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Chronik und Quellen
1943
August 1943

Masseneinwanderung nach Palästina gefordert

Stephen Wise, Ehrenpräsident des Jüdischen Weltkongress‘, fordert am 29. August 1943 angesichts des Mords an den europäischen Juden in einer Rede eine jüdische Masseneinwanderung nach Palästina:

Dies ist eine amerikanische Konferenz. Wir sind Amerikaner, zuerst, zuletzt und allezeit. Nichts, was wir sonst noch sind in Hinblick auf Glaube, Rasse oder persönliches Schicksal, schränkt unser Amerikanischsein ein. Alles, was wir noch sind und haben, vertieft, bereichert und stärkt dieses noch. Unsere Väter haben sich entschieden, und wir entscheiden uns erneut, Amerikaner zu bleiben. Einhundert Generationen haben sich zum Judentum bekannt, und weitere hundert und mehr Generationen werden sich entscheiden, dass sie Erben der jüdischen Vergangenheit und Baumeister der jüdischen Zukunft sein wollen. Unsere erste und dringlichste Aufgabe, die wir gemeinsam mit allen übrigen Bürgern unseres geliebten Landes und den Bürgern der Vereinten Nationen übernehmen, ist der Sieg im antifaschistischen Krieg. Wenn dieser Krieg nicht gewonnen wird, ist alles verloren.

Die Frage, vor der diese American Jewish Conference steht, lautet: Soll die von Hitler begonnene Vernichtung des jüdischen Volkes als Lösung des jüdischen Problems akzeptiert werden, oder haben wir amerikanischen Juden eine Alternative? Schon in der Frage liegt die Antwort begründet - ein tief empfundenes, feierliches, einstimmiges Nein. Und wir haben eine Lösung zu bieten!

Vor kurzem haben wir uns an einen Sinnspruch aus der noblen Prosa des verstorbenen Bundesrichters Holmes erinnert: „Es ist nicht die geringste der gottgleichen Betätigungen des Menschen, die Ursachen umfassend zu erforschen, dass Wissen nicht weniger wert ist als Fühlen.“ Diese Konferenz soll einer solchen umfassenden Erforschung dienen, auf dass wir sowohl wissen als auch fühlen.

Das bald zu Ende gehende Jahr Fünftausendsiebenhundertunddrei ist nicht nur das schlimmste und von größter Trauer erfüllte Jahr der jüdischen Geschichte; denn das Leid ist noch größer als jenes, das sich in den vergangenen tausend Jahren angesammelt hat. Das gesamte jüdische Jahr schien wie ein einziger ausgedehnter, niemals endender Tag trauernden Gedenkens. Der erste Tisha B’Av markierte die mutwillige und barbarische Zerstörung des heiligsten Heiligtums vor 1873 Jahren. Das nun zu Ende gehende Jahr des Kalenders wird ewig an die geplante Vernichtung des gesamten jüdischen Volkes erinnern. An einen Versuch, der leider nicht fehlgegangen ist, denn im Zugriffsbereich der Achsenmächte - was natürlich Großbritannien und Palästina, Russland und unser eigenes Land ausschließt - wurden mehr als zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung ermordet, auf scheußlichste und perverseste Weise, mit Methoden des offenen und vernichtenden Terrors. Wie uns ein Christ berichtet, der gerade aus dem polnischen Untergrund aufgetaucht ist, besteht das Ziel darin, „die Juden sowohl als Volk als auch als Individuen auszulöschen, sie als Rasse systematisch, ohne jede Ausnahme, zu vernichten, durch nackten Massenmord“. Von den jüdischen Untergrundkämpfern erfahren wir unglaublich grässliche Details, zum Beispiel über die Todeslager von Treblinka, über die Eisenbahnlinie von Warschau nach Bialystok, die Todeshäuser, die spezielle Ausrottungsmaschinerie, die Vernichtungsgase, die in die Todeszellen geleitet werden, die Opfer, die jeden Tag zu Tausenden sterben. In Treblinka begrüßt die Ankömmlinge ein riesiges Plakat: „Vertrau auf deine Zukunft!“ Die ironische Einladung zu einem grausamen Tod! Doch im Namen der Opfer erklären wir den bestialischen Henkern: Im Gegensatz zum ehrenvollen Tod, den ihr euren Opfern bereitet, wird euch bald ein Tod in Schande zuteilwerden. Mit den Vereinten Nationen vertrauen wir auf unsere unmittelbare Zukunft, in der es nirgendwo in der Welt eine Zukunft für Leute geben wird, die darauf aus sind, Rasse gegen Rasse und Glaube gegen Glaube aufzuhetzen. Auf eure Rechnung geht ein Jahrzehnt des Schreckens, der Plünderungen und des Raubs. Vergessen zu werden wäre für euch das gnädigste Schicksal. Wir leben und dienen seit Jahrtausenden, während eure tausend Jahre innerhalb eines Jahrzehnts beendet sein werden. Wir setzen unser Leben in freudiger Hoffnung fort, weil Kultur und Freiheit dabei sind, ihre vereinten Feinde - die Achsenmächte - zu vernichten.

