Ein Brief nach Palästina
Am 8. Juni 1943 beendet Martin Gerson einen am 15. Februar 1943 begonnenen Abschiedsbrief an seinen Bruder in Palästina, in dem er von seiner früheren Arbeit für die jüdische Umschulung schwärmt:
Mein lieber Manfred,
seit Kriegsbeginn habe ich direkt nichts mehr von Dir gehört. Von Wally habe ich des öfteren Nachricht gehabt. So weiß ich auch, wie es Dir und Deiner Familie geht. Du weißt somit auch, daß ich seit Juni 41 hier in Neuendorf bin.
Der Brief wird Dich erst nach Ende des Krieges erreichen. Wir wissen nicht, wann dies sein wird und wie das Ergebnis aussieht. Wir selbst stecken aber hier in einer Lage, wo wir nicht wissen, was uns die nächste Zukunft bringt. Eigentlich ist dies eine Situation, in der wir im Grunde schon seit Jahren leben; seitdem wir wissen, daß es hier zu einer Lösung der Judenfrage kommen muß. Du wirst Dich an meinen letzten ausführlichen Brief vom Januar 1939 erinnern. Damals schrieb ich Dir, wie ich die Lage ansehe und was mich veranlaßt hat auszuhalten. Nach dem Ende von 1938 habe ich genau gewußt, wie das Schicksal der Juden hier aussehen wird. Ich schrieb Dir damals, daß die Auswanderung eine zwingende Notwendigkeit ist. Ich glaube, wir haben mit mehr oder weniger Erfolg alles versucht, um diese zu verstärken. Ich habe Dir damals geschrieben, was mich persönlich veranlaßte hierzubleiben. Es war im Grunde die Treue zu der Arbeit, die ich seit meiner Lehrzeit in Ahlem als die meine betrachtet habe und zu der ich mich vom Fachlichen und Pädagogischen aus berufen fühlte. Du weißt, wie stark unser beider Freundschaft zu Silberberg war. Ich möchte, daß, wenn Du diese Zeilen liest, diese Freundschaft zu diesem Manne in Dir wieder wach wird. Ich weiß, daß Silberberg Dir so wie mir immer nahe ist. So wie er uns einst in der Lehre geformt, so hat er auch in uns das Ideal des Schaffens und Wirkens in der Arbeit am jungen Juden gepflanzt. Du weißt, Manfred, daß hier die Wurzeln für unsere Arbeit im Kampfe für die Berufsumschichtung lagen.
Ahlem und Silberberg waren es, die uns die Aufgabe gaben, die jüdische Jugend wieder mit der Scholle zu verbinden und Lehrmeister und Erzieher dieser jungen Juden zu werden. Du weißt, Manfred, wie dieser Ruf, der Gedanke Ahlems, wenig beachtet wurde; wir erlebten, wie von 1930 an wie dieser Ruf „zurück zur Scholle“ mehr Gehör beim deutschen Judentum fand (Du weißt, wie damals schon für mich feststand, daß diese Parole für das leidende Judentum noch zwingender sein mußte). Du wirst Dich noch erinnern, wie dann 1933 - mit der Änderung der Lage hier Berufsumschichtung zum Schlagwort der ganzen Berufswahl und Erziehung wurde.
