Bericht zum Stand der „Endlösung der Judenfrage“
Am 19. April 1943 übersendet Richard Korherr die zweite, auf Wunsch Himmlers überarbeitete Fassung seines statistischen Berichts über die „Endlösung der europäischen Judenfrage“:
Die Endlösung der europäischen Judenfrage Statistischer Bericht
Notwendige Vorbemerkung
Judenstatistiken sind immer mit Vorbehalt aufzunehmen, da bei der zahlenmäßigen Erfassung des Judentums stets mit besonderen Fehlern zu rechnen ist. Fehlerquellen liegen u. a. in Wesen und Entwicklung des Judentums, seiner Abgrenzung, seiner mehrtausendjährigen ruhelosen Wanderschaft, den zahllosen Aufnahmen und Austritten, den Angleichungsbestrebungen, der Vermischung mit den Wirtsvölkern, vor allem aber im Bemühen des Juden, sich der Erfassung zu entziehen. Schließlich hat die Statistik teils als Notbehelf, teils wegen der weitgehenden Übereinstimmung zwischen jüdischer Rasse und jüdischem Glauben, teils im konfessionellen Denken des letzten Jahrhunderts befangen, bis zuletzt die Juden nicht nach ihrer Rasse, sondern nach ihrem religiösen Bekenntnis erfasst. Die Erfassung der Juden nach der Rasse gestaltet sich auch - vor allem durch die äußerliche Verkleinerung des Judentums infolge Austritt, Übertritt, weiter zurücldiegender rassischer Vermischung und durch Tarnung - sehr schwierig, wie die mißlungene Erfassung der Rassejuden in Österreich 1923 und die Erhebung der Voll-, Halb- und Vierteljuden bei der deutschen Volkszählung 1939 zeigen. Jüdische Bestandszahlen sind im allgemeinen nur als Mindestzahlen zu werten, wobei der Fehler mit geringerem jüdischem Blutanteil immer größer wird. Fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet die Erstellung einer einigermaßen zuverlässigen Statistik über Bestand und Bewegung des Judentums in den gesamten Ostgebieten seit Beginn des zweiten Weltkrieges, der unkontrollierbare Massen von Juden in Bewegung gebracht hat.
Bilanz des Judentums
Welt
Die Gesamtzahl der Juden auf der Erde schätzte man im letzten Jahrzehnt auf 15 bis 18 Millionen, zuweilen auch auf weit über 20 Millionen. Das Statistische Reichsamt gab für das Jahr 1937 die Zahl mit 17 Millionen an.
Europa
Davon leben um 1937 etwa 10,3 Millionen (60 vH) in Europa und 5,1 Millionen (30 vH) in Amerika. Um 1880 hatte der europäische Anteil noch 88 vH, der amerikanische erst gut 3 vH betragen.
In Europa häufen bzw. häuften sich die Juden vor allem in den nunmehr von Deutschland besetzten früheren polnisch-russischen und baltischen Gebieten zwischen Ostsee und Finnischem Meerbusen und dem Schwarzen und Asowschen Meer, daneben in den Handelsmittelpunkten Mittel- und Westeuropas, im Rheingebiet und an den Küsten des Mittelmeers.
Deutschland
Die Judenbilanz des Reiches ist an die verschiedenen großen Zeiträume seit der jeweiligen Machtübernahme in seinen Teilgebieten gebunden. Erst von diesen Zeitpunkten an beginnt das Abfluten der Juden in großem Stil. Vorher gab es in manchen Gebieten sogar eine Zunahme der Juden als Folge des Abflusses aus Gebieten, die zum Reiche kamen.
