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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

SD-Bericht aus Stuttgart

Am 15. Januar 1939 erstattet der SD-Oberschnitt Süd-West (II 112) seinen „Bericht für 1938“:

Das Jahr 1938 hat die entscheidende Wendung in der Entfernung des Judentums aus dem deutschen Volkskörper gebracht. Noch zu Anfang des Jahres haben sich die Juden auf eine in weiter Ferne liegende Liquidation der Judenfrage eingerichtet. Mit dem Anschluß Österreichs und der darauf einsetzenden Lösung der jüdischen Probleme in Österreich begann allgemein eine größere Nervosität einzusetzen, zumal ja viele jüdische Flüchtlinge an der badisch-schweizerischen und saarländisch-französischen Grenze versuchten, illegal die Grenze zu überschreiten. Maßgebend für diese Entwicklung sind die im abgelaufenen Jahre herausgekommenen Erlasse und Maßnahmen, die den Juden weitgehend aus dem Volks- und Wirtschaftskörper ausgeschaltet haben. Die einsetzende Zuspitzung der sudetendeutschen Frage steigerte die Unsicherheit unter den Juden noch mehr. Sie konnte besonders dadurch beobachtet werden, daß angemeldete Versammlungen aufgeschoben oder zurückgezogen wurden und in der Häufung der privaten Zusammenkünfte anstelle der früheren Versammlungen. Es sind damals sogar Vorbereitungen getroffen worden, im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung mit der Tschechoslowakei sofort mit allen Mitteln zu versuchen, Deutschland zu verlassen. Auf der anderen Seite konnte aber gerade während dieser Krisenzeit das Aufflackern eines gewissen jüdischen Widerstandes beobachtet werden, wodurch Äußerungen von Juden, Abstoppen von Entjudungen jüdischer Geschäfte aus nichtigen Gründen und andere Momente sich deutlich machte, daß die Juden von außen her eine vollständige Änderung ihrer Lage erwarteten. Der Widerstand wurde genährt durch Auslandsbriefe, durch Abhören ausländischer Rundfunkstationen und dergleichen. Die völlig unerwartet eingetroffene Aktion am 9.-10.11.1938 und deren Auswirkungen versetzten dem Judentum den entscheidenden Schlag. Neben allen unerfreulichen Begleiterscheinungen der Judenaktion hat sie die bisher beste auswanderungsfördernde Wirkung erzielt. Als bedeutsamste Erscheinung ist zu werten, daß sich die Unterschiede zwischen den einzelnen jüdisch-politischen Gruppen verwischt haben und die gesamte Judenheit unter dem Eindruck der sich von Monat zu Monat verschärfenden Maßnahmen der Reichsregierung in eine gemeinsame Abwehrstellung hineingetrieben wurde. Das Jahr 1938 ist das stärkste Auswanderungsjahr gegenüber den vorangegangenen Jahren. Während die Zahl der im hiesigen Bereich ansässigen Juden nach dem Stand vom 1.10.1937 - 28.817 betrug, sind nach dem Stand vom 1.10.1938 noch 24.749 Juden zu verzeichnen; davon entfallen auf den Rückgang von 3.968 Juden allein 3.213, die ausgewandert sind. Bevorzugt sind in besonderem Maße die USA sowie die südamerikanischen Staaten, mit Abstand Palästina und Frankreich, England, Schweiz und Holland.

