Papst verzichtet auf Stellungnahme gegen Judenverfolgung
Am 30. April 1943 erklärt Papst Pius XII. dem Bischof von Berlin, Konrad von Preysing, in einem Schreiben, warum er nicht öffentlich gegen die Judenverfolgung predigt:
Unserem ehrwürdigen Bruder Konrad von Preysing, Bischof von Berlin
Zunächst sprechen Wir dir, ehrwürdiger Bruder, innigsten Dank aus für die guten Wünsche, die du persönlich wie im Namen des Klerus und deiner Diözesanen Uns bei verschiedenen Gelegenheiten, noch im Dezember zu den hl. Festen um die Jahreswende und zuletzt zum Jahrestag Unserer Wahl zum Obersten Hirten der Kirche, ausgesprochen hast. Wir wissen, aus welch treuem und von Glaubensgeist erfüllten Herzen sie kommen. Wir danken dir und deiner Herde besonders für euer frommes Gebet. In deinem Schreiben von 27. Februar d. J. versicherst du Uns eurer inständigen Fürbitte aus dem Bewußtsein heraus, „daß wohl selten im Anfang eines Pontifikats einem Papste eine so schwere Last von Gott aufgebürdet worden ist“ wie Uns „durch den furchtbaren Weltkrieg und all das, was er an Schmerzlichem und Sündhaftem im Gefolge hat“. Es ist immer Vorsicht geboten, wenn man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleichen will, und es liegt Uns fern, die Sorgen und Nöte, die auf die Schultern Unserer Vorgänger gedrückt haben, zu unterschätzen. Aber sicher ist der ehrliche Wille der Päpste, in weittragenden und erschütternden Auseinandersetzungen unter den Mächten dieser Erde allen mit voller Unparteilichkeit zu begegnen, gleichzeitig aber auch die Belange der hl. Kirche sorgsam zu wahren, selten einer Belastungsprobe ausgesetzt gewesen, wie der Hl. Stuhl sie gegenwärtig zu bestehen hat. Was indes noch mehr bedrückt, ist, wie du richtig sagst, „all das, was der Krieg an Schmerzlichem und Sündhaftem im Gefolge hat“. Die hemmungslos steigende sachliche Grausamkeit der Kriegstechnik macht den Gedanken an eine noch lange Dauer des gegenseitigen Mordens unerträglich; was Uns seit Jahr und Tag an Unmenschlichkeiten zu Ohren kommt, die ganz und gar außerhalb der ernsthaften Kriegsnotwendigkeiten liegen, wirkt nachgerade lähmend und schaudererregend. Die Flucht in das Gebet, zum allwissenden Gott und zu dem Erlöser im Tabernakel geben allein die sittliche Kraft, dem Eindruck solchen Geschehens seelisch zu widerstehen.
Auch ihr habt die Schrecken des Krieges in der unsagbar schweren Form der Luftangriffe erfahren müssen. Wir sprechen dir und deinen Diözesanen nochmals Unser teilnehmendes tiefes Bedauern zum Einsturz der Hedwigskathedrale infolge des letzten Angriffs auf Berlin aus. Die Gläubigen sollen wissen, daß Wir täglich im besonderen für die beten und Unseren Segen spenden, die an diesem Tage auf der einen oder anderen Seite von Luftangriffen heimgesucht werden. Wir tun zur Minderung der Kriegsleiden, was in Unseren Kräften steht, und haben, ohne Uns von der geringen Aussicht auf Erfolg abhalten zu lassen, Uns immer wieder für möglichste Schonung der Zivilbevölkerung eingesetzt. Es ist nicht Unsere Schuld, daß eine nach allen Seiten gleichmäßige Behandlung der Kriegsfragen Uns nötigt, jetzt, wo Deutschland der unter den Luftangriffen am stärksten leidende Teil geworden ist, bei Vermittlungen umsichtig zu Werke zu gehen -ganz abgesehen davon, daß deutsche amtliche Stellen anläßlich der Anwesenheit des Erzbischofs von New York in Rom, oder besser anläßlich der Gerüchte, die um seinen Rombesuch gingen, die Öffentlichkeit haben wissen lassen, Deutschland sei an Bemühungen des Papstes um eine Humanisierung des Krieges nicht interessiert. Unsere Schritte für Menschlichkeit im Kriege gelten in gleicher Sorge allen Kriegsopfern, allen materiell oder seelisch unter der Kriegsnot Leidenden - und diese hoffen in Deutschland ebenso auf Unsere Hilfe wie in der übrigen Welt.
