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Chronik und Quellen
1943
April 1943

Ansiedlung in Palästina empfohlen

Die Jewish Agency für Palestine empfiehlt mittels eines Memorandums am 14. April 1943 die Rettung der verfolgten Juden und ihre Ansiedlung in Palästina:

Memorandum

Vorgelegt bei der Bermuda-Konferenz über Flüchtlingsfragen von der Jewish Agency for Palestine

April 1943

1. Mit der Vorlage dieses Memorandums im Namen der Jewish Agency for Palestine wollen wir zunächst einige Betrachtungen zum Gegenstand und Charakter der Bermuda-Konferenz vortragen.

2. Angesichts der unermesslichen Tragödie, die den mehr als vier Millionen Juden bevorsteht, die Schätzungen zufolge in den von den Nazis besetzten Ländern noch am Leben sind, gab es die Hoffnung, dass die Regierungen Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und anderer Mitgliedsländer der Vereinten Nationen bereit sein würden, praktische Schritte zu unternehmen, die der ungeheuren Tragweite des Problems angemessen sind. Leider geben die Erklärungen von Außenminister Anthony Eden und US-Außenminister Cordell Hull wenig Anlass für solche Hoffnung. Die Themenstellung der Bermuda-Konferenz ist derart eng gefasst, dass sie sich offenbar nur mit Randfragen des Problems befassen soll statt mit dem Problem selbst. Zwar ist die Jewish Agency for Palestine für alle Maßnahmen dankbar, die darauf abzielen, die Leben von wenigstens einigen europäischen Juden zu retten, aber sie würde ihre elementarste Pflicht versäumen, wenn sie nicht auf eine Situation aufmerksam machen würde, die jenseits aller üblichen politischen Abwägungen nach einem möglichst breit angelegten Plan für die Rettung dieser vier Millionen Juden verlangt, denen unmittelbar die physische Vernichtung droht.

3. Die Jewish Agency for Palestine ist sich der Tatsache zutiefst bewusst, dass die durch den Krieg verursachten Leiden zu der Bürde gehören, die jedes Volk zu tragen hat, und dass die Juden nicht das einzige Volk sind, das solchen Leiden ausgesetzt ist. Aber man darf auch nicht vergessen, dass allein die Juden vom Feind für die endgültige und vollständige Vernichtung ausgewählt wurden. Sollte die angekündigte Politik des Feindes ungehindert weitergehen, ist es nicht ausgeschlossen, dass bis zu dem Zeitpunkt, da der Krieg gewonnen sein wird, auch der größte Teil der jüdischen Bevölkerung Europas ausgerottet sein wird. Unter diesen Umständen ist es unvorstellbar, dass die Demokratien, die ja für die Befreiung der Welt kämpfen, außerstande sein sollten, die extreme Notlage, in der sich die Juden in den von den Nazis besetzten Ländern befinden, in vollstem Umfang zur Kenntnis zu nehmen.

4. Die Jewish Agency for Palestin e ist sich über die enormen - militärischen und sonstigen - Schwierigkeiten, die mit diesem Problem Zusammenhängen, völlig im Klaren. Und dennoch wagt sie zu hoffen, dass weitsichtiges staatsmännisches Handeln seitens der Vereinten Nationen einen Weg weisen wird, um dieses Problem anzugehen, ohne die Fortführung des Kriegs gegen den Feind in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen.

5. Die Memoranden, die der Bermuda-Konferenz über Flüchtlingsfragen vom American Joint Emergency Committee über die Lage der europäischen Juden sowie vom British Joint Emergency Consultative Committee vorgelegt wurden, enthalten eine Reihe von Vorschlägen zur Behandlung verschiedener Aspekte des Problems. Mit dem hier vorgelegten Memorandum verweisen wir auf die große Chance, die Palästina für die Rettung und soziale Eingliederung der Juden bedeutet. Wir tun dies in dem Glauben, dass Palästina in allen Plänen, die zur Bewältigung dieser Situation verabschiedet werden dürften, einen bedeutsamen Beitrag leisten kann und sollte.