Unter den im Jahre 1938 herausgegebenen Erlassen und Verordnungen der Reichsregierung hat sich besonders das Gesetz über die Umwandlung der Israelitischen Synagogen- und Kultusgemeinden als Körperschaften öffentlichen Rechts in Vereine für das Judentum nachteilig ausgewirkt. Da verschiedene Gemeinden durch das Gesetz in finanzieller Hinsicht überhaupt nicht mehr lebens- und arbeitsfähig erhalten werden können, hat man sich dazu entschlossen, eine stärkere Zentralisierung des jüdischen Gemeindewesens in die Wege zu leiten. Geplant ist z.B. in Baden infolge der immer geringer werdenden Kopfzahl der Juden, die noch bestehenden 100 Synagogengemeinden bis auf sechs aufzulösen und den größten Teil der Mitglieder direkt dem Oberrat der Israeliten als Einzelmitglieder zu unterstellen. Um das Gefüge des Israelitischen Oberrats in Württemberg nicht auseinanderfallen zu lassen, planen die maßgebenden Männer des Oberrates die Zusammenlegung sämtlicher jüdischer Gemeinden Württembergs zu einer Großgemeinde Stuttgart. Von insgesamt 53 Synagogengemeinden in der Pfalz bestanden am Ende des Jahres nur noch 38. Auch im Saargebiet ist bereits eine Zusammenlegung der Kleingemeinden zu einer Großgemeinde für das ganze Saarland mit dem Sitz in Saarbrücken in Angriff genommen worden. Die Synagogengemeinde Saarbrücken hat in diesem Zusammenhang beim Reichskirchenministerium einen entsprechenden Antrag eingereicht, über den aber bis jetzt eine Entscheidung noch nicht gefällt wurde.

Besonders in finanzieller Hinsicht hat sich das Gesetz für die jüdischen Gemeinden sehr ungünstig ausgewirkt. Es war nicht möglich, die Kirchensteuern zur Zwangsauflage zu machen und beizutreiben. Teilweise, so z.B. in Württemberg und Pfalz wurden die notwendigen Gelder in Form von Mitgliedsbeiträgen eingezogen. Die Bemessung der Beiträge war für die Juden insofern schwierig, als die Reichssteuerzahlen zur Einsicht bei den Finanzämtern für sie nicht mehr offen stehen. Sie halfen sich damit, daß sie für die Zeit ab 1.4.1938 die Vorauszahlungen in Höhe der Steuer des Jahres 1938 machen ließen. Die Folge hiervon war nun, daß die Leistungsfähigkeit der Gemeinden seit dem Erlaß zwangsläufig in rapidem Maße abgenommen hat. Diese Abnahme ist vor allem zurückzuführen auf Auswanderung, Wegzüge und Verarmung der Mitglieder durch Verlust ihres Berufes, durch Schwund des Vermögens infolge der erhöhten Steuerlasten, durch die wesentlich größere Inanspruchnahme der jüdischen Fürsorge und auf die stärkere Inanspruchnahme von Zuschüssen zur Auswanderung.

Eine weitere Schädigung brachte die Anordnung über die Anmeldung des jüdischen Vermögens und das Gesetz über die Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark. Anmeldepflichtig waren 9.968 Juden. Das Gesamtvermögen dieser Juden beträgt RM 574.133.000, das bedeutet also pro Kopf über 57.000. Die Vermögensverhältnisse sind im einzelnen wie folgt:

Württemberg:

Anmeldepflichtig waren   2.825 Juden

Gesamtvermögen       RM 212.473.050

Auf den Kopf der jüdischen Bevölkerung in Württemberg entfallen somit RM 30.088.

Baden:

Anmeldepflichtig waren   5.010 Juden

Gesamtvermögen       RM 287,165.100

Auf den Kopf der jüdischen Bevölkerung in Baden entfallen somit RM 21.700.

Pfalz:

Anmeldepflichtig waren   2.002 Juden

Gesamtvermögen       RM 71.457.000

Auf den Kopf der jüdischen Bevölkerung in der Pfalz entfallen somit RM 21.640.

Saar:

Anmeldepflichtig waren   131 Juden

Gesamtvermögen       RM 3.038

Auf den Kopf der jüdischen Bevölkerung in der Saar entfallen somit RM 4.468.

Gegenüber dem Jahre 1937 ist die Ausschaltung des Juden aus dem Wirtschaftsleben besonders stark vorwärts getrieben worden. Die jüdischen Industriebetriebe sind fast durchweg entjudet. Soweit dies vereinzelt noch nicht geschehen ist, haben Juden das Recht verloren, Betriebsführer oder Stellvertreter zu sein. Auch die Großhandelsbetriebe sind fast restlos entjudet bezw. in Liquidation begriffen. Sie konnten sich nicht halten, weil sie entweder Schwierigkeiten mit der Belieferung oder mit dem Absatz hatten.

