geschirrwäscher und Hauslehrer geworden. Mit Justus treibe ich schon seit Jahren Griechisch und Lateinisch, jetzt ist Reni dazugekommen. Mit ihr arbeite ich Englisch. Sie stellt sich klug an und ist enorm fleißig. Sie hat bald die obere Stufe erreicht und findet das Lob ihrer Lehrerin. Ich habe die Genugtuung, daß ich für beide Kinder die Grundlagen der Bildung geschaffen habe, was auch kommen mag. Für Justus wird der März kritisch, da dann mit Beginn des 15. Lebensjahres die Volksschulpflicht erfüllt ist und laut geltenden Bestimmungen er dann die höhere Schule verlassen muß. Es ist sehr die Frage, ob bis dahin der Krieg beendet ist. Aber auch wenn es nicht der Fall sein wird, so werden wir einen Rat finden - sofern man uns in Ruhe läßt. Sabine schafft die Arbeit ohne Irma, sie findet sogar Zeit zum Geigen. Als ich heute nach Hause kam, spielte sie „horribile dictu“ grade, anstatt die Fenster zu putzen. So hat man seinen Ärger mit dem Personal. Bliebe alles, wie es ist, wir wären zufrieden.

Ich freue mich zu hören, daß Eure engere Heimat bisher noch gut davongekommen ist. Im Rheinland muß es böse aussehen. Mich wundert, daß sie Wetzlar nicht mehr angreifen. Erstens wegen der Fabriken und zweitens wegen der alten Heerstraße durchs Lahntal. Hoffen wir, daß es nicht nachgeholt wird. Übrigens hat Reni sich bei den Alarmen und Störangriffen mutig und ruhig gezeigt. Möge es so bleiben, wenn eines Tages wieder Großangriffe erfolgen. Wir haben ja glücklicherweise schon längere Zeit keinen Großangriff gehabt, was keiner bedauert.

Ich danke Dir nochmals aufs herzlichste für Deine Anteilnahme und Fürsorge. Ich bitte, Deinen Mann und die Kinder vielmals zu grüßen, und bin mit herzlichen Grüßen Dein jetzt wirklich alter

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