Jüdische Jugend im Untergrund
Ein Mitglied einer illegalen jüdischen Jugendgruppe beschreibt am 15. September 1943 in einem Brief die gemeinschaftliche religiöse Betätigung und den Alltag im Untergrund:
Liebe Chawerim,
in schwerster Zeit vergessen wir nicht, über all unsere Sorgen hinaus an Euch zu den kommenden Festen zu schreiben, wieder wenigstens im Geiste Anschluß an unsere Bewegung zu finden, die uns alles bedeutet. Wir wollen Euch wieder über unsere Arbeit und unser Leben berichten, in der Hoffnung, daß, wenn auch nur einer überleben wird, Euch diese Briefe einmal zukommen werden.
Wenn wir zu Rosch Haschanah Rückblick nehmen, so müssen wir alle sagen, daß, obwohl die Arbeit in der Jugendalijah in Berlin immer sehr intensiv war, wir noch nie so viel zusammen waren und unsere Bindung eine solche war, wie in dem abgelaufenen Jahr, seit der Bildung unseres Chug. Zum Halbjahres Neschef haben wir eine Resolution beschlossen, die wir alle unterschrieben haben. In ihr haben wir uns verpflichtet, 1) uns gegenseitig zu helfen, hier illegal leben und uns zu befreien versuchen, 2) uns aufs äußerste vorzubereiten, zu lernen usw. für Erez Israel, 3) Verbindung mit unseren Chawerim in Polen zu halten und zu helfen sowie den Keren Chug zu stützen, der zur Erinnerung an unsere Gefallenen Bäume in Erez Israel pflanzen soll. Unterschrieben haben wir als Chawerim alle für unsere Ewo, die noch im K. Z. ist, dann Poldi Chones (17 Jahre), Heinz Abrahamson (16), Gerd Beck (20), Margot Beck (20), Eva Fleischmann (20), Mohr Zajdman (17), Esther Zajdman (18) und Jizchak, unser lieber Rosch Che-wrah. So sind wir jetzt 9 Menschen. Dazu kommen noch 3 Jungs, die ab und zu Gäste sind. Doch sind wir fest entschlossen, nur solche Menschen bei uns zu haben, die voll und ganz in unserer Bewegung aufgehen. Gerade jetzt wollen wir nicht Halbes dulden, wie es ja in der Jugendalijah-Schule auch nie von Jizchak geduldet wurde. Wir wollen uns aufeinander verlassen können. Nach der Omer-Zeit, in der wir uns jeden Abend irgendwo an versteckter Stelle getroffen haben, um Omer zu zählen, irgendwo auf der Straße, im Park, im Tiergarten, immer singend, ganz leise, und im Gedanken an alle, hat die Arbeit 5mal wöchentlich eingesetzt. Seit Schawuoth haben wir gehabt jeden Sonntag Tijul, oft mit Zofiut und Sport, meist bei Erkner oder im Norden; Montag Sichah I, und zwar Ref[erat] Zionistische] Geschichte, dann Pol[litische] Schulung am Mittwoch Sichah II, und zwar erst 10 Worte Iwrith, dann Refjerat] Palästina-] Kunde, dann Literatur, gemeinsames Lesen; am Donnerstag Sichah III, meist verschiedene notwendig gewordene Referate, sowie Chewrah-Besprechung. Alle Sichoth mussten im Wald stattfinden, und wir haben sie immer trotz Gefahr und Regen durchgeführt. Nur am Schabbat sind wir bei Gad, es ist der von uns allen am meisten ersehnte Tag, der uns Kraft gibt für die Woche. Erst ist ein Geschichtsreferat über eine Persönlichkeit unserer Geschichte, dann lernt Jizchak mit uns Tnach (wir alle haben jetzt Tnach sehr gerne, worum sich Jizchak in der Jual-Schule immer so bemüht hat), und zwar zum Andenken an Ewo, wofür [wir] am Ende des Lernens ein Mischeberach sprechen, dann ist Oneg. Wirklich, der Oneg ist immer sehr schön. Wir singen viel und beenden mit der Hawdalah.
Das letzte Halbjahr brachte uns technisch viel Schweres, Essen ist knapp, Quartier nicht immer für alle vorhanden, diese Frage droht noch schwerer zu werden. Aber wir werden durchhalten. Wir sandten Pakete nach dem Osten. Der Keren Chug hat auch zu R. H. im ganzen RM. 105 aufzuweisen. Die Bemühungen zur Rettung ins Ausland hoffen wir bald endlich zu einem Erfolg gebracht zu haben, wir wollen möglichst zusammen gehen. Wir wissen heute, wie früher, als wir uns im Hechaluzh entschlossen, diesen Weg zu gehen, daß er der richtige war, daß wir durchhalten wollen und, wenn es sein muß, uns wieder wehren werden. Hierbei, Chawerim, gibt uns nur Kraft der Gedanke an Euch und die schönste Stunde ist, wenn Jizchak uns davon erzählt, von der großen Arbeit früher und von unserer Bewegung. Wir glauben, daß Ihr im Lande und Ihr anderen in der Golah auch an uns denken werdet, wie wir an Euch es tun.
So schließe ich im Namen des Chug diesen Brief zu Rosch Haschanah und wünsche Euch von ganzem Herzen in aller Namen:
N. B. Die Verbindung mit zwei Menschen im Harz haben wir jetzt auch aufgenommen. Herbert und Eva Warburg (16 bzw. 15 Jahre).