Mit der Entziehung der Legitimationskarten hat die Haupttätigkeit der jüdischen Reisenden jüdischer Firmen sowie der jüdischen Handelsvertreter ebenfalls aufgehört. Dagegen gestaltet sich die Ausschaltung jüdischer Auslandsvertreter sehr schwierig. Während ein bei der rumänischen Auslandsvertretung einer badischen Maschinenfabrik beschäftigter jüdischer Vertreter innerhalb von zwölf Monaten RM 127.336 umsetzte, brachte der arische Nachfolger innerhalb von sechs Monaten nur für RM 18.000 Aufträge herein. Restlos ausgeschaltet wurde der jüdische Einfluß auf den Einzelhandel durch die Beseitigung der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte. Die Juden klagen darüber, daß damit ihnen der Bezug lebensnotwendiger Gegenstände nahezu unmöglich gemacht werde, da arische Geschäftsinhaber sich weigern, Waren an Juden zu verkaufen.

Aus dem Bankwesen wurden in Baden acht Juden ausgeschieden. Ende des Jahres trat in Württemberg auch das letzte jüdische Bankhaus in Liquidation. In Pfalz und Saar sind Juden im Bankwesen nicht mehr tätig.

In Württemberg wurden von insgesamt 35 ehemals noch zur Ausübung ihres Berufes zugelassenen jüdischen Rechtsanwälten 28 das Mandat entzogen und nur sieben als Konsulenten belassen. Die Zahl der in Baden entfernten jüdischen Rechtsanwälte beträgt 79. Nur 15 ehemalige Rechtsanwälte haben die Erlaubnis erhalten, vorläufig bis zum 31.1.1938 ihre Praxis als Rechtskonsulenten weiter zu führen. Betroffen wurden in der Pfalz hiervon zwölf jüdische Rechtsanwälte, während in der Saar keine jüdischen Rechtsanwälte mehr tätig sind. Allgemein führen die Juden darüber Klage, daß die Zahl der zugelassenen jüdischen Rechtskonsulenten zu gering sei. Der Geschäftsanfall sei durch erhöhte Auswanderung und durch vermehrte Verfügungsbeschränkungen über Vermögen sehr gestiegen. Dazu komme noch, daß es den arischen Rechtsanwälten nicht mehr gestattet sei, nichtarische Mandate zu übernehmen, und ferner, daß es z.B. den arischen Steuerberatern untersagt sei, Juden zu betreuen. Ferner wirkte sehr erschwerend die den nichtarischen Konsulenten auferlegte Verpflichtung, ihr gut eingearbeitetes arisches Personal zu entlassen, welches unmöglich durch nichtarisches ersetzt werden könne, da keines vorhanden sei. Diese Tatsache führt direkt zum Geschäftsbankerott. Tatsache ist, daß jetzt schon von den Konsulenten ein Teil der Aufträge nicht mehr übernommen werden kann. Bei Mischehen ergab sich, insbesondere in Auswanderungsfällen, Komplikationen dadurch, daß die Eheleute nicht einen und denselben Rechtsberater in Anspruch nehmen konnten.

Durch das Gesetz über den Entzug der Approbation der jüdischen Ärzte wurden insgesamt 172 jüdische Ärzte betroffen. In Württemberg mußten von 55 jüdischen Ärzten, darunter 30 Kassenärzten, 50 ihre Tätigkeit aufgeben, während die restlichen fünf zur Betreuung ausschließlich der jüdischen Bevölkerung zugelassen wurden. Im Bereich der Ärztekammer Baden beträgt die Zahl der jüdischen Ärzte, denen die Approbation entzogen wurde, 106. Davon sind nur zwölf als Judenbehandler zugelassen. In der Pfalz und der Saar fielen unter das Gesetz 13 bezw. drei jüdische Ärzte.