6. In dem Memorandum, das die Jewish Agency for Palestine der Regierungskonferenz über das Flüchtlingsproblem übergeben hat, die im Juli 1938 auf Einladung von Präsident Roosevelt in Evian stattfand, wurden die Möglichkeiten hervorgehoben, die Palästina für eine umfassende Neubesiedlung durch jüdische Flüchtlinge bietet. Dabei wurde dargelegt, dass die Aufnahmefähigkeit Palästinas für neue Einwanderer nicht eine Sache der Spekulation ist, sondern auf den Erfahrungen einer mehrere Jahrzehnte dauernden Kolonisierung beruht und auf der nachweislich rasch sich entwickelnden Wirtschaft. Wie außerdem betont wurde, ist Palästina unter den Ländern, die für eine jüdische Einwanderung in Frage kommen, insofern einmalig, als es das einzige Land ist, in das Juden - mit internationaler Billigung - „von Rechts wegen und nicht aufgrund von Duldung“ kommen. Als Jüdische Nationale Heimstätte ist es vor allem das Land, für das Juden das Recht auf Zuwanderung beanspruchen können.

7. Die Lage der Juden in Europa hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert und zeigt sich heute als permanentes Grauen. Unglückseligerweise gibt es aus politischen und anderen Gründen kaum eine Chance für größere Rettungsaktionen - durch Emigration und Aufnahme in anderen Ländern als Palästina. Die Annahme, dass die Welt sich einteilen lässt in Länder, in denen die Juden nicht leben können, und Länder, in die sie nicht einreisen dürfen, hat sich als nur allzu richtig erwiesen.

Anders im Fall Palästina, wo sich trotz großer Hindernisse, trotz Kriegsausbruch und Abriegelung des Mittelmeers die Dinge kontinuierlich und zügig entwickelt haben und wo abermals eine beträchtliche Anzahl von Einwanderern aufgenommen wurde. Die jüdische Bevölkerung, die am Ende des letzten Krieges 65 000 Menschen ausmachte, ist heute auf etwa 550 000 angewachsen; und in den Jahren seit Hitlers Machtübernahme hat Palästina mehr Einwanderer aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten Europas aufgenommen als jedes andere Land. Palästina sollte unbedingt sowohl als erste Anlaufstation für jüdische Flüchtlinge in Betracht gezogen werden, wo man sie fürs Erste unterbringen und ernähren könnte, als auch als ein Ort, an dem die Flüchtlinge längerfristig in das Wirtschaftsleben integriert werden könnten. Und zwar aus folgenden Gründen:

a) Als Juden, die in der Jüdischen Nationalen Heimstätte ankommen, würden diese Flüchtlinge von der dortigen jüdischen Bevölkerung in jeder erdenklichen Weise willkommen geheißen. Den Geist, der die jüdische Gemeinschaft in Palästina beseelt, drückt ein kürzlich verfasstes Manifest aus, in dem es hieß: „Die Juden Palästinas erklären feierlich ihren Willen und ihre Bereitschaft, allen Juden, die besetzte Gebiete verlassen müssen oder schon verlassen haben, Zuflucht zu gewähren, ihr tägliches Brot mit ihnen zu teilen, ihnen ihre Häuser zu öffnen und ihnen mit Kleidung und allen anderen Dingen auszuhelfen, damit ihren Brüdern und Schwestern, ihren Vätern und Müttern erspart bleibt, wie Schafe zur Schlachtbank geführt zu werden.“ So würden sich die Flüchtlinge nicht wie Exilierte, sondern wie Heimkehrer fühlen. Das wäre zugleich der erste Schritt zu ihrer psychologischen Stabilisierung.

b) Palästina hat aufgrund seiner geographischen Lage, der Nähe zu den Balkanländern, auch ganz praktische Vorteile. Aus Südosteuropa könnte der Transport über Land oder über eine relativ kurze Seeroute erfolgen, was einen Massentransport per Schiff unnötig machen, das Transportproblem also erheblich vereinfachen würde.

