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Chronik und Quellen
1940
Februar 1940

Deportation aus Stettin

Folgender Bericht über die in der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1940 durchgeführten Deportation der jüdischen Bevölkerung Stettins wurde am 1. September 1941 von einem unbekannten Zeitzeugen verfasst:

 

P.III.c. No. 622

The Wiener Library.

Evakuierung der Juden aus Stettin.

In der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1940 wurden sämtliche Juden der Stadt Stettin gesammelt, in Eisenbahnwagen verladen und in das Generalgouvernement Polen in die Gegend von Lublin gebracht.

Über die Gründe, die dazu geführt haben, als ersten Gau Deutschlands gerade den Regierungsbezirk Stettin judenrein zu machen, ist bis heute seitens der in Frage kommenden Regierungs- und Parteistellen eine Erklärung nicht abgegeben worden. Man vermutete, besonders nach der Ausdehnung des Krieges auf Dänemark und Norwegen, strategische Gründe. Diese können aber unmöglich die Ursache gewesen sein, weil dann in erster Linie die Bezirke Meklenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein in Frage gekommen wären, und weil dann nicht die Aktion auf den Regierungsbezirk Stettin beschränkt geblieben wäre, sondern auch auf den Regierungsbezirk Köslin ausgedehnt worden wäre.

Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass es sich um einen Racheakt des Gauleiters Schwede-Coburg und des Oberbürgermeisters von Stettin, Faber handelt, denen vorher durch eine Intervention der Reichsvereinigung eine Massnahme vereitelt worden war, mit der eine Konzentrierung der Juden in Stettin und Pommern beabsichtigt war. Am 1. Januar 1940 erhielten die Juden Stettins und der Städte Stargart, Altdamm, Greifenhagen, Golnow, Stralsund und andere Städte des Regierungsbezirks Stettin die Mitteilung, dass sie bis zum 15. Januar ihre Wohnung zu räumen hätten und dass ihnen neue Unterkunftsräume in dem leerstehenden Warenhaus der Fimra Blumenreich (Inhaber Feder, Berlin) angewiesen seien. Da die Unterkunft ausserordentlich beschränkt sei, dürften nur die nötigsten Gegenstände für ein Schlafzimmer mitgenommen werden; alles andere hätte in der Wohnung zu verbleiben, und es sei abzuwarten, welche Verfügung darüber getroffen werden würde. Diese Mitteilung wurde der jüdischen Bevölkerung von der jüdischen Gemeinde Stettin und zwar „dem Beauftragten für die Auswanderung der Juden aus den Bezirken Stettin, Pommern und Grenzmark, Paul Israel Hirschfeld” zugestellt. Nicht die Gemeinden, wohl aber einzelne betroffene Personen, wandten sich an die Reichsvereinigung, die von sich aus bei der Zentralaufsichtsstelle für jüdische Angelegenheiten, vorstellig wurde. Auch die Hypothekengläubigerin des leerstehenden Grundstücks, die eine Entwertung befürchtete, beschwerte sich hierüber, der Zwangsverwalter protestierte hiergegen und die Medizinalverwaltung der Stadt Stettin äusserte sich gutachtlich dahin, dass bei dem engen Zusammenleben der Juden ohne die nötige Wasserversorgung und die erforderliche Anzahl von Toiletten, die Gefahr von Epidemien bestände. Der Erfolg war jedenfalls, dass Mitte Januar die Gemeinden eine Mitteilung der Gauleitung erhielten, dass die Verfügung zurückgenommen sei und die jüdische Bevölkerung zu benachrichtigen sei.

Schon damals wurden Befürchtungen geäussert, dass die Parteistellen diesen Rückzug nicht vergessen würden. Verschiedene Familien versuchten aus Stettin fortzuziehen. Im Allgemeinen wurden die Abzugsgenehmigungen von der Gestapo verweigert und nur drei Familien hatten das Glück, nach Berlin und Hamburg ziehen zu können.

