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Chronik und Quellen
1943
November 1943

Lebensbedingungen vor Deportation aus Berlin

In einem Bericht für den Joint vom 30. November 1943 schildert ein Flüchtling die Lebensumstände der Juden in Berlin vor ihrer Deportation:

Seit April oder Mai gibt es in Berlin keine Juden mehr. Zu diesem Zeitpunkt wurde die „Gemeinde“ aufgelöst und ihre Angelegenheiten wurden von der „Gestapo“ übernommen.

Halbjuden, die sogenannten „Geltungsjuden“ und Kinder aus gemischten Ehen sind in Berlin verblieben und tragen den gelben Stern.

Mein Informant vermutet, dass in Berlin ungefähr 5000 Juden versteckt leben, die „getauchte Juden“ genannt werden.

Das Jüdische Krankenhaus in der Iranischen Straße ist noch für die „Geltungsjuden“ in Betrieb, und einige wenige jüdische Ärzte und Krankenschwestern sowie „Geltungsjuden“ sind dort angestellt. Das jüdische Personal wird jedoch mehr und mehr dafür verwendet, Transporte nach Theresienstadt zu begleiten, und bleibt anschließend dort. Bis November 1941 besaßen die Juden in Berlin nur ihre „Kennkarte“ mit dem berühmten „J“, und die meisten von ihnen arbeiteten in den unterschiedlichsten Rüstungsbetrieben. Kurz nach Ausbruch des Krieges wurden Juden zwischen 16 und 60 Jahren gezwungen, in diesen Fabriken zu arbeiten, völlig unabhängig von ihrer vorherigen Ausbildung und Beschäftigung. Oft machten sie 25 Prozent der Arbeiter einer solchen Fabrik aus. Sie wurden von Vorarbeitern angeleitet und überwacht, die ihrerseits vom „Jüdischen Arbeitsamt“, das zu diesem Zeitpunkt als eine Abteilung der Gestapo fungierte, geleitet und überwacht wurden.

Die Lebensmittelkarten der Juden waren mit einem „J“ gestempelt, und es war ihnen nur zu bestimmten Uhrzeiten gestattet, ihre Rationen zu erhalten. Sie waren vom Besitz von „Kleiderkarten“ oder „Berliner Vorzugsausweisen“ ausgeschlossen, die offensichtlich eine Art Punktesystem waren, über das zusätzliche Rationen, Zucker oder andere Lebensmittel verteilt wurden.

Im September 1941 wurde der gelbe Stern obligatorisch eingeführt, und zum gleichen Zeitpunkt musste die „Gemeinde“ Fragebögen an bestimmte jüdische Menschen verschicken, auf denen diese ihren gesamten Besitz - Möbel, Kleidung, Bettzeug, Wäsche, Porzellan usw. - auflisten mussten. Die Versendung dieser Fragebögen folgte keinem erkennbaren System, doch es stellte sich später heraus, dass die Personen, die sie bekommen hatten, für die ersten Transporte von Deportierten aus Berlin selektiert wurden. Diese Leute wurden am Donnerstag, dem 13. Oktober, abends in ihren Wohnungen festgenommen, grob behandelt und zum örtlichen „Polizeirevier“ gebracht. Ihnen wurde nur eine halbe Stunde zugestanden, um sich (in Anwesenheit der Polizei) anzukleiden, bereitzumachen und einen kleinen Koffer mit dem, was immer sie einpacken konnten, mitzunehmen. Am nächsten Morgen wurden sie in die Synagoge Levetzowstraße gebracht. Der gesamte Bereich wurde von der Gestapo überwacht, und es war weder Verwandten noch anderen Juden gestattet, sie zu sehen. Es gab keinen Hinweis darauf, was mit ihnen geschehen würde. Die „Gemeinde“ versorgte sie mit einer heißen Mahlzeit und belegten Broten. Am Samstag, zur Mittagszeit, wurden 1500 Juden in Lastwagen zum „Verladebahnhof Grunewald“ transportiert.

Die Mutter meines Informanten, die unter diesen ersten 1500 Juden war, war eine wohlhabende Jüdin, die in der Nähe des Bahnhofs Charlottenburg wohnte. Es gelang ihr, aus Lodz einen Brief zu schreiben, und sie erhielt bis zum März 1942 Geld und Pakete. Danach kam ein Brief mit dem Vermerk „Unbekannt verzogen“ zurück. Ihre Wohnung war am Abend ihres Abtransports versiegelt worden. Zwei jüdische Männer, die bei ihr Zimmer gemietet hatten, wurden zur gleichen Zeit weggebracht.