Wir stellen unsere Leiden nicht zur Schau. Die Opfer, die der Krieg uns aufbürdet, ertragen wir wie alle Amerikaner stolz und sogar freudig. Aber weder stolz noch stoisch können wir „die entsetzliche Barbarei“ akzeptieren, die damit endete, dass Millionen unserer Brüder und Schwestern, unbedeutend, ob es sich um drei oder vier Millionen handelt, abgeschlachtet wurden; also mit dem, was Harold Laski „das widerlichste Verbrechen der Geschichte“ nennt.

Die tapfere und noble niederländische Exilregierung formulierte es so: „Ein derart entsetzlicher Massenmord muss gesühnt werden.“ Damit ist uns, die wir zur weitaus größten jüdischen Gemeinschaft der Geschichte geworden sind, eine große feierliche und unabweisbare Verpflichtung überantwortet: die Pflicht, nicht nur die Wunden zu heilen, sondern zusammen mit den Überlebenden auch zu beraten, wie sich ihre und unsere Zukunft gestalten soll. Gemeinsam müssen wir über das Schicksal der Juden in aller Welt nachdenken, einschließlich der russisch-englisch-palästinensischen Gemeinschaft, die ähnlich groß ist wie unsere.

Wir haben unsere Lektionen gelernt, und auch die Welt hat ihre Lektionen gelernt. Wir haben langsam und spät gelernt, die Welt jedoch noch langsamer und später. Worin bestehen diese Lektionen? Dass das einzig sichere Fundament des Rechts die Freiheit ist; dass die einzig sichere Garantie der Freiheit das Recht ist. Als Erstes zu begreifen, dass Cherut und Charut, Freiheit und das geschriebene Recht, jeweils voneinander ab-hängen; Freiheit auf Grundlage des Rechts, das Recht als Garant der Freiheit. Jahrhundertelang haben wir, und tun es immer noch, die unversöhnliche Feindschaft all jener erfahren, denen Freiheit als schreckliche Ketzerei gilt, die Gleichheit der Menschen als schlimmste Sünde, die politische Demokratie als unverzeihlicher Angriff auf das Allerheiligste der Privilegien und der Macht.

Ein gutes Motto für diese Konferenz wäre das, was ein Schriftsteller jüngst über die „Captains of Their Souls“ geschrieben hat: „Denn dies ist die Stunde der Entscheidung; es ist der schicksalhafteste Moment unseres Lebens, und nur wenn wir wahrhaftig glauben, können wir hoffen, klar zu denken und erfolgreich zu handeln.“ An was sollen wir wahrhaftig glauben? Muss man noch einmal aussprechen, dass wir an den raschen Sieg unseres Landes glauben, an den Triumph der großen Aufgabe, die zu erfüllen es sich aufgemacht hat: die Rettung des eigenen Landes, die Sicherung der menschlichen Freiheit, überall und am Ende selbst für die Rechtsbrecher und Betrüger in den eroberten und versklavten Ländern, für die Schaffung einer neuen und besseren, weil gerechteren Welt.

Wir glauben zutiefst an uns selbst, an unser Volk, an unseren Glauben, an unser Schicksal oder unsere Bestimmung. Obwohl unsere Herzen erfüllt sind von Trauer, lassen wir uns durch das Böse der zehn Jahre, die nun zu Ende gehen, durch den unbeschreiblichen Schrecken der vergangenen Jahre nicht ins Wanken bringen. Wir glauben tiefer als je zuvor an Israel und an den Gott Israels. Die Millionen von Opfern, mitten aus unserem Volk gerissen, die meisten, wenn nicht alle Märtyrer, jene bewussten Zeugen der Wahrheit, die ihr Leben und ihr Sterben war, so wie sie unser Leben ist, sie alle lassen uns wahrhaftiger und sicherer als je zuvor an unser Volk glauben, an seine große Vergangenheit, seine bedeutende, wenn auch von Trauer geprägte Gegenwart, seine wirre, aber doch sichere Zukunft.