Von dem im hiesigen Bereich bis zur Aktion ansässigen 1.709 polnischen Juden wurden 584 am 28.10.1938 ausgewiesen. Die noch ansässigen polnischen Juden (1.013) verteilen sich auf die einzelnen Gaue wie folgt: Württemberg 200, Baden 755, Pfalz 88, Saar 70. Da Kranke, Frauen, jüngere Kinder, sowie Personen ohne Pässe von der Ausweisung nicht betroffen wurden, wurden die Familien vielfach auseinandergerissen. Die Juden führen darüber Klage, daß, nachdem die Ausgewiesenen nicht zurückreisen können und andererseits die Einreise nach Polen durch das polnische Generalkonsulat nicht ermöglicht wird, in weitem Umfange Ehegatten sowie Eltern und Kinder voneinander getrennt sind. Durch die vorzugsweise Verschickung der jüngeren und arbeitsfähigen Juden sind die zurückgebliebenen Angehörigen 100%ig hilfsbedürftig geworden. Die Gehälter der bis dahin beschäftigt gewesenen Juden wurden in diesen Fällen nur bis 1.11.1938 bezahlt, da ihre Arbeitgeber in der zwangsweise erfolgten Abschiebung einen Grund zur fristlosen Kündigung sahen. Zahlreiche geschäftliche Handlungen konnten dadurch nicht mehr abgewickelt, Außenstände, Mieten und Verpflichtungen nicht mehr in Ordnung gebracht werden. Die Ausweisung hat auch hemmend auf bereits im Gange befindliche Auswanderungen gewirkt. Eine sechsköpfige Familie, von der drei Mitglieder durch die Ausweisung betroffen wurden, besaß z.B. eine Bürgschaft für das nordamerikanische Konsulat, welche gleichzeitig für alle sechs Mitglieder ausgestellt war. Da die Ummeldungen auf das nordamerikanische Konsulat in Krakau große Schwierigkeiten und Verzögerungen erlitten hätten, andererseits das Konsulat in Stuttgart sich geweigert hätte, auf Grund der Aktion gegen die polnischen Juden irgendwelche Änderungen zu treffen, waren alle Familienmitglieder nunmehr praktisch an der Auswanderung verhindert. Die Juden erstreben die Möglichkeit zu bekommen, zeitlich beschränkt zur Abwicklung ihrer Auswanderung nach Deutschland zurückzukehren zu können.

Neben der an sich erfreulichen Tatsache, welche durch das Vorgehen gegen die Juden am 9. und 10.11.1938 eingetreten ist, nämlich der verstärkte Auswanderungsdrang der Juden, stehen auf der anderen Seite die Schäden, die in wirtschaftlicher Hinsicht entstanden sind. Der durch die Aktion entstandene Gesamtschaden beläuft sich auf etwa sechs Millionen Reichsmark.

Die Zahl der abgebrannten und zerstörten Synagogen beläuft sich auf 130. In die Konzentrationslager überwiesen wurden 2.673 Juden, davon sind heute noch 457 in Haft. An Todesfällen sind im Zusammenhang mit der Aktion 56 zu verzeichnen. Plünderungen sind in 190 erfolgt, davon allein in Baden 84 und in der Pfalz 98. In Baden sind es in den meisten Fällen Angehörige der Landbevölkerung. Parteiangehörige waren hier in 27 Fällen beteiligt, davon HJ - und JV -Angehörige mit insgesamt 14. Soweit es sich um Plünderungen von Zivilpersonen handelt, sind die Angeklagten meistens Westbefestigungsarbeiter. Von den in der Pfalz registrierten 98 Fällen gehören 26 Personen der Partei oder ihren Gliederungen an.

Innerhalb der Bevölkerung fand die Aktion zum größten Teil völlige Ablehnung. Es handelt sich hierbei weniger um Mitleid für die Juden, als um die Form der Ausführung und die Wahl der Mittel. Man betrachtete die Aktion nicht als einen Akt der Stärke und der moralischen Überlegenheit. Besonders glaubte man nicht an den spontanen Ausbruch der Volkswut. In den ersten Stunden der Aktion, als der Umfang und die Form nicht bekannt waren, erregte das frische Zugreifen gegen die Juden vielfach freudige Zustimmung. Die Stimmung schlug jedoch sofort um, als die Gewalttätigkeiten bekannt wurden und die sinnlose Zerstörung von Werten, wie auch die Plünderungen. Obgleich man nicht verstehen konnte, daß auf der einen Seite aus Rohstoffersparnis jede Kleinigkeit gespart werden soll, während man andererseits in kurzer Zeit unüberlegt bedeutende Werte vernichtete, hätte man noch darüber hinweggesehen, wenn nicht die Vorfälle der Mißhandlungen vorgekommen wären. Auch die ausländische Rundfunkpropaganda ist hier auf die Meinung der Grenzbevölkerung nicht ohne wesentlichen Einfluß gewesen. Der Führer wurde mit der Aktion nicht in Zusammenhang gebracht, wohl aber werden bestimmte Vermutungen ohne ausdrückliche Namensnennung laut.

