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Chronik und Quellen
1943
September 1943

Zurückweisung von Juden an Grenzen

Am 26. September 1943 schildert der Schweizer Oberleutnant Erwin Naef seiner Frau in einem Brief, wie furchtbar die Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge an der Grenze ist:

Sonntagabend Meine liebste Frau

Gestern wurde ich gottseidank abgelöst. Bin jetzt Reserve. In der vergangenen Woche erlebte ich das Traurigste, was mir je im Leben begegnete. Erst wurden endlose ital. Flüchtlinge in Zivil wieder über die Grenze geschoben. Denn es wurde bekannt, dass nur die Italiener von den Deutschen bestraft würden, die sich trotz persönlichem Aufgebot nicht stellten. Einmal zog während einer ganzen Nacht eine Kolonne zurück über die Grenze. Ich hörte, nur noch ca. 20 000 Mann dürften in der Schweiz bleiben.

Dafür liessen wir noch viele entwichene Kriegsgefangene, meistens Engländer der Armee Montgomery, Griechen und Neger der französ. Kolonialarmee eintreten. Als ich jeweils die Engländer auf englisch ansprach, waren diese ganz entzückt vor Freude.

Furchtbar war jedoch die Bestimmung, auch die Juden zurückzuweisen. Diese waren meistens deutschen Judenlagern entsprungen und nach unseligen Leiden irgendwo im Dickicht an unserer Grenze durch ein Loch im Drahtgehege geschlüpft, sanken hier vor Müdigkeit um.

Eines Tages stellte sich eine Gruppe von 20 Juden. Ich erhielt Befehl, Kinder unter Jahren und deren Mütter hereinzulassen und die andern zurückzujagen. Da waren zuerst Mädchen im Alter von 15 bis 30 Jahren, Ihrer 6 Personen, mit zerrissenen Kleidern, zerschundenem Gesicht, ausgehungert und erschöpft. Dies meldete ich den massgebenden oberen Stellen in Chiasso. Befehl: Mit Waffengewalt zurück! Die Mädchen knieten wahrhaftig vor mir nieder und weinten und flehten. Ich befahl meinen Soldaten Bajonett auf und mit Gewalt abführen an das Grenzgehege. Mit Verwünschungen auf die Schweiz, heulend und sich wehrend verliessen sie unseren Boden und wurden jenseits von ital. Grenzwächtern empfangen. Eine Familie mit Kindern von 3,5,7 und 10 Jahren, Vater und Mutter. Nochmals erkundigte ich mich, ob nicht wenigstens diese Familie beisammen gelassen werden könnte. Antwort: unter keinen Umständen. Also mit Waffengewalt hinaus. Ich kann Dir die Szene nicht beschreiben, wie sich die beiden älteren Kinder an ihre Mutter klammerten, diese an ihren Gemahl. Denn abführen und hinauswerfen bedeutete, auf Nimmerwiedersehn. - Dann ein Kindchen von 2 Jahren, in Lumpen gehüllt, die Mutter 30 Jahre, die Grossmutter 60 Jahre, krank und kaum noch fähig zu stehen. Auf meine dringende Bitte in Chiasso, auch die Grossmutter hereinlassen zu dürfen, erhielt ich eine abschlägige Antwort. - Dann eine Familie mit sjährig. Mädchen, i3jährigem Sohn, Vater und Mutter. Vater und Sohn sollten hinaus. - Eine Ausführung dieser Befehle war auch mit der Waffe nicht möglich. Denn die Leute legten sich auf den Boden und baten uns sie zu erschiessen. Sie zogen dies den Martyren der Deutschen vor. Ich telefonierte an Mayer Werdmüller, damit er die Verantwortung trage, falls Blut fließe. Er hiesse mich warten. In einer Stunde war er hier mit dem Pferd. Auch er versuchte bei höchsten Stellen um Gewährung des Eintrittes für die Familien. Nutzlos! -Wiederum befahl ich den Soldaten die Abschiebung mit Gewalt. Kurzes Handgemenge und schreckliches Kreischen der Frauen und Kinder. Das war auch für den Major zuviel. Wahrlich kugelten Tränen über seine Backen (Ich hatte mich schon off abgewendet, um meine Tränen abzuwischen). Dann befahl er dass die Familie mit den 4 Kinder und diejenige mit der Grossmutter hier bleiben dürfen. Jene mit dem 13jährigen Sohne ebenfalls, jedoch ohne den Sohn. Hierauf reckte sich der jüd. Vater dieses Sohnes und erklärte, er gebe keines seiner Kinder preis. Eher kehre er mit der ganzen Familie um, um sich von den Deutschen totschießen zu lassen. So ging auch diese Familie verloren.