Dies ist eine amerikanische jüdische Konferenz. Amerikanisch und jüdisch! Jüdisch, weil wir als Volk den schrecklichsten Krieg der Geschichte durchleben und durchkämpften, mit unzähligen Opfern und Toten. Nicht nur einen Krieg, sondern Kriege: den einen Krieg, in dem alle freien Staaten kämpfen und Juden als Teil von ihnen und mit ihnen und für sie, in jedem Land, in dem Juden wohnen - in stattlicher Zahl überall im Britischen Empire, in der Sowjetunion und hier in den Vereinigten Staaten. Und wir kämpften auch - und wurden bekämpft und bezwungen - in einem weiteren Krieg. Im Krieg, den die Freiheitsfeinde gegen die Juden führten und ihre Drohung umsetzten, sie auszulöschen. Auch in diesem Krieg haben wir unseren vollen Beitrag geleistet. Hinzu kam aber ein weiterer Krieg gegen die Juden, ein Krieg, in dem wir als Opfer auserwählt wurden, nicht als Kriegsopfer, sondern als Opfer der Vernichtung, der grauenhaften und leider fast erfolgreich vollzogenen Auslöschung. Keinem anderen Volk wurden, selbst wenn es fünf- oder zehnmal mehr Menschen zählt als die Juden weltweit, vergleichbare Verluste zugefügt, wie sie das jüdische Volk in diesem antijüdischen Ausrottungskrieg erlitten hat. In diesem Vernichtungskrieg ist mehr als ein Viertel aller Juden umgekommen.

So wie jede amerikanische Versammlung das Ziel verfolgt, Amerika zu erhalten und zu schützen, so will auch die American Jewish Conference Amerika erhalten und beschützen - und darüber hinaus das jüdische Volk. Hitler hat verkündet, und Goebbels hat es wiederholt: „Das jüdische Volk muss vernichtet werden.“ Die American Jewish Conference nimmt diese Herausforderung an und antwortet: Das jüdische Volk wird nicht vernichtet werden und bekennt sich zu der unbedingten Bereitschaft und Entschlossenheit der Vereinten Nationen, nie wieder einem Führer oder Gangster, einem Kanzler oder Präsidenten zu gestatten, einem Volk, einer Rasse oder den Angehörigen eines Glaubens die Vernichtung auch nur anzudrohen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen und bestraft zu werden. Eine freie Welt wird nie wieder passiv zusehen, wie eine solche Drohung wahr gemacht wird, so wie sie es leider zwischen 1933 und 1939 getan hat. Die Urheber einer solchen Drohung werden unter Zustimmung der ganzen Welt angeklagt und verurteilt werden wegen ihrer zerstörerischen Absichten und Ziele, die sich nicht nur gegen die Juden, gegen irgendein Volk oder irgendeinen Glauben richten, sondern gegen unsere gemeinsame Zivilisation und Freiheit.

Wir sind aufgefordert, klar zu denken und wirksam zu handeln. Klar denken bedeutet, nicht voreingenommen oder abgelenkt von Vorurteilen zu denken, sondern offen und mit klarem Verstand, der einzig auf die Erfordernisse der Stunde orientiert ist. Der Vorschlag, die Delegierten mögen mit Beginn der Konferenz ihre Parteizugehörigkeit vergessen, ist nur eingeschränkt sinnvoll. Die Delegierten sollen im Namen und im Geist derer handeln, die sie zum Wohle aller gewählt und entsandt haben. Jeder von uns repräsentiert einen Ausschnitt jüdischen Lebens. Und wir alle zusammen dienen Israel als Ganzes. Nur wenn wir uns an die Besten und Führenden der Gruppe oder Fraktion erinnern, die uns hierher entsandt hat, werden wir den Juden in ihrer Gesamtheit gerecht.