Die Aufnahme in Parteikreisen war gleichfalls sehr geteilt. In Kreisen der alten Nationalsozialisten wurde darüber Klage geführt, daß führende Parteigenossen ohne eigenes Kapital sich in den Besitz jüdischer Betriebe setzten, bezw. sich zu setzen versuchten.

In konfessionellen Kreisen wurde die Aktion ebenso einheitlich abgelehnt. Bemerkenswerterweise zeigten sich evangelische Kreise sehr eingenommen. Eine evangelische Pfarrersfrau brachte es z.B. fertig, eine Jüdin auf offener Straße zu küssen. Ein evangelischer Pfarrer äußerte sich zu einem Sammler, der anläßlich des Eintopfsonntags bei ihm vorsprach folgendermaßen: ''Am Samstag zündet man Häuser an, am Sonntag kommt man zum Betteln. Das ist eine Gottlosigkeit wie sie im Buche steht.'' Vielfach wurde auch angedeutet, daß man so, wie die Synagogen zerstört worden seien, eines Tages auch die Kirchen zerstören würde. Die katholische Geistlichkeit hat sich im allgemeinen in ihrer Ablehnung sehr zurückgehalten, die betonte Verteidigung des ''auserwählten Volkes'' auf den Kanzeln gibt aber zu bedenklichen Rückschlägen Anlaß.

In Wirtschaftskreisen wirkte sich die Stimmung in ungünstigem Sinne fast ausschließlich in Exportkreisen aus, während der Binnenhandel die Maßnahmen mit besonderem Wohlwollen begrüßte, teils aus Konkurrenzgründen, teils aus Absicht, auf eine günstige Weise zu einem aufgebauten Betrieb zu kommen. Für den Export wirkte sich die Judenaktion in besonderem Maße in den westlichen Ländern ungünstig aus. So meldete eine Weinfirma aus Neustadt/Pfalz, daß man ihr ein Angebot aus Holland mit der Bemerkung zurückgeschickt habe, ''mit Barbaren werde man keine Geschäfte tätigen''. Die laufenden belgischen Aufträge eines pfälzischen Schwerspatwerkes wurden zurückgezogen. Die Aufträge für die nordpfälzischen Diamantschleifer, die hauptsächlich für Antwerpener und Amsterdamer Juwelenhändler arbeiten, gingen ebenfalls stark zurück. Die textil- und eisenverarbeitende Industrie in Baden klagte ebenfalls sehr über den rapiden Rückgang des Handels. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein Brief, der von einer französischen Firma in Paris an eine Firma in Württemberg gerichtet wurde. Er lautet u.a. wörtlich: ''Wir benützen diese Gelegenheit, um Sie wissen zu lassen, daß Sie nicht mehr mit unseren weiteren Aufträgen zu rechnen brauchen, obgleich wir mit der Qualität Ihrer Ware, wie auch mit der aufmerksamen Art der Bedienung zufrieden waren. Wenn ein Volk sich an Wehrlosen rächt, nur weil es Juden sind, indem es seine Synagogen verbrennt und indem es Raub im wahrsten Sinne des Wortes treibt, indem es seine jüdischen Bürger ausraubt und bestiehlt, wenn ein Volk, das man früher das Volk der Dichter und Denker, das Volk eines Schillers und Goethe nannte unter die Stufe der wilden Neger fällt, und all das im 20. Jahrhundert, dann kann man ein solches Volk nur mit größter Mißachtung strafen. Mit unserer schwachen Kraft haben wir nur ein Mittel, diesem Volk, das nicht einmal die Moral des wildesten afrikanischen Negerstammes besitzt, zu zeigen, daß wir an seiner Vernichtung mithelfen wollen, und das einzige Mittel, das uns zur Verfügung steht, das ist der schärfste Boykott. Wir werden keine deutschen Waren mehr anrühren, und wo wir auf sie stoßen, werden wir ihnen die schärfste Konkurrenz machen. Unsere Meinung ist nicht nur die unsrige, sie ist die Meinung aller anständigen Menschen in der ganzen Welt, gleichgültig ob Jude oder Christ. Wir werden es noch erleben, daß das heutige Deutschland von der Landkarte verschwindet und diesem Ziele gilt unsere ganze, wenn auch schwache Kraft.''

