Hilfskraft bei Deportationen
Am 14. August 1943 schildert Robert Liebermann seinem Freund Erich Alenfeld in einem Brief seine Erlebnisse als jüdische Hilfskraft bei den Deportationen aus Hamburg:
Lieber Erich!
Deinen 1. Brief vom 28. Juli habe ich heute erhalten und will ihn gleich beantworten. Ich nehme an, daß Du mein Schreiben vom 1. Aug. bekommen hast, worin ich Dir unser Wohlergehen anzeigte. Der Angriff auf Hamburg war wohl eine der größten Katastrophen der Geschichte, wenn man bedenkt, daß in 4 x 2 Stunden eine Millionenstadt bis auf 4 Vorstädte mit allen ihren Vorräten in Trümmer gelegt wurde. In der Stadt stehen nur noch einige massive Hochhäuser, z. T. ausgebrannt, vielleicht 100, sonst leere Fassaden und ein endloses Trümmermeer. Viel schlimmer ist das Schicksal der Menschen, von denen man 250 als tot annimmt, die gleiche Zahl wird noch hier wohnen, während 800 mit nacktem Leben geflüchtet oder verschickt sind, leider zu spät.
Auch für uns waren es schreckliche Nächte. Das mörderische Brummen von 1000 Flugzeugen, das Detonieren der Sprengbomben, alle Augenblicke neue Feuerscheine und dazu das unausgesetzte Feuern der Flak aus allen Schlünden (die nächste schwere steht 400 m neben uns), das alles haben wir aus dem Fenster bezw. im Garten über uns ergehen lassen, da wir ja keinen Keller haben. Am zweiten Tag kam im allgemeinen Flüchtlingsstrom ein ehemaliger Bekannter mit seiner Mutter und 7 Frauen, alle total zerbombt, und wurde von uns für 12 Tage aufgenommen, bei 3 ½ Zimmern immerhin eine Leistung. Anni ging auf in der Sorge um die armen Menschen und bekleidete sie auch, soweit unsere Vorräte reichten. Leider sind ja die abgebrannten Geschäfte nicht mehr in der Lage dazu. An Eßgeschirr z. B. bekommen die Leute nur 1 Napf und 1 Löffel, Messer und Gabel sind schon Luxus. Jetzt sind sie alle weiter auf dem Lande untergebracht, nur eine sehr nette junge Frau, die hier als Beamtin tätig ist, hat sich mit Anni sehr angefreundet und bleibt bei uns wohnen. Die letzten Angriffe haben wir übrigens in einem Schützengraben zugebracht, den ich 50 m hinter dem Haus ausgehoben hatte, 2 m lang und 50 cm breit. Da fühlt man sich zu 99 % sicher, kann ich Dir sehr empfehlen. - Die Gerüchte über eine schwere Vergeltung, die hier von amtlicher Seite ausgestreut sind, haben sich wie vieles nicht bewahrheitet und kämen für uns Hamburger auch zu spät, denn die Stadt ist für 50 Jahre erledigt.
