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Chronik und Quellen
1943
Juni 1943

Selbstmord in Hamburg

Am 12. Juni 1943 notiert Erwin Garvens in seinem Tagebuch, dass sich das Ehepaar Lippmann in Hamburg das Leben genommen hat:

In der friedlichen Umgebung und bei der himmlischen Ruhe da draußen konnte man wirklich ein wenig den Krieg und alle die Greuel der gegenwärtigen Zeit vergessen. Die wurden uns dafür denn auch am Sonnabend, 12. Juni, wieder grausam zum Bewußtsein gebracht, indem uns sich morgens die Nachricht verdichtete, daß schon tags zuvor Lipp-manns ihre seit langem geplante Absicht in die Tat umgesetzt hatten. Am Donnerstag ist der Leitung der Gemeinde eröffnet worden, daß nunmehr sämtliche jüdischen Organisationen aufgelöst seien und nun auch der Rest der noch hier befindlichen Mitglieder der Gemeinde einschließlich der Leitung am 23. Juni nach Theresienstadt abtransportiert würde. Da haben sie dann beide die Konsequenzen gezogen. Wir hatten es nach ihren Andeutungen ja immer erwartet - die Tatsache erschütterte uns beide nicht minder, vor allem aber das Bewußtsein, daß schließlich doch das ganze Volk an diesen aller Kultur Hohn sprechenden Dingen mitschuldig ist, weil es dem blinden [... ] Fanatismus aus Angst und Stumpfheit nicht in den Arm zu fallen gewagt hat. Ich finde das viel schlimmer als die von manchen Menschen gehegte Angst vor Rache und Vergeltung. Mit recht geteilten Gefühlen gingen wir infolgedessen auch an die Pfingstfeiertage heran. Nach dem herrlichen Freitag und weil die Tage ja dies Jahr besonders spät fielen, hatte man zum mindesten auf gutes Wetter gehofft, um vielleicht ein beschauliches Dasein auf der Loggia fristen zu können. Aber auch das enttäuschte, ebenso die erhoffte Ruhe aus der Luft, im Gegenteil: schon morgens früh gab es Voralarm und gegen 10 Uhr richtigen; die Angriffe richteten sich mit erheblichen Schäden gegen Bremen und Kiel. Eine herrliche Pfingstüberraschung! Zum Tee kommen Jan und Bertha, die uns noch einige Details über Lippmanns mitteilen konnten, das Wesentliche hatten wir freilich auch schon von anderer Seite in Erfahrung gebracht - und nachts gab es dann, wie immer in den hellen Nächten des Vollmonds, nochmals eine Stunde Alarm, der sich übrigens mit wenigen Ausnahmen jede Nacht bis zum 22. Juni wiederholte. Hamburg wurde allerdings nicht angeflogen, es handelte sich auch nur um unwesentliche Störflüge - dagegen erlitten fast sämtliche Städte im Ruhrgebiet eine nach der anderen bei schwersten Angriffen mit jeweils vielen hundert englischen und amerikanischen Bombern furchtbare Beschädigungen und Verluste an Menschenleben. Gerade wo ich dies schreibe, erfahre ich, daß Margot [,..] zum zweiten Male ihre gesamte Habe in Krefeld verloren hat; sie selbst befand sich glücklicherweise bei Freunden auf einem Gut nahe Kiel. Man steht unter dem Eindruck, daß die Abwehr vollkommen ohnmächtig ist und die armen Menschen den Angriffen völlig wehrlos ausgeliefert sind. Der oberste Kriegsherr sitzt währenddessen bombensicher in Berchtesgaden auf dem Obersalzberg, wo er sich unter dem „Berghof“ noch ein zweites Schloß bauen läßt, dessen Kostbarkeit der Einrichtung als achtes Weltwunder geplant sein soll.

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