Wenn die Entwicklung der Auswanderung vor der Aktion schon als sehr günstig anzusprechen war, so trat sie nach der Aktion weitaus in den Vordergrund gegenüber anderen Problemen. Allgemein war festzustellen, daß gegenüber früher, wo immer noch ein Teil der Juden mit einem Verbleib in Deutschland rechnete, nunmehr alle Juden versuchen, auf dem schnellsten Wege Deutschland zu verlassen. Ausgewandert sind im Jahre 1938, wie bereits schon erwähnt, 3.213 Juden. Weitaus an der Spitze steht die Auswanderung in Baden mit allein 2.008 Juden. Das bevorzugte Auswanderungsland waren die USA, welche mit 86% aller Auswanderungen an der Spitze liegen. Ihnen folgt Südamerika, während sich der Rest auf die Britischen Dominions, u.a. Südafrika, sowie auf verschiedene europäische Länder verteilt.

Der Auswanderungsdrang der Juden, besonders nach der Aktion am 9.-10.11.1938 ist außerordentlich stark, jedoch durch die Aufnahmebereitschaft der Auswanderungsländer beschränkt. Der Hauptstrom der Auswanderung richtet sich nach den USA. Die Mehrzahl der im hiesigen Bereich lebenden Juden ist für die Auswanderung dorthin beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart vorgemerkt. Da aber für den gesamten Zuständigkeitsbereich dieses Konsulats im Monat nur 800 Visen erteilt werden, ergibt sich für die Juden, die nach den Vereinigten Staaten auswandern wollen, eine sehr lange Wartezeit. In ihrem Bestreben, möglichst rasch auszuwandern, wandten sich verschiedene Juden an deutsche Angestellte des nordamerikanischen Generalkonsulats in Stuttgart. Sie gingen offensichtlich dabei von der Annahme aus, diese Angestellten, könnten ihnen eine niedrigere Vormerknummer verschaffen. Zwei Juden haben es dabei übernommen, diesen Angestellten innerhalb ihrer Rassegenossen gegen Provision Zutreiberdienste zu leisten. Die Auswanderungsmöglichkeit nach Palästina ist durch die Einschränkung der Einwanderungserlaubnis durch die englische Behörde infolge der palästinensischen Wirren ebenfalls sehr beschränkt. Eine recht erhebliche Anzahl von Auswanderungswünschen besteht für Australien, jedoch ist auch hier die Aufnahmebereitschaft der australischen Regierung gering. In den südamerikanischen Staaten besteht z.Zt. teilweise keine Einwanderungsmöglichkeit, teilweise ist sie von [sic] nahen Familienangehörigen beschränkt. Die europäischen Länder kommen im wesentlichen für die Juden nur als Durchgangsländer für eine spätere überseeische Auswanderung in Frage.

Möglichkeiten zu einer Verstärkung der Auswanderung haben sich in den letzten Wochen für Kinder ergeben. Sowohl die englische wie die holländische und in einem sehr begrenzten Maße auch die schweizerische Regierung haben sich bereit erklärt, in einem erleichterten Verfahren eine größere Zahl von Kinder aus Deutschland aufzunehmen. Aus Baden ist in den letzten Wochen je ein Transport nach England mit etwa 25 Kindern und nach Holland mit etwa neun Kindern abgegangen. Weitere Kindertransporte folgen im Januar.