Am 12. Februar 1940 erschienen plötzlich zwischen 8 und 9 Uhr in allen Wohnungen der Juden, Beamte der Polizei in Begleitung von S.A. und S.S. Leuten, und erklärten, dass die Juden innerhalb 4 Stunden aus Stettin abtransportiert werden würden. Ihnen wurden vorgedruckte Verzeichnisse ausgehändigt, in denen sie ihr Vermögen, sowie ihr Hab und Gut anführen mussten, und ebenso aufführen mussten, welche Gegenstände sie auf dem Transport mitnehmen wollten. Ihnen wurde geraten, warme Sachen anzuziehen und Decken mit zunehmen und soviel Gegenstände zu verpacken, wie sie in einem Koffer bequem tragen könnten. Die Polizeibeamten blieben während der ganzen Zeit in der Wohnung und versiegelten sie nachdem sie nachts um 12 Uhr die Juden in Autos der Stettiner Strassenbahn zum Hauptgüterbahnhof geschickt hatten. Mitgenommen wurden alle Personen, ohne Unterschied des Alters. Auch die beiden Altersheime wurden vollständig geräumt und das vorhandene Inventarverzeichnis den Beamten ausgehändigt. Zurück blieben lediglich diejenigen Personen, die infolge ihrer Krankheit nicht transportfähig waren. Bei Mischehen machte man einen Unterschied, ob der arische Partner zum Judentum übergetreten war. In diesem Falle wurden beide abtransportiert, während im anderen Falle beide Eheleute zurückblieben.

Auf dem Bahnhof wurden die Personen aufgefordert, alle Wertgegenstände, die sie bei sich hatten, und alles Geld abzuliefern. Es fand eine genaue Leibesuntersuchung statt, die bei den Frauen sogar von den Damen der Stettiner sogenannten besseren Gesellschaft vorgenommen wurde. Alle mussten bis zum frühen Morgen bei grimmigster Kälte die Nacht stehend zubringen, viele Personen wurden ohnmächtig und bereits in die vorhandenen Eisenbahnwagen gebracht. Jeder einzelnen Person wurde ein Betrag von 20 Zloty, Wurst und Brot ausgehändigt.

Der Zug, der eigentlich am frühen Morgen abfahren sollte, wurde noch einige Stunden zurückgehalten, weil noch Juden aus Stralsund erwartet wurden. Gegen zwei Uhr setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr über Schneidemühl bis in die Nähe von Lublin.

Schon auf der Reise waren verschiedene ältere Personen gestorben, eine Tote wurde in Schneidemühl ausgeladen. In dem Sammellager Lublin wurden die Juden auf die Orte Piaski, und Belczyce verteilt, die alten Leute blieben in Glusk bei Lublin.

Infolge der Kälte und der Anstrengung der Reise sind zahlreiche ältere Personen kurz nach der Ankunft verstorben, und in Glusk beigesetzt worden.

Die Unterkunftsverhältnisse spotteten jeder Beschreibung, es war nicht einmal genügend Stroh vorhanden, dass der grösste Teil der Personen auf der kalten Erde schlafen musste. Zahlreichen Personen sind Hände und Füsse erfroren; viele mussten Finger und Zehen abgenommen werden, und dies unter den primitivsten Umständen und mit den mangelhaften Instrumenten, die den Ärzten zur Verfügung standen.

Zwei Ärzte, denen ausdrücklich geraten war, ihr Instrumentarium mitzunehmen, ist dies mit zahlreichen anderen Gepäckstücken, die in einem besonderen Wagen mitgeführt wurden, abhanden gekommen.

Die traurige Lage der Juden dort ist allgemein bekannt. Die Entwicklung hat gezeigt, dass ihnen ein Raum zugewiesen wurde, in welchem eine Lebensmöglichkeit nicht besteht. Nachdem ca. 30 % im Laufe des ersten halben Jahres verstorben sind, fristen die übrigen ihr Leben von Spenden, die sie aus allen Gegenden der Welt erhalten.

Das Vermögen der Juden und der Erlös aus ihren zur Versteigerung gebrachten Wohnungseinrichtungen ist auf ein Treuhandkonto eingezahlt, das von einem Rechtswahrer verwaltet wird. Die Reichsfluchtsteuer ist von ihnen beigetrieben worden und aus dem Konto bezahlt worden. Für sie selbst können hiervon keine Zahlungen geleistet werden, wohl aber an Angehörige im Altreich, denen gegenüber eine Unterhaltungspflicht besteht.

Eine Auswanderung aus dem Generalgovernement wurde angeblich zunächst zugelassen (eine einzige Person ist auch ausgewandert), aber durch hohe in Devisen zu zahlende Gebühren derart erschwert, dass sie praktisch unmöglich war. Später ist dann eine Verfügung des Generalgouverneurs ergangen, dass die Auswanderung untersagt sei.

Der Zweck dieser Zeilen soll sein, der Welt noch einmal diese längst in Vergessenheit geratenen Ereignisse vor Augen zu führen, sie aufzurufen, alles zu tun, um den armen Menschen dort zu helfen und niemals zu vergessen, mit welcher Grausamkeit hier einen politisch gänzlich überflüssige Massnahme durchgeführt worden ist.

1. September 1941.

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