Auch Unseren Nachrichtendienst für Kriegsgefangene hätten Wir sehr gerne Deutschland ebenso zugute kommen lassen wie anderen Ländern. Der Nachrichtendienst hat sich aus den an den Heiligen Stuhl herantretenden Anfragen und Bitten um Vermittlung, denen vielfach von anderen Stellen gar nicht hätte entsprochen werden können, ganz von selbst zu dem entwickelt, was er jetzt ist. Zusammen mit Unserer übrigen Kriegshilfe hat er - Wir sagen das mit tiefem Dank gegen Gott - viel und umfassend Gutes schaffen können. Es ist Uns unerfindlich, welche sachlichen Gründe die deutschen Behörden veranlasst haben könnten, dem Päpstlichen Hilfswerk den Eingang nach Deutschland zu sperren. Auch die im Schreiben des Kommissariats der Fuldaer Bischofskonferenz vom 12. März 1942 gemachte Andeutung ist Uns nicht verständlich. Wenn die staatlichen Stellen unberechtigterweise glaubten, vor dem Päpstlichen Nachrichtendienst für Kriegsopfer warnen zu sollen, so konnte man es füglich ihnen selbst überlassen, eine dahingehende Mitteilung an die Bischöfe zu machen. Die deutsche Sperre für Gefangenennachrichten von hier hat sich u. a. fühlbar gemacht, als es sich darum handelte, einige tausend Meldungen von deutschen Kriegsgefangenen, die Unserem Nachrichtendienst zugegangen waren, an die Angehörigen in Deutschland weiterzuleiten. Es ist schließlich gelungen, aber nur auf Umwegen und mit größten Schwierigkeiten. Seit Herbst 1942 kommen aus Deutschland, und zwar in immer steigender Zahl, Anfragen über Vermißte oder Gefangene, deren letzter Standort an der russischen Front, meistens bei Stalingrad war. Es spricht eine erschütternde Not aus diesen Anfragen. Von Unserer Seite wird jeder nur mögliche Versuch gemacht, um Mitteilungen über die in Rußland lebenden Kriegsgefangenen zu erhalten, bis jetzt leider ohne Erfolg.
Wir sind dir, ehrwürdiger Bruder, dankbar für die klaren und offenen Worte, die du bei verschiedenen Gelegenheiten an deine Gläubigen und damit an die Öffentlichkeit gerichtet hast; Wir denken u. a. an deine Ausführungen vom 28. Juni 1942 über die christliche Rechtsauffassung; vom Totensonntag im vergangenen November über das Recht auf Leben und Liebe, das jedem Menschen zusteht; Wir denken besonders an deinen Adventshirtenbrief, der ja auch für die westdeutschen Kirchenprovinzen bestimmt war, über die Herrschaftsrechte Gottes, die Rechte des Einzelnen und der Familie; auch in der schließlich zur Verlesung gekommenen Fassung war er immer noch sehr eindrucksvoll.
Man wende nicht ein, daß bischöfliche Kundgebungen, die mutvoll der eigenen Regierung gegenüber für die Rechte der Religion, der Kirche, der menschlichen Persönlichkeit, für Schutzlose, von der öffentlichen Macht Vergewaltigte eintreten, gleichviel ob die Betroffenen Kinder der Kirche oder Außenstehende sind - daß solche Kundgebungen eurem Vaterland in der Weltöffentlichkeit schaden. Jenes mutvolle Eintreten für Recht und Menschlichkeit stellt euer Vaterland nicht bloß, wird euch und ihm vielmehr in der Weltöffentlichkeit Achtung schaffen und kann sich in Zukunft sehr zu seinem Besten auswirken.