Anfang November wurden alle Möbel, Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände öffentlich versteigert. Juden im Allgemeinen und nichtjüdische Freunde von Bewohnern solcher Wohnungen durften daran weder teilnehmen noch etwas kaufen.

Mein Informant berichtete, dass viele nichtjüdische Deutsche dieses Verhalten gegenüber den Juden, besonders die Deportationen, ablehnten, aber nicht wagten, irgendetwas zu tun. Und wenn jemand - mit solch einer Szene konfrontiert - vor Aufregung seine Missbilligung zum Ausdruck brachte, sei er sofort verhaftet und in ein Konzentrationslager gesteckt worden.

Solche Massenverhaftungen von ein paar Tausend Juden und ihr Abtransport nach Osten wiederholten sich häufig und liefen fast immer nach dem gleichen Muster ab. Sie wurden in den Abendstunden abgeholt - seit Kriegsbeginn galt für Juden eine Ausgangssperre, von acht Uhr abends bis in die Morgenstunden, wenn sie zur Arbeit gehen mussten -, verbrachten die erste Nacht im örtlichen „Polizeirevier“, wurden in der Synagoge Levetzowstraße gesammelt, blieben dort eineinhalb Tage und wurden dann zum Verladebahnhof Grunewald gebracht.

Mein Informant berichtet, dass die Schäden, die Berlin, insbesondere der Südwesten -Zehlendorf, Wilmersdorf, Lankwitz, Dahlem, Schöneberg, Kaiserallee, Prager Platz, Bayerischer Platz -, durch britische Bombardierungen im August erlitten hat, beträchtlich sind. Die deutsche Bevölkerung leidet, aber Hitlers Ansehen scheint immer noch sehr hoch zu sein. Die Bevölkerung wünscht, der Krieg möge vorbei sein, aber viele glauben, dass ihr Leid und das Leid ihrer Söhne in der Armee im Falle einer Kapitulation umsonst gewesen wäre. Und sie haben Angst vor den Russen.

Mein Informant berichtet, dass sich die Befreiung Mussolinis positiv auf die Moral der Deutschen ausgewirkt habe.

Die Juden, die in den Fabriken arbeiten, werden durch Arbeiter aus den besetzten Gebieten ersetzt, die sie in die Arbeit einweisen. Selbst hochqualifizierte Spezialisten können von ihren Firmen nicht vor der Deportation bewahrt werden, obwohl dies oft versucht wird.

Die Arbeiter, die hart und lange arbeiten müssen, leiden nach Ansicht meines Informanten unter Hunger. Es existiert ein stark besuchter Schwarzmarkt. Die Lebenshaltungskosten haben sich, was die Rationen angeht, um 30 Prozent erhöht; für Schwarzmarktartikel werden aber enorme Summen verlangt und auch bezahlt, so kosten 500 Gramm Butter 80 Mark (der Preis für dieselbe Menge auf Lebensmittelkarte beträgt 3,6 RM) und 500 Gramm Kaffee 300 Mark.

Zwischen der deutschen Bevölkerung und den Arbeitern aus den besetzten Gebieten gibt es viel Streit. Polen, die keine Deutschen werden wollen und die entweder auf bis 1919 zu Deutschland gehörigen oder auf Territorien, die Hitler dem Reich einverleibt hat, lebten und die keine deutsche Staatsangehörigkeit beantragt haben, werden extra mit einem „P“ gekennzeichnet und bekommen die schlechtesten Jobs. Viele Deutsche fragen sich - wenn auch nicht öffentlich -, warum die Juden deportiert und durch Fremdarbeiter ersetzt werden mussten, und es scheint, dass diese - mehr als die Juden - als üble Elemente betrachtet werden.

Diese Haltung scheint unter den älteren Deutschen allgemein verbreitet zu sein, kann aber nicht auf die jüngeren Generationen, die unter dem Nazismus aufgewachsen sind, übertragen werden. Im August wurde die „Reichsvertretung“ von der Gestapo übernommen. Zu diesem Zeitpunkt war das Viertel rund um die Kantstraße und den Zoo noch nicht durch Bombenangriffe zerstört worden, und die Schließung der „Reichsvertretung“ kann in keiner Weise auf äußere Umstände zurückgeführt werden.

Mein Informant ist der Meinung, dass Theresienstadt zum Zentrum der jüdischen Deportierten im Alter von über 60 oder 65 Jahren gemacht worden ist und dass die vergleichsweise wenigen jungen Leute, die sich dort als Ärzte, Krankenschwestern etc. aufhalten, Ausnahmen sind. Zusätzlich zu diesen werden auch jüngere Leute, „Kriegsverletzte“ aus dem letzten Krieg, nach Theresienstadt deportiert, anstatt in den Osten verschickt zu werden.

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