Nun zum wirksamen Handeln: Als die Juden, beginnend mit dem Jahr 1933, bedroht wurden, haben sie nicht gemeinsam gehandelt, abgesehen von den - viel zu wenigen und zu begrenzten - Gruppen, die dazu den Mut hatten. Die Politik der Vernichtung hat erreicht, was der Menschheit bis dahin unbekannt war. Doch auch die Welt agierte nicht gemeinsam, als Hitler seine schrecklichen Drohungen gegen die Freiheit kundtat, und wurde erst tätig, als er Polen angriff und zerstörte. Aber selbst damals standen die Menschen und Staaten nicht zusammen, sondern warteten ab und spielten auf Zeit, bis es zu spät war. Holland, Belgien, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Jugoslawien blieben der Reihe nach auf der Strecke. Hitlers Krieg gegen die freie Welt begann nicht erst am 31. August 1939, als er in Polen einmarschierte, sondern am 30. Januar 1933, als er dank seiner Ernennung seine vor den Wahlen geäußerte Drohung, das jüdische Volk zu vernichten, wieder aufgreifen konnte.

Wirksames Handeln bedeutet, übereinstimmend zu handeln. Übereinstimmend zu handeln bedeutet nicht, dass alle dasselbe denken. Wirksames Handeln entspringt der Fähigkeit, sich auf Situationen einzustellen, die nach kompromisslosem Einverständnis verlangen. Niemals war ein Volk einem derart tiefen und dringenden Zwang zum Handeln ausgesetzt. Wir standen unter dem Eindruck eines unermesslichen Leids, des Leidens an der Vernichtung ungezählter Angehöriger unseres Volks, eines Leids, für das es keine Tränen mehr gab. Und doch leiden und trauern wir nicht ohne Hoffnung. Wir leiden. Wir trauern. Wir hoffen. Wie trostlos auch immer unsere Trauer ist, ohne Hoffnung können wir nicht leben. „Sie ist nicht zerstört.“

Dass die amerikanischen Juden mittels dieser Konferenz geeint auftreten, genügt nicht. Sie müssen sich mit den Juden der ganzen Welt zusammentun, indem sie die alten Bande mit der erstarkten und noch nicht verlorenen jüdischen Gemeinschaft in der Sowjetunion wiederherstellen und sich bemühen, gemeinsam mit den zu neuem Leben erwachenden Juden in den Achsenländern zu handeln - und nicht nur für sie. Für diejenigen, die überlebt haben und noch überleben werden, mag der Bericht dieser Konferenz als Elixier, als Stimulanz und Stärkungsmittel dienen. Ihre ihnen von Hitler zugefügten Wunden hindern sie nicht an kameradschaftlichen Beziehungen und Beratungen mit uns, ihren freien und glücklicheren Brüdern, die sich nur dank der Gnade Gottes und der Auswanderung unserer Väter nicht an ihrer Stelle befinden. Hitlers unglückliche Opfer bleiben stets unsere geliebten Blutsbrüder, die wir achten, schätzen und in Ehren halten müssen.

In diesem Raum sehe ich vor mir die Geister der Millionen Ermordeten. Sie verlangen nicht Vergeltung von uns - denn Leiden war schon zu lange das Schicksal unserer gesamten Gemeinschaft -, sondern ein anderes und nobleres Handeln, indem wir uns wie sie für den Tod entscheiden statt für die Schmach, vom Gott Israels abzufallen. Wenn die Vereinten Nationen und wir [die Toten] schon nicht haben retten können, sollten nun ihre und unsere Brüder gerettet werden, soweit sie überhaupt noch zu retten sind. Diese Märtyrer wollen nur eine einzige Entschädigung und Wiedergutmachung: endlich Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für die ganze Menschheit; eine Welt, in der die großen Nationen und die großen Religionen, unter Führung des Christentums, nie wieder einen solchen jüdischen Holocaust wie den Hitlerterror dulden werden. Dieses Versprechen wäre einzulösen, indem man jene bösen Mächte ausmerzt, aus denen heraus die Schande des schrecklichsten Judenmords der Geschichte erwachsen ist.

Ich sehe vor mir die - wenigen - weinenden Überlebenden, die außer ihrem Leben und ihrer Ehre alles verloren haben und die jetzt ihr Vertrauen auf uns setzen. Denn sie glauben fest daran, dass unsere von Trauer geprägte Fürsorge auf ihre gereifte Weisheit und ihre tragische Erfahrung zurückgreifen und sie fruchtbar machen wird. Man wird diese Menschen nicht lediglich als bemitleidenswerte Opfer in unsere Pflegschaft geben, damit sie versorgt, gekleidet und beschützt werden, sondern man wird mit ihnen, ungeachtet ihrer dringlichen Bedürfnisse, wie mit Brüdern beratschlagen; denn ihre Loyalität zum Judentum wurde gestählt im Feuer gnadenloser Folter und ertragenen und ungeahndeten Unrechts.