Zur Zeit der jeweiligen Machtübernahme und am 31.12.1942 betrug die Zahl der Juden in
Gebiet jeweilige
Machtübernahme davor 31.12.1942
Altreich 30.1.1933 561.000 51.327
Sudetenland 29.9.1938 30.000
Ostmark 13.3.1938 220.000 8.102
Böhmen und Mähren 16.3.1939 118.000 15.550
Ostgebiete Sept. 1939 790.000 233.210
(mit Bialystok)
Generalgouv. Sept. 1939 2.000.000 297.914
(mit Lemberg)
Zusammen 3.719.000 606.103
Zu den Zahlen vor der jeweiligen Machtübernahme ist ergänzend zu bemerken, daß sie z. T. ineinanderfließen. So strömte der Großteil der 30 000 Juden des Sudetenlandes (27 000 Glaubensjuden) vor der Vereinigung mit dem Reich ohne Überschreitung einer Staatsgrenze und ohne Vermögensverluste rasch ins Protektorat ab, ist also in den Zahlen für Böhmen und Mähren von 1939 zu einem Teil wieder enthalten. Das Sudetenland zählte am 17.5.1939 nur mehr 2649 Juden. (…)
Altreich und Ostmark hatten bis zum Kriege weit über die Hälfte ihres - zivilisierten und sterilen - Judenbestandes bereits abgegeben, vor allem durch Auswanderung, während im Osten der Zusammenbruch der für die Zukunft gefährlichen fruchtbaren Judenmassen überwiegend erst im Kriege und besonders seit den Evakuierungsmaßnahmen von 1942 deutlich wird.
Das Judentum hat sich damit von 1933 bis 1943 innerhalb des erweiterten Reichsgebietes, also im zeitlich-räumlichen Bereich der nationalsozialistischen Staatsführung, um rund 3,1 Millionen Köpfe vermindert. Im Altreich sank der Bestand auf fast 1/12, in der Ostmark gar auf 1/27, im Generalgouvernement und in Böhmen und Mähren auf etwa 1/7, in den Ostgebieten auf 1/3 bis 1/4.
Auswanderung, Sterbeüberschuß und Evakuierung.
Dieser Rückgang ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von Auswanderung, Sterbeüberschuß und Evakuierung, wozu noch geringfügige sonstige Veränderungen kommen (z. B. genehmigte Austritte, Anerkennung als Mischling I. Grades, Neuerfassung, Karteibereinigung), worüber die folgende Tabelle Aufschluß gibt. (…)
Die Bilanz für Altreich, Ostmark und Böhmen und Mähren zusammen sieht folgendermaßen aus:
Anfangsbestand der Juden bei jeweiliger Machtübernahme: 929.000
Veränderungen durch:
Auswanderung - 557.357
Sterbeüberschuß - 82.776
Evakuierung - 217.748
Neuerfassung usw. + 3.860
- 854.021
Bestand am 31.12.1942 74.979
Der außerordentliche Sterbeüberschuß der Juden z. B. im Altreich ist infolge der anormalen Überalterung und Lebensschwäche des Judentums ebenso auf Geburtenarmut wie auf hohe Sterblichkeit zurückzuführen: im 1. Viertel 1943 zählte man 22 Geburten, 1113 Sterbefälle. Die Zahlen über Auswanderung und Sterbeüberschuß (Kriegswirren!) der Ostgebiete und des Generalgouvernements sind nicht nachprüfbar. Sie sind das berechnete Ergebnis aus Anfangs- und Endbestand und Evakuierungen der Juden.
Vom 1.1.1943 bis 31.3.1943 fand aus dem Reichsgebiet mit Böhmen und Mähren, neuen Ostgebieten und Bezirk Bialystok wieder die Evakuierung von 113 015 Juden nach dem Osten statt, ebenso die Wohnsitzverlegung von 8025 Juden ins Altersghetto Theresienstadt. Die Judenzahl in Deutschland, namentlich in den Ostgebieten, wurde dadurch neuerdings stark herabgesetzt.