In diesen Jahren, Manfred, wurde mir klar, daß ich Deutschland nicht verlassen durfte, solange die Berufsumschichtung hier eine Aufgabe war. Und diese Aufgabe wuchs seit 1933 von Jahr zu Jahr. Zunächst war es die Gestaltung Winkels als Ausbildungsbetrieb; das Schaffen einer Ausbildungsform in der ganzen Breite des landwirtschaftl. Berufes. Es war die Schaffung einer Erziehungsrichtung, die für den jüdischen Menschen noch nicht vorhanden war. Ich glaube, daß wir beide in den ersten Tagen 1933 den Grundstock dafür legten. Die Erziehung zu Ordnung u. Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit, Disziplin waren Wege zur Erziehung des auch innerlich fest geformten Menschen. Wir wußten damals bald, wie ein Winkler aussehen muß, und im Glauben, daß wir bald in den darauffolgenden Jahren die Freude erleben konnten, daß der Winkler Chaluz einen besonderen Typ zeigte. - Die Methodik der Ausbildung weiter war etwas, was gezeigt und erprobt werden mußte. In Winkel haben wir den Weg erprobt, um ihn später in allen Betrieben zur Anwendung zu bringen. Die turnusmäßige Ausbildung auf allen Fachgebieten, in Ackerbau + der Viehwirtschaft, im Obst- + Gemüsebau, für die Mädchen in der Landwirtschaft, im Gartenbau, in der Milchwirtschaft, im Konservieren, in der Geflügelzucht und in allen Gebieten der Hauswirtschaft. - So haben wir in Winkel wegweisend bis 1936 gearbeitet, bis mir 1936 die Aufsichtsführung über alle Ausbildungsbetriebe übergeben wurde.
In dieser Tätigkeit hatte ich dann die Möglichkeit, all das, was seit Jahren in mir erdacht und erprobt war - in allen Betrieben zur Ausführung zu bringen. Ich denke heute an alle Betriebe, die wir aufgezogen und in denen wir unsere Menschen mit den erprobten Grundsätzen von Winkel erzogen und ausgebildet haben. Bis 1938 haben wir hier ganze Arbeit gemacht, mit den Betriebsleitern in engstem Kontakt lebend, gelang es mir, diese mit dem Geiste zu erfüllen, der für diese Arbeit notwendig war. Die Liebe für junge Menschen und die Liebe für Vermittlung praktischen Könnens und fachlichen Wissens. - Alle Betriebsleiter dieser Zeit, Hans Winter, [...] etc., alle wissen, wie sie zu mir standen und ich zu ihnen - sie wissen, daß wir damals auf dem richtigen Wege waren, im Fleiß und in der Erziehung das richtige zu tun.
Nach 1938 - dem starken Eingriff durch die November-Aktion - wechselten unsere Betriebsleiter und damit ging die eigentliche fruchtbare Erziehungsarbeit praktisch zu Ende. Die Leiter der Betriebe wechselten mehrmals, jeder wanderte aus, sobald er konnte, und so ging vieles von dem Geiste verloren, der bis dahin das ganze Ausbildungswerk beseelte. - Damals war weiter praktische Arbeit notwendig. Es mußte weiter ausgebildet werden. Es mußte weiter für die Abwanderung gesorgt werden.
Die Arbeit wurde immer schwieriger, und manchmal schien es mir, daß es besser wäre aufzugeben. Doch ich hatte Lubinsky bei seinem Weggang versprochen, bis zum Ende auszuhalten. Ich sah auch niemanden, der eigene Gedanken und Kraft gehabt hätte, alles auf dem Gebiete der Berufsumschichtung weiterzumachen und alles zusammenzuhalten - damit das Werk der Berufsumschichtung in dem Sinne, wie es uns zum Gesetz geworden war, zu halten.
So blieb ich um des Werkes willen und um weiter Diener der Idee und der Menschen zu bleiben. Vergebens forderte ich die Verlegung der Ausbildung in das Ausland - mir war klar, daß Eile geboten war.
Mein Hierbleiben oder Weggehen wollte ich nicht selbst entscheiden. Ich wollte dort stehen, wo mein Einsatz am wichtigsten war, ohne Rücksicht darauf, wie es mir dabei ergehen mag. Der Reichsvertretung habe ich dies öfters in verschiedenen Briefen zum Ausdruck gebracht. Nur wenn mein Einsatz woanders auf dem Gebiete der Siedlung notwendig war, wollte ich von hier gehen - nur wenn ich der Berufsumschichtung woanders in stärkerem Umfang dienen könnte, wäre mein Weggang nötig und richtig gewesen. So habe ich von 1938 bis heute 1943 die Arbeit fünf Jahre weitergeführt. Nun ist das Ende da.