In diesem Raum sind nicht nur einige Hundert gewählte Repräsentanten der amerikanischen Juden versammelt, sondern auch Millionen von Menschen, die diese direkt oder indirekt gewählt haben. Diese unsere amerikanischen Mitbürger - unsichtbar, aber nicht unhörbar - beschwören uns aus tiefstem sorgenerfülltem Herzen, als amerikanische Juden die Probleme des Judentums in einer neuen und freien Welt auf weise, nüchterne, mutige und großzügige Weise anzugehen. Einer der weisesten und großmütigsten amerikanischen Juden hat es so ausgedrückt: „Die Mittel, unsere Ziele zu erreichen, erlangen wir nur durch unsere eigenen Anstrengungen und Bemühungen, durch unser Vertrauen in die Richtigkeit unserer Absichten und in unsere eigene organisierte Macht.“ Sollten wir nicht bereit sein, diese Aufgabe entschlossen anzugehen, mit so umfassender Weisheit, wie Gott sie uns verleihen möge, und mit so edlen Visionen und Absichten, wie sie diese Stunde verlangt, dann lasst sie uns in andere Hände legen. Wir erklären feierlich, dass wir der mit ihr verbundenen Bürde gewachsen sein werden. Israel Zangwill hat einmal gesagt: „Wir sind ein Volk der versäumten Gelegenheiten.“ Diese Konferenz muss laut bekunden, dass wir ein Volk der nicht versäumten Gelegenheiten sind. Genau dies muss der Sinn dieser Zusammenkunft sein.

Ich wollte keineswegs das Programm vorwegnehmen, das nur dieser Kongress nach genauer Überlegung und fairer Diskussion verabschieden kann. Aber in Anbetracht des Rufs des Präsidenten wird er wohl kaum davon absehen können, auf ein Thema zu verweisen, das in gewisser Hinsicht dem ganzen jüdischen Volk zur Ehre gereicht - und nicht nur eine beispiellose Leistung der jüdischen Bevölkerung in Palästina ist.

Vor nicht einmal zwei Jahren warf der Terror der Nazi-Invasion seinen Schatten auch auf Palästina. Was immer die eigentlich neutrale arabische Bevölkerung getan oder unterlassen haben mag, unsere jüdischen Landsleute - Männer wie Frauen - waren bereit, alles für die Verteidigung der Freiheit und die Sache der Vereinten Nationen zu tun und zu riskieren, auch in Palästina. Die heldenhaften Armeen Alexander Montgomerys vermochten, nicht ohne jüdische Beteiligung, die Bedrohung durch Rommel abzuwenden. Innerhalb des weiträumigen Gefüges arabischer Territorien und Bewohner mit seinen kleinen und großen Königreichen hat sich allein das jüdische Palästina durch leidenschaftliche und uneingeschränkte Unterstützung für die Sache der Freiheit und der Vereinten Nationen hervorgetan.

Unterdessen setzte die Mandatsverwaltung in Bezug auf Palästina jedoch eine Politik fort, die, seitdem die Appeasement-Politik im September 1939 beendet worden ist, von Großbritannien und der freien Welt entschieden missbilligt wird. Das Weißbuch vom September jenes Jahres ist der letzte Überrest dieser unglückseligen und unwürdigen Politik. Doch obwohl die Appeasement-Politik der Vergangenheit angehört, hat sie in Palästina nach Geist und Buchstabe immer noch Geltung, und dies, obwohl das jüdische Volk von der größten aller Katastrophen heimgesucht wurde, durch die es zuerst ins Exil getrieben und später in ganz Hitler-Europa einem Schreckensregime unterworfen wurde.