c) Sind diese Flüchtlinge erst einmal in Palästina angelangt, könnte ihre schrittweise Aufnahme und Integration in das wirtschaftliche Leben des Landes zu gegebener Zeit vollzogen werden. Schätzungsweise 50 000 von ihnen könnten sofort in die vorhandene Wirtschaftsstruktur integriert werden. Die palästinensische Landwirtschaft und Industrie sind seit Kriegsausbruch sehr stark gewachsen, was zusammen mit der Tatsache, dass heute 30 000 palästinensische Juden in den Streitkräften der Vereinten Nationen dienen, einen akuten Arbeitskräftemangel verursacht hat, der durch die aktuelle Einwanderung auch nicht annähernd ausgeglichen wird. Zur Frage der endgültigen Aufnahme einer weit größeren Zahl ist als Anlage A ein Aide-Memoire mit Datum vom 1. Februar 1943 angefügt, das zuvor schon dem Botschafter Großbritanniens in Washington und dem Außenministerium der Vereinigten Staaten zugeleitet wurde. Zweifellos werden sehr viele der Flüchtlinge nach allem, was sie durchgemacht haben, nur ungern in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen. Es kann wohl kaum die Absicht sein, sie gegen ihren Willen dorthin zurückzuschicken, wenn eine Alternative besteht; und in ihrer großen Mehrheit werden sie sicherlich in Palästina bleiben und sich dort ansiedeln wollen. Wenn man sie also zunächst nach Palästina bringt, erspart man sich damit nicht nur eine zweite und Ressourcen bindende Überführung, sondern der Flüchtling befindet sich auch sofort auf dem Weg zu einer dauerhaften Lösung seines Problems.

8. An dieser Stelle wollen wir darauf verweisen, dass die Regierung Seiner Majestät am 3. Februar 1943 ihre Absicht bekundet hat, 29 000 Einwanderungszertifikate für Palästina auszugeben, vorrangig für Flüchtlingskinder aus den Balkanländern. Das Bemühen der Regierung Seiner Majestät, Evakuierung und Transport dieser Kinder nach Palästina zu organisieren, begrüßen wir außerordentlich, und wir hoffen inständig, dass alles getan wird, um diese Bemühungen mit Hochdruck voranzubringen.

In diesem Zusammenhang möchten wir allerdings auf die Notwendigkeit verweisen, den Anteil von Erwachsenen zu erhöhen, da die Auswanderung für Kinder allein zweifellos sehr viel schwerer zu organisieren wäre als die von Kindern mitsamt Eltern. Zudem bringt das Wissen, dass Erwachsene nahezu von solchen Evakuierungsplänen ausgeschlossen sind, diese Leute noch viel mehr in Gefahr, als es ansonsten der Fall wäre, wie die Ereignisse, selbst in den Balkanländern, bereits gezeigt haben. Hinzuzufügen ist, dass die erwogene Einwanderung und Betreuung derart vieler Kinder erhebliche Geldsummen erfordern würde, was im Rahmen eines von den beteiligten Regierungen aufzulegenden allgemeinen Finanzierungsprogramms für die Migration von Flüchtlingen zu berücksichtigen wäre.

9. Der im Vorstehenden dargelegte Gesamtvorschlag für eine großangelegte Überführung von Juden nach Palästina setzt natürlich voraus, dass jene Politik aufgegeben wird, die die britische Regierung in ihrem Weißbuch vom Mai 1939 umrissen hat, wonach die Einwanderung von Juden nach Palästina auf weitere etwa 30 000 Menschen begrenzt und nach dem April 1944 ganz eingestellt wird.

Diese Politik gehörte zu und entsprach dem inzwischen verworfenen Appeasement-Programm in den internationalen Beziehungen, das die unmittelbare Vorkriegsperiode gekennzeichnet hat. Über diese Politik des Weißbuchs hat die Ständige Mandatskommission [des Völkerbunds] inzwischen befunden, dass sie sich nicht mit den Verpflichtungen verträgt, die mit der Balfour-Deklaration und dem Völkerbundmandat für Palästina von Großbritannien übernommen und international gebilligt wurden. Die Weißbuch-Politik ist sowohl überholt als auch mit der Gerechtigkeit unvereinbar und sollte deshalb unverzüglich aufgegeben werden.

10. In dieser Stunde, in der das jüdische Volks eine bittere Tragödie durchleidet, beten wir inständig, dass die großen demokratischen Staaten, deren Gewissen selbst inmitten eines schrecklichen Krieges durch die Leiden des jüdischen Volkes in Europa aufgerüttelt worden ist, bestrebt sein werden, zu den Wurzeln des Problems vorzudringen, das sich heute für das europäische Judentum stellt.

Dieses Problem ist im Wesentlichen das der Heimatlosigkeit eines Volkes. Vor 25 Jahren, ebenfalls inmitten eines Krieges, hat man den europäischen Juden erstmals Rettung versprochen, indem man ihnen eine eigene Heimstätte zurückgibt. Heutzutage kann es keinen größeren Beitrag zur Lösung dieses Problems geben, als alles Menschenmögliche zu tun, um diesem historischen Versprechen praktische Wirkung zu verleihen.

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