Pressbericht überantijüdische Maßnahmen
Das „Israelitisches Wochenblatt“ druckt am 5. November 1943 folgenden Artikel über die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz und die antijüdischen deutschen Maßnahmen:
Das letzte deutsche Judengesetz
Der Erlaß einer 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die am 1. Juli 1943 veröffentlicht, aber in der Schweiz erst unlängst bekannt wurde, wonach „Straftaten von Juden“ gleich durch die Polizei geahndet werden sollen und gar nicht mehr vor die Gerichte gelangen, hat wohl zunächst Erstaunen darüber ausgelöst, daß ein solches Gesetz heute noch für erforderlich gehalten wird, nachdem, wenigstens nach den Zeitungsberichten, Deutschland bereits von den Juden gesäubert ist und sich kaum noch eine nennenswerte Zahl dort aufhalten kann. Aber ganz abgesehen davon muß es dem Kenner der Verhältnisse auffallen, daß die maßgebenden Stellen überhaupt noch eine gesetzliche Regelung von Fragen für nötig gehalten haben, die in der Praxis längst ohne Gesetz im Sinne dieser Regelung gelöst worden waren. Es bedurfte freilich der einschneidenden Veränderung in der Lage der deutschen Juden durch die Ereignisse vom November 1938 bevor die Entwicklung zu einer solchen Entrechtung führte, wie sie nunmehr auch den Außenstehenden durch die Publikation des letzten Gesetzes vor Augen geführt wird.
Die ersten fünf Jahre national-sozialistischer Herrschaft hatte keine wesentliche Veränderung in der Rechtsstellung der deutschen Juden gebracht. Zwar waren die bekannten Gesetze ergangen, die ihre Entfernung aus bestimmten Berufen bzw. die Beschränkung ihrer Zahl in solchen bezweckten, sowie die Nürnberger Gesetze, die ihre politischen Rechte verkürzten und ihre Absonderung von der nichtjüdischen Bevölkerung fördern sollten. Aber im Civil- und Strafrecht galten dieselben Gesetze für Juden und Nichtjuden wie zuvor. Rechtsschutz wurde den Juden ebenfalls im weitesten Umfange gewährt. Das galt von allen Gerichten, auch den Verwaltungsgerichten, die häufig Verfügungen der Verwaltungsbehörden, z. B. die Untersagung eines Gewerbebetriebes, aufhoben, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht Vorlagen und antisemitische Motive sie veranlaßt hatten. Die Gerichte, mit wenigen Ausnahmen, befleißigten sich den Juden gegenüber der Unparteilichkeit, wiesen antisemitische Ausfälle der Parteien, die damit ihrem Vorbringen zu dienen glaubten, als nicht zur Sache gehörig zurück und ließen den Juden ihr Recht zuteil werden. Auch die jüdischen Anwälte, die noch zugelassen waren und deren Zahl keineswegs so klein war (noch ca. 2500 im Altreich und fast 1000 davon in Berlin), konnten ungehindert die Rechte ihrer Parteien wahrnehmen, Nichtjuden ebenso wie Juden vertreten und genossen bei Richtern und Kollegen dieselbe Achtung wie vorher. Diese Darstellung mußte vorausgeschickt werden, um die Größe des Umschwungs verständlich zu machen, die mit dem November 1938 auch auf dem Gebiete des Rechts für die deutschen Juden einsetzte. Von da ab erschien kaum noch ein Gesetz oder eine Verwaltungsanordnung, die nicht Ausnahmebestimmungen gegen die Juden enthielt, ganz abgesehen von den Gesetzen, die sich ausschließlich gegen sie richteten wie die Gesetze vom Dezember 1938. Und Hand in Hand damit ging nunmehr die Tendenz der Gerichte, auch die Rechtsprechung der national-sozialistischen Weltanschauung anzupassen und aus dieser heraus die Gesetze auszulegen und anzuwenden. Insbesondere die höheren Gerichte, an der Spitze das Reichsgericht, brachten die neue Richtung immer mehr zum Ausdruck, und es kam zu Urteilen, die die Verwunderung und die Ablehnung aller rechtlich Denkenden hervorriefen und sicher kein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Justiz sein werden. Die wenigen jüdischen Konsulenten (in Berlin ca. 50), die an die Stelle der jüdischen Rechtsanwälte getreten waren, hatten als Strafverteidiger einen schweren Stand, und ihre Civilpraxis ging immer mehr zurück, da sie