Die humane großzügige Lösung der Mandatsregierung hätte darin bestanden, das von der Appeasement-Politik diktierte Weißbuch, das alle Regierungen vor Churchill überlebt hat, schlicht zu missachten und Palästina für die jüdischen Exilanten zu öffnen, wobei parallel dazu vielleicht innerhalb des gesetzlichen Rahmens auch gewisse Schritte Englands und Amerikas erforderlich gewesen wären. Keine einzige entlastende Aktion seitens der Vereinten Nationen wird aufrichtig wirken oder sich auszahlen, solange sich die Tore zu Palästina schließen könnten. Was immer wir für den künftigen Status von Palästina erhoffen oder planen - und vielleicht gibt es hier durchaus noch Spielraum für Diskussionen -, die Tore dürfen nicht geschlossen werden. Die jüdische Einwanderung unter Aufsicht der Mandatsverwaltung und der jüdischen Instanzen muss fortgesetzt werden, unter Leitung der Jewish Agency, die ein Instrument und - durch Vereinbarung - zugleich ein Partner der Mandatsmacht ist.

Herzl hatte nur das wunderbare Ideal des Zionismus im Blick; aber er sah auch die traurige Notwendigkeit voraus, ein künftiges Areal für die Juden des Kontinents zu schaffen, fürwahr die einzige Hoffnung der nicht einmal mehr 3 000 000 Juden, die im heutigen Europa überlebt haben. Es gab viel Wirbel um die Äußerung eines der führenden Vertreter der Jewish Agency for Palestine: Es wäre falsch anzunehmen, die Juden in Palästina seien nicht zu Verzweiflungstaten fähig, wenn sie durch die Entscheidung, die wahrhaft grausame und ungerechte Politik fortzusetzen, in die äußerste Verbitterung getrieben würden. Wer wünscht sich denn, die Juden sollten nicht zu Verzweiflungstaten imstande sein? Zu Taten beispielsweise, wie sie von den ruhmreichen Helden und Heldinnen im letzten jüdischen Gefecht im Warschauer Getto] vollbracht wurden? Nur feige, sich selbst hassende Juden, die auf Selbstvernichtung aus sind? Solche Leute sehen selbst in Verzweiflungstaten nur den verräterischen Willen zu sterben, statt zu leben. Was immer diese Konferenz in Bezug auf Palästina entscheidet, wir sollten uns hier so verhalten, dass solche Verzweiflungstaten in Palästina gar nicht notwendig werden. Doch wenn es dazu kommen sollte, müssen sie von uns als so unaufhaltsam akzeptiert werden, wie es unsere jahrhundertelange Geschichte ist. Verzweiflungstaten müssen es nämlich gewesen sein, die dem Psalmendichter die unsterblichen Worte diktiert haben: „Um Zions willen will ich nicht schweigen.“ Heute, nach 25 verflossenen Jahrhunderten, bedeutet „ich will nicht schweigen“, dass ich nicht untätig, nicht passiv sein will, sondern zum Widerstand bereit.

Die schlimmste Tragödie aller hinter uns liegenden Tragödien, die leider noch immer andauert, verändert den Charakter und den Inhalt dieser Konferenz. Denn diese wurde mit Blick auf zwei Hauptziele organisiert: Es sollte erstens um die Rechte und den Status der Juden in der Nachkriegswelt gehen und zweitens um die Durchsetzung der Rechte des jüdischen Volks bezüglich Palästina; außerdem um die Alternativen für diejenigen, die diese Ziele bis zum Kriegsende verfolgen und betreiben, in Verbindung mit neuerlichen Konferenzen nach dem Sieg.

Doch unserer Versammlung drängt sich nun ein neues und dringlicheres, ja das vordringlichste aller Ziele auf - nämlich von den Vereinten Nationen feierlich zu fordern, keine einzige weitere Stunde im Bemühen zu verlieren, die noch lebenden Juden aus den unter Hitlers Kontrolle verbliebenen Gebieten zu retten, die nicht einmal mehr 3 000 000 überlebenden von 5 000 000 Juden, die im Europa vor Hitler einmal gelebt haben. Dies weiter hinauszuzögern würde zweifellos bedeuten, dass es in dem, was Hitlers Europa war, überhaupt keine Juden mehr zu retten gäbe. Und noch nie war es so wahr wie heute, dass ein solcher Weg nur gefunden werden kann, wenn die Vereinten Nationen, angeführt von unserer eigenen Nation, gewillt sind, unsere gepeinigten, ausgeplünderten und gefolterten Brüder zu retten. Die Rettung der Überlebenden könnte die Schande der Welt in den Jahren zwischen 1933 und 1939 zumindest teilweise tilgen. Während dieser Jahre wurden alle erdenklichen unbeschreiblichen Verbrechen gegen unsere Brüder begangen, während sich lediglich eine Handvoll Christen wie Kardinal Faulhaber und Kardinal Mundelein, der Erzbischof von Canterbury und Dr. Cadman sich mit Engelszungen für die Opfer eingesetzt haben.