Als oberster Hirt der Gläubigen sorgen Wir Uns auch darum, daß eure Katholiken ihre Überzeugungen und deren Bekenntnis rein halten von einem Sichabfinden mit Grundsätzen und Taten, die dem Gesetz Gottes und dem Geiste Christi widerstreiten, ja ihnen mehr als einmal Hohn sprechen. Es hat Uns, um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen, getröstet zu hören, daß die Katholiken, gerade auch die Berliner Katholiken, den sogenannten Nichtariern in ihrer Bedrängnis viel Liebe entgegengebracht haben, und Wir sagen in diesem Zusammenhang ein besonderes Wort väterlicher Anerkennung wie innigen Mitgefühls dem in Gefangenschaft befindlichen Prälaten Lichtenberg. - Aber schon der Gedanke, es könnten allmählich, vielleicht fast unvermerkt, jene Auffassungen durch die Macht der Gewöhnung und unter der Wirkung ihrer unaufhörlichen Verbreitung Eingang auch in die Gedankenwelt der Katholiken, besonders ihrer jungen Generation finden, schon dieser Gedanke schmerzt Uns. Du weißt, daß der Heilige Stuhl die Vorgänge bei euch auf liturgischem Gebiet für wichtig genug gehalten hat, um sich mit ihnen zu befassen. Wir gestehen aber, daß Uns die Reinerhaltung der christlichen Überzeugung von aller ihr drohenden Vergiftung noch ungleich mehr am Herzen liegt als jene liturgischen Fragen. Was würde ein noch so schöner Gottesdienst im Kirchenraum bedeuten, wenn draußen im Leben Denken und Tun der Gläubigen dem Gesetz und der Liebe Christi entfremdet wären!
Den an Ort und Stelle tätigen Oberhirten überlassen Wir es abzuwägen, ob und bis zu welchem Grade die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen und Druckmitteln im Falle bischöflicher Kundgebungen sowie andere vielleicht durch die Länge und Psychologie des Krieges verursachten Umstände es ratsam erscheinen lassen, trotz der angeführten Beweggründe, ad maiora mala vitanda, Zurückhaltung zu üben. Hier liegt einer der Gründe, warum Wir selber Uns in Unseren Kundgebungen Beschränkung auferlegen; die Erfahrung, die Wir im Jahre 1942 mit päpstlichen, von Uns aus für die Weitergabe an die Gläubigen freigestellten Schriftstücken gemacht haben, rechtfertigt, soweit Wir sehen, Unsere Haltung.
Wir haben diese Fragen ausführlicher mit dir besprochen, nicht als ob du Unserer Ermunterung zum Handeln bedürftest, sondern im Gegenteil, weil Wir einerseits dein starkes Empfinden für die Ehre der hl. Kirche und deinen Mut kennen, andererseits wissen, daß du die Gesamtlage mit umsichtiger Nüchternheit beurteilst. Für den Stellvertreter Christi wird der Pfad, den er gehen muß, um zwischen den sich widerstreitenden Forderungen Seines Hirtenamts den richtigen Ausgleich zu finden, immer verschlungener und dornenvoller.
Wir haben die gegen die Kirche gerichteten Maßnahmen vor Augen, von denen deine Schreiben Uns Mitteilung machten: Einziehung von Kirchengut, Wegnahme deines Bischöflichen Seminars Hedwigshöhe, Einschränkung oder Unterbindung der Seelsorge an den nach Deutschland verbrachten Polen, auch des Religionsunterrichts für polnische Kinder, Eheverbot für die Polen u.s.w., alles immer wieder nur Teilstücke aus dem größeren Rahmen und umfassenderen Plan einer Drosselung der kirchlichen Lebenskraft im deutschen Machtraum. Am härtesten getroffen ist, wie du weißt, die katholische Kirche im Warthegau. Wir leiden schwer unter der namenlosen Not der Gläubigen dortselbst, um so mehr, als jeder Versuch, für sie bei den Regierungsstellen zu vermitteln, auf schroffste Ablehnung gestoßen ist. Die Rücksichtnahmen, von denen weiter oben die Rede war, im Sonderfall des Warthegaus vor allem die Befürchtung, den Rest von Seelsorge, der dort noch besteht, auch zu gefährden, haben Uns bis jetzt davon zurückgehalten, die dortigen kirchlichen Zustände offen zur Sprache zu bringen.