sich fast nur auf Streitigkeiten von Juden untereinander beschränkte und diese auch kaum noch wagten, gegen einen Nichtjuden eine Klage anzustrengen. Taten sie es dennoch, so kam es vor, daß die Gestapo eingriff und die Rücknahme der Klage forderte. In demselben Maße, wie der Rechtsschutz, den die Juden bisher bei den Gerichten genossen hatten, geringer wurde, nahmen die polizeilichen Eingriffe zu. Wurden Juden freigesprochen oder hatten sie ihre Strafe verbüßt, so nahm sie die Gestapo in Schutzhaft und brachte sie, wenn sie keine Auswanderungsmöglichkeiten hatten, ins Konzentrationslager. Auf diesem Wege ging man dann weiter. Allmählich vermied es die Polizei überhaupt, die einer strafrechtlichen Handlung bezichtigten Juden den Gerichten zur Aburteilung zu übergeben, sondern wandte im großen Umfange das System der Schutzhaft an, in dem es keine Appellation an irgendeine übergeordnete Instanz oder gar an ein Gericht gab. Schon die zahlreichen Verhaftungen der „Vorbestraften“ im Juni 1938 zeigten diese Richtung. Sie führten dazu, daß Menschen, die ihre Strafe, häufig wegen ganz geringfügiger Vergehen, längst bezahlt oder verbüßt hatten, ins Konzentrationslager kamen, was eine zweite Strafe für dasselbe Vergehen und diesmal in den meisten Fällen die Todesstrafe bedeutete.
Nach Kriegsausbruch gaben dann die Rationierungsvorschriften einen willkommenen Vorwand zur Vornahme von Haussuchungen, die den angeblich Straffälligen nicht etwa vors Gericht, sondern in Schutzhaft brachten. Wie schon vorher z. B. ein verbotener Kinobesuch, so genügte jetzt schon das geringste Quantum Obst oder anderer Juden verbotener Lebensmittel oder eine angeblich zu große Menge erlaubter, um den Juden ins Lager zu bringen, aus dem es eine Rückkehr in den meisten Fällen nicht gab. Aber auch auf andere „Verbrechen“ hatte man es abgesehen. So wurden bei einer Haussuchungsaktion im Juli 1941 diejenigen Juden festgestellt, die um 9 Uhr abends nicht zu Hause waren. Ein entsprechendes Verbot war zwar nirgends veröffentlicht worden, es war aber der Reichsvereinigung telephonisch von der Gestapo mitgeteilt worden mit der Auflage, es mündlich unter den Juden zu verbreiten! Diese Art der Bekanntmachung erreichte aber viele Juden nicht oder das Verbot fand keinen Glauben, um so mehr als die Polizeireviere auf Anfrage erklärten, daß ihnen davon nichts bekannt sei. Trotzdem wurden sämtliche Delinquenten damit bestraft, daß die Frauen zehn Tage lang im Gestapo-Gebäude gefangen gehalten wurden, während die Männer auf sechs Wochen in ein Arbeitslager gebracht wurden. (Übrigens scheint die Verhaftung von 750 Juden im Juli in Berlin anläßlich des Brandes der Ausstellung „Sowjetparadies", mit dem sie gar nichts zu tun hatten, und ihre Verbringung ins Konzentrationslager Sachsenhausen, nachdem jeder dritte Mann in Lichterfelde erschossen worden war, im Ausland wenig bekannt zu sein, obwohl die jüdische Gemeinde auf behördliche Weisung diese Tatsache zur „Warnung“ bekannt machen mußte! Die Frauen und Kinder der Erschossenen wurden sofort evakuiert.)
So war man mit der Zeit dahin gekommen, daß Juden nur noch in Ausnahmefällen vors Gericht kamen und die Ahndung ihrer Straftaten durch die Polizei erfolgte. Der Zustand, der nunmehr durch die jüngst ergangene Verordnung sanktioniert worden ist, war damit erreicht. Für alle Vergehen von Juden gab es nur noch Schutzhaft im Polizeigewahrsam oder Konzentrationslager und später, als die Deportationen einsetzten, die Verschickung in die Verbannungsorte. Das war ein erheblich vereinfachtes Verfahren, schloß jede umständliche Untersuchung aus und erst recht die Gefahr eines richterlichen Freispruchs oder einer zu milden Bestrafung des wirklichen oder angeblichen Täters. Der deutsche Jude war schon vor dem 1. Juli 1943 rechtlos und vogelfrei geworden. Alles diente dem einen Ziel: seiner Vernichtung!
Über den zweiten erbrechtlichen Teil des Gesetzes vom 1. Juli 1943 soll später in anderem Zusammenhang gesprochen werden.