Am vergangenen Freitagnachmittag 1 Uhr. Ich wurde alarmiert. Eine Gruppe von 8 Juden wurde im Walde abgefasst. Ich ließ sie ins Ristjorante] Paradiso führen, stellte 5 hol-länd., 1 belg. und 2 deutsche Juden fest. Komplett erschöpft. Mit schweren Koffern beladen, zerlumpt und verzweifelt. Ich telefonierte nach Chiasso. Befehl: Ohne Ausnahme zurück. Die Leute baten und flehten wahrlich auf den Knien. Der Vater der holländ. Familie bat eindringlich, wenigstens seine Kinder, Söhne von 12 und 14 Jahren, 1 Tochter von 16 Jahren hierlassen zu dürfen. Er selbst gebe nichts auf sein Leben. Sie seien von Holland nach Frankreich geflüchtet. Nach der ital. Kapitulation von Italienern über die savoyischen Alpen verschleppt wurden, von den Deutschen in Konzentrationslager gesteckt, 2mal entwichen mangels ungenügender Bewachung. Wieder eingefangen und mit vielen Hunderten von Juden in Güterwagen gesteckt. Auf einer Station aus dem Wagen entwichen und in einen Personenzug geflüchtet. Dieser sei nachts abgefahren und plötzlich waren sie in Mailand. Niemand getraute sich ihrer anzunehmen. Flucht in die Wälder. Nahrung durch gestohlene Früchte, meistens Trauben. Endlich in der Schweiz. - Es nützte nichts. Ich musste meine Wache alarmieren. Bajonett auf. Ich befahl das Gepäck aufzunehmen und der Wache zu folgen. Mit lautem Gekreische mussten die Frauen davongeschleppt werden. Furchtbare Verwünschungen auf die Schweiz. Der alte 62jährige Jude mit dem schweren Gepäck konnte kaum mehr gehen. Er weinte laut und flehte. Eine Frau, die Deutsche, wehrte sich wie sie konnte und schrie. Die Soldaten schleppten sie etwa 50 Meter am Boden. Dann erreichten wir, ca. 100 m von der Grenze entfernt den steilen Wurzelweg am Waldrande. Hier fiel das Mädchen zu Boden, auch der Alte, dann der Vater der Familie. Nur noch die Mutter der Familie ging stolz einher und sprach ihren Kindern Mut zu. - Dann befahl ich der Wache halt! Wir untersuchten die Daliegenden. Das Mädchen hatte ein dick aufgeschwollenes Bein. Die beiden alten Männer redeten überhaupt nicht mehr und die eine Frau wälzte sich am Boden. Dann rannte ich zurück nach Pedrinate um zu telefonieren ans oberste Kommando von Chi-asso. Befehl: Die kranken Leute solle man bis an die Grenze tragen. Ich erklärte, das sei unmöglich, ich wünsche von meinem Posten abgerufen zu werden. Ein Major erklärte mir, ich solle sofort einen Arzt von meinem Bat[aillon] rufen lassen und auf weiteren Befehl warten. Ich telefonierte sofort dem Bürgermeister von Pedrinate um die Hilfe des Roten Kreuzes. In M Stunde standen 4 Mädchen in FHD Uniform da und Rotkreuzbinde und Bahre. Die Führerin, ein zijähriges Mädchen, Tochter meiner Philisterin ordnete alles nötige an. Meine Soldaten trugen die Kranken nacheinander zurück in eine Wirtschaft. Die Gemeinde übernahm die Verpflegung. Um 8 Uhr abends Befehl von meinem Major, die Gemeinde soll für Nachtunterkunft sorgen. In einem dunklen Lokal mit 1 Tisch, 10 Stühlen und Stroh am Boden, wurden alle untergebracht. Um 10 Uhr nachts Befehl von Chiasso, um 9 Uhr morgens müsse die Gruppe unter allen Umständen abgeschoben werden. Um 11 Vi Uhr Befehl von Chiasso, dass um 9 Uhr am Samstag neuer Befehl zu erwarten sei. Ich besprach nämlich heimlich mit dem 21jährigen FHD Mädchen die Lage, dass hier nur noch die holländ. Gesandtschaft helfen könne. Ich jedoch dürfe nichts unternehmen. Das sei Sache des Roten Kreuzes. Kurz entschlossen telefonierte sie beim Pfarrer dem holl. Konsul in Lugano, dieser telef. nach Bern. Bern zum 21jährigen Mädchen, das ging hin und her, bis 2 Uhr morgens.

Samstag früh 5 Uhr Tagwache. Sofort besuche ich die Flüchtlinge. Voll Erwartung schauen sie zu mir auf. Ich rede ihnen Mut zu. Der Zug Oblt. Annen sollte mich bis 10 Uhr morgens ablösen. Punkt 9 Uhr Befehl von Chiasso: Alle Flüchtlinge bleiben hier! Welch ein Jubel, ich wehrte mich, denn alle, auch die Männer wollten mir um den Hals fallen.   Ich verwies auf das flotte Mädchen, das alles arrangiert habe. Eine Frau und das Mädchen konnte noch nicht gehen, wurden mit dem Auto nach Chiasso verbracht.

Ich muss noch nachholen, dass am Vorabend ein Arzt unseres Bat. alle untersuchte und bei allen vollständige körperliche Erschöpfung feststellte.

Um 10 Uhr durfte ich weg und bin nun wieder in Chiasso.

In Pedrinate hatte ich unzählige Freunde gewonnen, besonders die Gemeindebehörden. Der Bürgermeister hat, wie er mir erzählte, Dir ohne mein Wissen einen Traubengruss gesandt. Meine Philisterin gab mir stets das feinste Essen, am Morgen Kaffee komplet, Pilzspeisen usw.

Die schönste und grösste Traube überreichte mir der Bürgermeister. Du wirst sie inzwischen erhalten haben.

Morgen früh muss ich alle unsere Grenzpatrouillen inspizieren. Von Ponte Faloppia über Pedrinate, Laghetto bis Chiasso.

Am 1. Okt. kommt unsere Kp. nach Mendrisio und spätestens am 2. Okt. geht mein Zug mit mir für 24 Stunden in den Urlaub. Dann wieder an die Grenze.

Mir fehlen, Hemden, Socken, kurze Unterhosen.

Nach kurzem Gewitter scheint plötzlich die Sonne wieder. Ich gehe noch etwas hinaus mit Henggeier, gegen Sant Antonia, wo ich mein Interniertenlager führte.

Herzlich grüßt Dich und lieben Kuss
Dein

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