Über die Lage und das Schicksal der in Konzentrationslager verbrachten Priester, unter denen die Polen weitaus an erster Stelle stehen, sind Wir verhältnismäßig gut unterrichtet. Wenn sich irgendwie Gelegenheit bietet, möge man jene Priester wie ihre Mitgefangenen immer wissen lassen, daß ihnen Unser innigstes Mitgefühl gehört, daß in dieser von Leid und Grauen erfüllten Zeit Uns wenige Schicksale so nahe gehen wie das ihre und daß Wir viel und täglich für sie beten.
Der Wortlaut der Denkschrift, den der deutsche Episkopat an die höchsten Stellen des Reichs gelangen ließ, liegt Uns vor. Nun wißt ihr ja selbst, wie geringe Aussicht auf Erfolg ein Schriftstück hat, das als vertrauliche Eingabe an die Regierung gerichtet ist; doch wird die Denkschrift auf alle Fälle den Wert einer Rechtfertigung des Episkopats vor der Nachwelt haben.
Für die katholischen Nichtarier wie auch für die Glaubensjuden hat der Heilige Stuhl caritativ getan, was nur in seinen Kräften stand, in seinen wirtschaftlichen und moralischen. Es hat von seiten der ausführenden Organe Unseres Hilfswerks eines Höchstmaßes von Geduld und Selbstentäußerung bedurft, um den Erwartungen, man muß schon sagen den Anforderungen der Hilfesuchenden zu entsprechen, wie auch der auftauchenden diplomatischen Schwierigkeiten Herr zu werden. Von den sehr hohen Summen, die Wir in amerikanischer Währung für Übersee-Reisen von Emigranten ausgeworfen haben, wollen Wir nicht sprechen: Wir haben sie gerne gegeben, denn die Menschen waren in Not; Wir haben um Gotteslohn geholfen, und haben gut daran getan, irdischen Dank nicht in Rechnung zu stellen. Immerhin ist dem Heiligen Stuhl auch von jüdischen Zentralen wärmste Anerkennung für sein Rettungswerk ausgesprochen worden.
Zu dem, was im deutschen Machtraum zur Zeit gegen die Nichtarier vor sich geht, haben Wir in Unserer Weihnachtsbotschaft ein Wort gesagt. Es war kurz, wurde aber gut verstanden. Daß den nichtarischen oder halbarischen Katholiken, die Kinder der Kirche sind wie alle anderen, jetzt, im Zusammenbruch ihrer äußeren Existenz und in ihrer seelischen Not, Unsere Vaterliebe und Vatersorge in erhöhtem Maße gilt, brauchen Wir nicht erst zu versichern. So wie die augenblickliche Lage ist, können Wir ihnen leider keine andere wirksame Hilfe zukommen lassen als Unser Gebet. Wir sind aber entschlossen, je nach dem, was die Umstände heischen oder erlauben, von neuem Unsere Stimme für sie zu erheben.
Über die beharrliche Treue der deutschen Katholiken zu ihrem Glauben und ihrer Kirche haben Wir gerade in diesen Tagen wieder sehr Trostvolles gehört. Hinter allem Bedrückenden und Erhebenden der Gegenwart steht für Uns jedoch die eine schwere Zukunftsfrage: Wie soll die katholische Jugend, wie die kommenden Generationen, einmal ganz erfaßt von dem geschlossenen System christentumsfremder Beeinflussung und Erziehung, das durch die Parteiorganisationen, die neue Schule und die schon bekannten Bestimmungen des zu erwartenden Volksgesetzbuches gebildet wird, wie sollen sie ihren katholischen Glauben unverfälscht bewahren und weitergeben? Wir können Uns vorerst nur trösten mit der Verheißung der Hl. Schrift: „Gott ist treu. Er wird euch nicht über eure Kräfte versuchen lassen, sondern mit der Versuchung auch den guten Ausgang schaffen, daß ihr bestehen könnt.“ (1 Kor. 10,13)
Als Unterpfand dieses „guten Ausgangs“ erteilen Wir - doppelt und dreifach „im Zeichen des Kreuzes“, wie du es in deinem Hirtenwort zum letzten Papstsonntag sagst -dir selbst, ehrwürdiger Bruder, deinen Mitarbeitern im Apostolat und allen deinen Diö-zesanen in väterlicher Liebe und aus der Fülle des Herzens den erbetenen Apostolischen Segen.