Mischehen
Die Zahl der Juden im Reichsgebiet von 1939 enthält am 31.12.1942 einen nicht geringen Teil von Juden in Mischehen:
Juden davon Rest
(31.12.1942) Mischehen
Altreich 51.327 16 760 34.567
Ostmark 8.102 4.803 3.299
Böhmen und Mähren 15,550 6.211 9.339
Zusammen 74.979 27.774 47.205
Die Judenzahl des Altreichs hat sich inzwischen weiter von 51327 am 31.12.1942 auf 31910 am 1.4.1943 vermindert. Unter diesen 31910 Juden leben über die Hälfte, nämlich 16 668, in Mischehe, davon 12117 in privilegierter und 4551 in nicht privilegierter Mischehe. Außerdem dürfte in der Aufstellung noch eine größere Anzahl von Juden mitgezählt sein, die schließlich als unauffindbar abgeschrieben werden müssen, wie es auch bei jedem Einwohnerkataster immer wieder vorkommt. Der Bestand der Juden im alten Reichsgebiet (ohne Ostgebiete) nähert sich seinem Ende.
Arbeitseinsatz
Von den im Reichsgebiet lebenden Juden befanden sich zu Beginn des Jahres 1943 21659 in kriegswichtigem Arbeitseinsatz. Dazu kommen in kriegswichtigem Arbeitseinsatz 18 435 sowjetrussische Juden im Inspekteur-Bereich Königsberg,
50570 staatenlose und ausländische Juden im Lagereinsatz Schmelt (Breslau) und 95112 ehem. polnische Juden im Ghetto- und Lagereinsatz im Inspekteur-Bereich Posen.
Konzentrationslager
In Konzentrationslagern befanden sich am 31.12.1942 insgesamt 9127 Juden, in Justizvollzugsanstalten 458 Juden. Die Belegstärke der Konzentrationslager mit Juden war folgende:
Mauthausen/Gusen 79
Liiblin 7.324
Sachsenhausen 46
Auschwitz 1.412
Stutthof 18
Buchenwald 227
Ravensbrück 3
Altersghetto
Im einzigen Altersghetto Theresienstadt gab es Anfang 1943 zusammen 49392 Juden, die von den Bestandszahlen abgeschrieben sind.
Evakuierung aus anderen europäischen Ländern
Im deutschen Macht- und Einflußbereich außerhalb der Reichsgrenzen fanden folgende Evakuierungen von Juden statt:
Länder bis 31.12.42 i. Quartal 43
Frankreich (soweit vor dem 41.911 7.995
10.11.1942 besetzt)
Niederlande 38.571 13.832
Belgien 16.886 1.616
Norwegen 532 158
Griechenland - 13.435
Slowakei 56.691 854
Kroatien 4.927 -
Bulgarien - 11.364
Außerdem in den russischen Gebieten 633.300 -
einschl. der früheren baltischen Länder
seit Beginn des Ostfeldzuges
Zusammen 792.818 49.254
Europäische Judenbilanz.
Die Verminderung des Judentums in Europa dürfte damit bereits an 4 Millionen Köpfe betragen. Höhere Judenbestände zählen auf dem europ. Kontinent (neben Rußland mit etwa 4 Mill.) nur noch Ungarn (750000) und Rumänien (302000), vielleicht noch Frankreich. Berücksichtigt man neben dem angeführten Rückgang die jüdische Auswanderung und den jüdischen Sterbeüberschuß in den außerdeutschen Staaten Mittel- und Westeuropas, aber auch die unbedingt vorkommenden Doppelzählungen infolge der jüdischen Fluktuation, dann dürfte die Verminderung des Judentums in Europa von 1937 bis Anfang 1943 auf 4 V2 Millionen zu schätzen sein. Dabei konnte von den Todesfällen der sowjetrussischen Juden in den besetzten Ostgebieten nur ein Teil erfaßt werden, während diejenigen im übrigen europäischen Rußland und an der Front überhaupt nicht enthalten sind. Dazu kommen die Wanderungsströme der Juden innerhalb Rußlands in den asiatischen Bereich hinüber. Auch der Wanderungsstrom der Juden aus den europäischen Ländern außerhalb des deutschen Einflußbereichs nach Übersee ist eine weitgehend unbekannte Größe.
Insgesamt dürfte das europäische Judentum seit 1933, also im ersten Jahrzehnt der nationalsozialistischen Machtentfaltung, bald die Hälfte seines Bestandes verloren haben. Davon ist wieder nur etwa die Hälfte, also ein Viertel des europäischen Gesamtbestandes von 1937, den anderen Erdteilen zugeflossen.