Nun aber zu unseren persönlichen Angelegenheiten. Uns geht es soweit gut, wir sind auch schlanker geworden, wenn auch die Verpflegung der letzten Wochen wieder einiges gutgemacht hat, Vollmilch gab es literweise, Brot teils kostenlos, Butter, Obst, Süßigkeiten und Bohnenkaffee in genügenden Mengen, wir haben friedensmäßig gegessen. Ferner hatten wir in unserem Stadtteil immer Wasser und elektr. Strom, was nur wenige 1000 von sich noch heute sagen können. Ferner ging unser Telefon die ganze Zeit, so daß wir auch verschiedentlich von auswärts angerufen werden konnten, waren also von allen Kalamitäten verschont. - Ich schrieb Dir noch nicht, daß ich seit 18. Mai als Lagerarbeiter bei einer Schuh-Engros-Fa. eingesetzt bin mit 20 unserer Branche, jeden Morgen um 6 aus dem Haus, Kasten und Kisten schleppen bis 5 Uhr Nchm., eine in meinem Alter von 60 Jahren schon reichlich anstrengende Tätigkeit. Unser Lager von nahezu V2 Million Paar Schuhen brannte in der ersten Nacht restlos nieder. Obgleich die Fa. keine Erlaubnis mehr bekommt, im westlichen Gebiet ein Lager zu errichten, ist ein Teil von uns noch im Freihafen tätig, wo 1 Kahn voll Schuhe eingetroffen ist. Das geht nächste Woche zu Ende. Was dann kommt, weiß niemand. Zu Aufräumungsarbeiten kommen wir vorläufig noch nicht, solange es der Staat mit Militär und S. H. D. macht. -Um Deine sorgenlose Betätigung und die Möglichkeit, Frau und Kinder reisen zu lassen, kann man Dich vom Standpunkt des Hamburgers beneiden, denn weder wird man in Zukunft hier eine erträgliche Tätigkeit finden noch irgendein Hiesiger an so etwas wie Reisen denken, es sei denn zur Evakuierung in den Osten. Von den Flüchtlingen sind schon zigtausend nach Litzmannstadt und Warthegau abgeschoben worden, so daß sie wohl mit uns nicht anders verfahren, allein aus dem Grund, um den Wohnraum für Beamte frei zu bekommen. - Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Engländer] mit der Vernichtung gewartet haben, bis der letzte J[ude] die Stadt verlassen hatte. Das war Mitte Juni. Ich habe die ganze Verladung als Hilfskraft, vom Arb [eits] - Amt kommandiert, mitgemacht. Der Abtransport der 90jährigen und Siechen, die ich selbst mit heruntertragen mußte, hat mich wenig berührt, da sie in ihren Betten in Th. wesentlich ruhiger liegen als bei den Alarmnächten in H[amburg]. Erschlagen war ich aber, als ein guter Bekannter, privil[egiert] erschien, der 3 Wochen wegen Radio konz. war, dem man die Wahl gestellt hatte, Scheidung und Th. oder Dauerlager Schlesien. Die Frau hatte für ihn das Erstere gewählt, und so erschien er mit Stern. Das sind wohl solche Fälle, auf die Du anspielst. - Als Kuriosität muß ich Dir mitteilen, daß die letzten Wochen alle Kollegen ohne Orden erschienen sind. Es sollen zuviel gelbe Abzeichen verbrannt sein, und das wurde stillschw[eigend] geduldet. Es soll aber heute schon durch Anschlag widerrufen sein.
Die Erbschaffs-Ang[elegenheit] war so weit, daß sie mich Anfang Juni um Bekanntgabe meines Sperrkontos] baten, damit sie einen größeren Betrag überweisen könnten. Da kam die Schließung der Büros, und ich habe nichts mehr gehört. Kannst Du irgend etwas erfahren, wer solche Sachen jetzt weiterführt? Es sind ja auch einige Arier Erben, und so kann ja die Sache nicht unter den Tisch fallen.
Natürlich waren wir die letzte Zeit so mit uns beschäftigt, daß wir über die äußere Lage nichts erfahren haben, gab es doch auch keine Zeitung. Wir wollen ja offiziell nur noch Defensivkrieg führen, so daß es bei den geringen Fortschritten der Gegner noch recht lange dauern kann. Hier sind natürlich viele anderer Auffassung, da sie nach dem Untergang von H[amburg] das Ende ersehnen.
Man rechnet hier stark mit einem Angriff auf Berlin. Das soll Euch nicht schrecken, denn ihr seid in Eurem Villen-Vorort so gut wie sicher. Wir sehen hier, daß hauptsächlich dichtbesiedelte Arbeiter-Viertel vorgenommen werden, die aber gründlich, daß auch kein Haus mehr ganz bleibt.
Wir wünschen Euch alles Gute und hätten gern häufigere Nachricht. Wir sind ja auch telefonisch 599 702 zu erreichen. Herzliche Grüße an Sabine und die Kinder. Dein alter Freund