Anstelle der Berufsumschichtung ist die Arbeit in den neuen Berufen getreten - und nun ist auch diese zu Ende. Die Judenfrage wird jetzt gelöst, indem alle Juden von hier abgeschoben werden - und ob wir das Kriegsende erleben oder ob wir vorher zugrunde gehen, ist schwer niederzuschreiben. Wir wissen, wie ernst es ist - wir wissen, daß unser Schicksal in anderer Macht liegt - wir wissen, daß diese Seite uns gegenüber von unnachgiebiger Härte ist. So heißt es, dieser Ungewißheit, dieser harten Zukunft gegenüber ebenso hart zu sein wie die Härte dieses Schicksals.
Für mich persönlich gilt folgendes - Ich bin zu sehr im Geiste Soldat, um dieser Situation gegenüber weich zu werden. Geh ich zugrunde, so weiß ich, daß ich meine Pflicht getan habe und mein Dienst in der Berufsumschichtung den Einsatz eines Lebens wert war. Was mich betrübt, ist, daß ich die Weiterführung dieser Arbeit - die unbedingt mit neuem Geist erfüllt weitergehen muß -, nicht werde führen können. Meine Gedanken stehen noch mitten in dieser Arbeit, und ich fühle deutlich, daß ich in besseren Zeiten noch wesentlich zu diesen Aufgaben beitragen könnte. Auch wünschte ich noch zu leben, um die Schönheit des Lebens genießen zu können. Zwei Dinge waren es, die mich ständig erfüllten - Liebe und Arbeit. Die ganzen Jahre waren mit Arbeit angefüllt. Für die Betätigung im Sinne der Liebe zum Nächsten war wenig Zeit, und doch war nichts so stark in all den Jahren wie die Sehnsucht nach Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen, zum Bruder, zur Schwester. Nur wenige wissen, wie es in mir aussah, nur wenige, die mich außerhalb des Dienstes kannten - und ich war immer im Dienst -, wissen, daß mein Herz erfüllt war von einer ungeheuren Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Nur wenige wissen es, und diese sind mit mir untrennbar verbunden. Mögen sie weit weg, jenseits des Ozeans oder jenseits des Kanals oder an der anderen Seite des Mittelmeers sein. Ich weiß, daß diese wenigen zu jeder Stunde mir nahe sein werden, so wie ich mit meinen Gedanken in jeder Stunde bei ihnen bin.
Die anderen kannten mich nur als strengen, ernsten Pflichtmenschen, hart und unnachgiebig, hart gegen sich selbst und gegen die anderen. Ich weiß, welche Überraschung es für jeden war, der mich in Stunden der Muße in anderem Lichte sah - es waren meine glücklichsten Minuten, wenn ich erkennen durfte, daß wieder ein Mensch mich anders gesehen und so mit mir verbunden wurde. Diesen zweiten Menschen noch zu leben, diese Sehnsucht trage ich noch in mir mit. Doch wenn das Schicksal anders entscheidet, so werde ich mit der Härte verzichten und mit der Gelassenheit, zu der ich mich in all den Jahren einst erzogen habe. Mag kommen, was will, es soll mich niemand mutlos sehen. Traurig ist, daß ich meinen Kindern nicht das traurige Los ersparen kann, mit dem nun zu rechnen ist.
8.VI.43
Heute, nach langen Monaten, schreibe ich auch dieses noch nach. Nun ist es soweit -Neuendorf verlasse ich heute, nachdem meine Kameraden vor einigen Wochen von hier gingen.
Wenn mir noch die Zeit bleibt, werde ich hier eine Fortsetzung niederschreiben - sonst sollen diese Zeilen Kunde sein von meinem Weggang, vom Ende meiner Arbeit hier im Lande.
Allen meinen Freunden diesen letzten Gruß -in Herzlichkeit gedenke ich all ihrer Liebe und Treue.
Herzlichst allen