Bermuda könnte ein, allerdings zweifelhafter Anfang gewesen sein. Das Intergovernmental Committee on Refugees unter Führung Londons und Washingtons könnte sich, wenn es sofort einberufen würde, als eine zweite Station erweisen. Angesichts eines fast perfekten historischen Verbrechens ist es notwendig, darauf zu insistieren, dass keine weitere verhängnisvolle Verzögerung eintritt und die Vereinten Nationen die fortgesetzte Vernichtung der Juden unter Einsatz aller Mittel verhindern. Wie das Joint Emergency Committee for European Jewish Affairs aufgezeigt hat, gibt es viele solcher Möglichkeiten, mittels derer sie, mit Unterstützung der nun entschlossenen, nicht mehr zögernden neutralen Staaten, die zivilen Opfer, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, retten könnten, die sonst dem Untergang geweiht wären. Dabei sollte man den ungerechten Vorwurf, es hätte mehr getan werden können und wäre wohl auch mehr getan worden, wenn es sich nicht um Juden gehandelt hätte, tunlichst unterlassen! Dies wäre im Hinblick auf die Prinzipien und die Praxis der Vereinten Nationen eine furchtbare Unterstellung und würde ein schlechtes Licht auf uns selbst werfen.

In meiner Ansprache zur Eröffnung dieser Konferenz habe ich bewusst auf meinen festen Glauben an die Menschlichkeit im Sinne Lincolns und Roosevelts verwiesen, jenes unangefochtenen Führers freier Menschen in der heutigen Welt. Dieses Gremium, das die amerikanischen Juden weitgehend repräsentativ vertritt und das sich dem Sieg unserer nationalen Sache verschrieben hat, erklärt sein tiefes und unerschütterliches Vertrauen in die Lauterkeit und den guten Willen seines Oberbefehlshabers. Diese Konferenz setzt darauf, dass unser Präsident, als Reaktion auf die tiefsten Empfindungen der Menschheit und in Einklang mit dem Willen des amerikanischen Volkes, gemeinsam mit Premierminister Churchill auf der beschleunigten Rettung besteht und bei dieser so überaus drängenden Aufgabe die Führung übernehmen wird, mit jener unbezwingbaren Entschlossenheit, die großen Seelen eigen ist.

Diese Konferenz sollte eine kleine Gruppe von Delegierten benennen, die schon jetzt mit dem Präsidenten kommuniziert, so dass der Kontakt zu ihm und dem Oberbefehlshaber hergestellt ist und wir Zusicherungen erhalten könnten, die geeignet wären, die Herzen der amerikanischen jüdischen Gemeinschaft und unserer so schwer geschlagenen Brüder in Übersee zu erfüllen - die Zusicherung nämlich, nichts unversucht zu lassen, um die noch Lebenden auf die eine oder andere Weise zu retten und sie vor dem Tod zu bewahren.

Gestern wurden in der Synagoge folgende Worte verlesen: „Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch.“ Das Böse und der Fluch waren in diesem bitteren und schrecklichen Jahr allgegenwärtig. Das segensreiche Gute könnte eintreten, wenn wir hier beschließen, dass das, was unsere Toten erwarten, was die Armeen von Toten von uns fordern, nur das ist, was ein sich selbst achtendes Volk sein und tun und erreichen sollte: erneut für die Sicherheit der Lebenden in einer Welt der Freiheit zu sorgen. Es ist an uns, dazu beizutragen, diesen Segen für unser ganzes Volk zu erreichen!

Ebendies ist die Seele der Tugend, die im Bösen steckt und die wir freilich nur mit dem nötigen Wissen herausfiltern können. Die Seele der Tugend, die es aus dem Bösen des letzten Jahres zu gewinnen gilt, ist nicht nur die physische Rettung der Überlebenden, sondern die Einigkeit jüdischen Lebens in unserem Land; in diesem Sinne streben wir ernsthaft und aufrichtig nach der Erlösung und der unangefochtenen Freiheit jüdischer Menschen, wo auch immer sie leben mögen. „Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch.“ Wir wollen den Segen für unser Land und für Israel.

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