Pressebericht über Deportation und Ermordung
Am 8. November 1943 druckt „The New York Times“ folgenden Artikel über die nahezu vollständige Deportation der Juden aus Österreich und ihre Ermordung:
Die Deutschen löschen die Juden Österreichs aus. Fast alle der ursprünglich 200 000 Juden wurden ermordet oder in Gettos im Osten verschleppt. Die Gefängnisse sind voll. Die Sabotage nimmt weiter zu und findet bei Fremdarbeitern große Unterstützung.
London, 7. November (U. P.) - Die Deutschen haben Österreichs 200 000 Juden durch Vernichtung oder Deportation fast vollständig ausgelöscht. Die Gefängnisse und Konzentrationslager sind voll von Österreichern, die gegen die Deutschen sind. Trotzdem nehmen die Sabotageaktivitäten - unterstützt von den Fremdarbeitern - weiter zu. Die Österreicher sind sich im Allgemeinen bewusst, dass Deutschland dabei ist, den Krieg zu verlieren.
Durch österreichische Untergrundkanäle gelangten heute weitere Berichte nach London, die ein genaueres Bild von der Lage im Land zeichnen. Den Berichten zufolge ermorden die Deutschen seit zwei Jahren die österreichischen Juden oder verschleppen sie in Gettos in Osteuropa. Fast alle 150 000 Wiener Juden sind verschwunden.
Wenn noch ab und an ein Jude auf einer Straße in Wien auftaucht, so ist er dünn, unterernährt, trägt zerschlissene Kleidung und löchrige Schuhe, und immer ist auf der linken Brusttasche ein großer gelber Davidstern angenäht, auf dem „Jude“ steht. Juden werden um Mitternacht oder in den frühen Morgenstunden verhaftet. Grüne Polizeilaster bringen sie zu einer leeren Synagoge, die als Durchgangsstation genutzt wird, wo sie eng zusammengepfercht auf aneinandergereihten Strohsäcken auf dem Steinfußboden übernachten müssen. Dann werden die Juden in Viehwaggons oder alten, unbeheizten Personenwagen in die Gettos von Ostpolen, Lettland oder dem besetzten Russland verschleppt. Berichten zufolge sterben viele bereits unterwegs oder kurz nach der Ankunft. Wohnungen und Geschäfte, die zuvor von Juden genutzt wurden, sind von Deutschen übernommen worden, die - wie es heißt - von den Wienern „weiße Juden“ genannt werden. Ein zuverlässiger Informant berichtete, dass die Österreicher, die die Verfolgung der Juden zuvor vergleichsweise apathisch hingenommen hätten, von dem Ergebnis nun so entsetzt seien, dass sie den verbliebenen Juden trotz der damit verbundenen Gefahren so weit wie möglich helfen würden.
Die beträchtliche Zunahme an Hinrichtungen von Österreichern in letzter Zeit ist Berichten zufolge zum größten Teil auf Sabotage und andere antideutsche Aktivitäten zurückzuführen, die vor allem von österreichischen Arbeitern ausgeübt werden. Die von Deutschen kontrollierte Presse veröffentlicht nur einen kleinen Teil der Namen der Hingerichteten, vor allem zur Abschreckung. Meldungen dieser Art erwähnen als Gründe Sabotage, Spionage oder das Hören und Weiterverbreiten ausländischer Radionachrichten.
Informanten zufolge wurden mehrere neue Konzentrationslager errichtet, um die bestehenden zu entlasten, die von Häftlingen überquellen, denen antideutsche Aktivitäten vorgeworfen werden. Die berüchtigten deutschen „Volksgerichtshöfe“ treten täglich zusammen, um gegen Verdächtige Verfahren durchzuführen. Berichten zufolge wurden vor kurzem in Graz in einem einzigen Verfahren allein sechzig Personen verurteilt und vierzig von ihnen hingerichtet.
Österreichische Sozialisten berichten, dass trotz ständiger Überwachung durch die Gestapo und trotz erbarmungsloser Strafen die Sabotageaktivitäten generell zunehmen, unterstützt von Hunderttausenden von Fremdarbeitern. Informanten zufolge ist jedoch im Augenblick kaum damit zu rechnen, dass es zu einer wirklich flächendeckenden Sabotage kommt, weil bereits der leiseste Verdacht die Verhaftung und das Verschwinden der betreffenden Person zur Folge hat. Verwandten oder Freunden gelingt es nur selten, etwas über das Schicksal der Verschwundenen in Erfahrung zu bringen.
Viele Österreicher hören Informanten zufolge nun ausländische Radioprogramme, insbesondere Sendungen der BBC. „Kein Wiener oder Österreicher glaubt noch an Hitlers Sieg“, ließ ein Informant verlauten. „Der Nazi-Presse und dem Nazi-Rundfunk wird nicht mehr geglaubt. Die Österreicher beziehen ihre Informationen trotz aller Strafandrohungen von britischen Sendern. Und die Leute verfügen über ein erstklassiges System der wechselseitigen Weitergabe von Informationen.“