„Meldungen aus dem Reich“
Der Sicherheitsdienst der SS berichtet am 10. August 1942 Folgendes über das Thema „Änderung des Abstammungsbescheides von Volljuden oder jüdischen Mischlingen ersten Grades“:
In zahlreichen Meldungen aus dem gesamten Reichsgebiet wird berichtet, daß es in der Bevölkerung Verwunderung und z.T. Empörung auslöste, wenn es immer wieder Personen, die bisher allgemein als Juden bekannt waren und sich auch als solche ausgaben, gelingt, einen Entscheid des Reichssippenamtes zu erhalten, wonach sie Mischlinge ersten Grades im Sinne des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre sind.
Der Weg, der von den Juden beschritten werde, sei fast immer der gleiche. Der Jude oder die Jüdin behauptete plötzlich, ihr bisher gesetzlich anerkannter jüdischer Vater sei garnicht ihr Erzeuger, die Mutter habe vielmehr Verkehr mit einem arischen Mann gehabt, so daß dieser der wirkliche Vater sei. Dabei falle auf, daß diese angeblichen arischen Väter in den meisten Fällen gar nicht mehr am Leben seien. Trotzdem werde aber von den amtlichen Stellen den Anträgen auf Überprüfung der Abstammung stattgegeben und ein erb- und rassekundliches Gutachten beigezogen. Diese Gutachten könnten zwar das Ergebnis fast immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit festlegen, trotzdem werde aber auf Grund dieser Gutachten nach dem Grundsatz in dubio por reo meistens der Jude als Mischling ersten Grades anerkannt.
So habe z.B. der 1893 geborene Dr. [N.N.a] stets als Jude gegolten und sei auch als solcher aufgetreten. Erst jetzt habe er plötzlich die Behauptung aufgestellt, seine Mutter habe in der fraglichen Zeit mit einem deutschblütigen Mann, der in ihrem Hause als Hausmeister tätig war, Verkehr gehabt. Dies wird u.a. auch von dem Vater der Frau, also einem Volljuden, eidesstattlich versichert. Bei der erb- und rassenkundlichen Untersuchung haben von dem gesetzlichen und dem angeblichen Vater lediglich Lichtbilder vorgelegen, da beide bereits verstorben sind. Nur aufgrund der Ähnlichkeitsfeststellung kommt das Gutachten zu dem Schluß, daß der Prüfling von dem arischen Manne abstamme. Darauf ist der Abstammungsbescheid ergangen, daß [N.N.a] jüdischer Mischling mit zwei der Rasse nach jüdischen Großelternteilen (Mischling ersten Grades) ist.
In einem anderen Fall stellte eine im Jahre 1893 geborene Frau [N.N.b] Antrag auf Nachprüfung ihrer Abstammung, indem sie ebenfalls die Vaterschaft ihres volljüdischen Vaters bestritt und zusammen mit ihrer Mutter die Behauptung aufstellte, ein schon seit Jahren verstorbener Lehrer sei ihr wirklicher Vater. Die zur rassenkundlichen Überprüfung nötigen Lichtbilder des Verstorbenen besorgte sich die Antragstellerin selbst aus der letzten Dienststelle dieses Lehrers. In diesem Falle kommt das rassenkundliche Gutachten aufgrund der Lichtbilder zum Schluß, daß die Vaterschaft des arischen Mannes um ein geringes wahrscheinlicher sei als die des Volljuden. Auch hier lautet der endgültige Abstammungsbescheid auf Mischling ersten Grades.
In einem hier weiterhin bekanntgewordenen dritten Fall hat ein Apotheker [N.N.c] (geboren 1881) 1934 selbst auf dem ihm von der Reichsapothekenkammer vorgelegten Fragebogen angegeben, daß er Volljude sei. Jetzt taucht plötzlich die Behauptung auf, daß der Vater des Prüflings, der bereits 1836 geboren und 1890 gestorben ist, mit Wahrscheinlichkeit nicht von einem jüdischen sondern von einem deutschblütigen Elternpaar abstamme. In dem Abstammungsgutachten heißt es wörtlich:
''Im Abstammungsverfahren wurde vorgebracht, daß der Prüfling nach Charakter, Lebens- und Berufsführung kein Volljude sein könne. Es wird gestützt auf die Tatsache, daß die Geburtsurkunde des Vaters des Prüflings nicht beizubringen ist und dessen Geburtsangaben in der Heiratsurkunde unvollständig sind, behauptet, es müsse seine blutsmäßige Abstammung von dem jüdischen Ehepaar ''van Cleef/Meyer'' als zweifelhaft angesehen werden.
Zur Klärung des biologischen Abstammungsverhältnisses des Prüflings habe ich eine erb- und rassenkundliche Untersuchung bei dem Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt/Main vornehmen lassen, bei der der Prüfling und seine Schwester zur Verfügung standen. Lichtbilder der Eltern des Prüflings sowie Lichtbilder aus dem Sippenkreise des Prüflings haben vorgelegen.
Nach dem abschließenden Gutachten des genannten Instituts vom 30.6.1941 weisen der Prüfling und seine Schwester keine ausgesprochenen jüdischen Rassemerkmale auf. Nach dem Untersuchungsbefund könne kein Hinweis dafür gefunden werden, daß der Prüfling und seine Schwester von einem volljüdischen Elternpaar abstammen. Das vorgelegte Bild des Vaters des Prüflings ließe keinerlei jüdischen Rassenmerkmale erkennen. Nach diesem Befund könne mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Vater des Prüflings nicht von einem jüdischen, sondern von einem deutschblütigen Elternpaar abstamme.''
Aufgrund dieses Gutachtens wurde der Volljude [N.N.c] zum Mischling ersten Grades erklärt.
Aber auch Mischlinge ersten Grades versuchen nach den vorliegenden Meldungen auf die gleiche Weise eine Änderung ihres Abstammungsbescheides zu erreichen. So trat der jüdische Mischling ersten Grades [N.N.d], der ebenfalls in einem amtlichen Fragebogen sich als von zwei volljüdischen Großelternteilen abstammend angegeben hatte, plötzlich, als es um die Erbschaft einer Apotheke ging, mit der Behauptung auf, sein volljüdischer Vater sei nicht der Erzeuger, sondern ein Offizier, der 1917 im Weltkrieg gefallen sei. Trotzdem die Personalien des gefallenen Offiziers überhaupt nicht festgestellt werden konnten, wurde aufgrund eines erb- und rassenkundlichen Gutachtens entschieden, daß [N.N.d] als arisch im Sinne des Gesetzes zu gelten habe. In dem Gutachten heißt es, daß mit sehr großer Wahrscheinlichkeit jüdische Merkmals bei dem Untersuchten nicht festzustellen seien.
Aus den zu diesem Tatbestande hier vorliegenden Meldungen geht hervor, daß man es in der Bevölkerung nicht verstehen kann, daß aufgrund so schwacher Beweisstücke, wie sie Lichtbilder darstellen, Änderungen von Abstammungsbescheiden erfolgen könnten. Es sei doch kein Zweifel, daß diese Volljuden und Mischlinge ersten Grades ihre bisherige Abstammung vor allem lediglich aus wirtschaftlichen Gründen bezweifelten. Es bestehe hier offensichtlich eine Lücke in der Gesetzgebung, wenn überhaupt noch nach Jahrzehnten Einspruch gegen einen bisher immer anerkannten Abstammungsbescheid möglich sei, besonders dann, wenn die in Frage stehenden Väter inzwischen verstorben seien.