Der Vorsitzende des Verbandes der Israelitischen Kultusgemeinden für die Pfalz nahm persönlich Fühlung mit französisch-jüdischen Hilfskomitees auf. Es gelang ihm zehn Greise und 30 Kinder aus der Pfalz unterzubringen. Ein holländisches Hilfskomitee hat zu einem Besuch und zu Besprechungen über Aufnahme von jüdischen Kindern eingeladen. Die Finanzierung der Auswanderung unbemittelter Juden erfolgte bisher in der Weise, daß die größeren Gemeinden teils aus freiwilligen Spenden der bemittelten Juden, teils aus den Pflichtbeiträgen der Mitglieder einen Hilfsfond zusammenstellten, aus dem die Hälfte der Schiffs- und Fahrkosten bezahlt wurde, während die andere Hälfte nach Prüfung durch die zentralen jüdischen Organisationen in Berlin (Hilfsverein und Palästinaamt ) bewilligt wurde. Daneben wurden in einem gewissen Rahmen noch Zuschüsse zur Beförderung des nötigen Hausrates aus örtlichen Mitteln bereitgestellt. Die einer Steigerung der Auswanderung gegenüberstehenden Schwierigkeiten ergeben sich zum Teil aus den erwähnten Einwanderungserschwerungen des Auslandes, zum Teil aus der Überalterung und der Berufsstruktur der Juden allgTeein. Die sich aus der Berufsstruktur des Judentums ergebenden Schwierigkeiten suchten die Juden z.B. in Baden durch die Gründung von landwirtschaftlichen Lehrgütern und die Errichtung von Lehrwerkstätten für Schlosser und Schreiner zu beheben, da die Erfahrung gezeigt hat, daß landwirtschaftliche Arbeiter und Handwerker in allen überseeischen Ländern und besonders auch in Palästina leichter zur Einwanderung gelangen können, als Händler und Akademiker. Die Reichsvertretung plant jedoch dem Vernehmen nach im Zusammenwirken mit den ausländischen jüdischen Organisationen die Verlegung derartiger Ausbildungsstätten ins Ausland. Über Erfolge, bezw. Mißerfolge der Zusammenarbeit mit ausländischen Hilfskomitees, sofern sie England, Frankreich und Holland angehen, gaben die Wahrnehmungen eines leitenden Mitgliedes des Israelitischen Oberrates Stuttgart, der in der Zeit vom 18.12. bis 30.12.1938 eine Informationsreise durch die genannten Länder unternommen hat, einigen Aufschluß.

England ist danach in großzügiger Weise bereit, Juden aufzunehmen, und hat dafür große Hilfsgelder gesammelt und in Fonds niedergelegt. Es handelt sich erstens um den Baldwin-Fond und zweitens um den Fond des Council for German Jewry . Es können einwandern:

a. Kinder im Alter von 10-16 Jahren im Rahmen der Kinderverschickung; die Zahl ist bisher noch unbegrenzt.

b. Personen im Alter von 17-35 Jahren zwecks Umschichtung mit zweijährigen Ausbildungsmöglichkeiten in handwerklichen Berufen.

c. Solche Personen, deren Verwandte in England eine Garantie stellen bis zur ihrer Auswanderung nach USA, oder die Verwandten im Ausland Beträge zum Lebensunterhalt und zur Stellung einer Garantie beim German Jewish Aid Committee zur Verfügung gestellt bekommen.

d. Flüchtlinge über 60 Jahre, die keine Weiterwanderungsmöglichkeit haben.

Die Verhandlungen in Frankreich haben kein günstiges Ergebnis gehabt, weil die französische Regierung auf dem Standpunkt steht, daß bereits 100.000 jüdische Emigranten sich in Frankreich aufhalten und eine Vermehrung dieser Zahl nur dann gerechtfertigt werden könne, wenn auch Amerika endlich einmal über die bisherige Quotenzahl hinaus die Tore öffnet. In Frankreich wird erklärt, daß die USA bis jetzt zwar Hilfe geleistet hätten, aber nur im Rahmen der schon seit Jahren geltenden Quoten, während Frankreich seit 1933 zusätzlich Emigranten aufgenommen habe. Es sei grundsätzlich bereit, ungefähr 10.000 Juden hereinzunehmen, wenn der Kongreß der Vereinigten Staaten, der im Januar zusammentrete, eine Änderung der Quotenzahl vornehme.

Die Einwanderung in Holland leidet unter der großen Zahl der täglich illegal einwandernden Juden. Bis Ende Dezember hat man durchschnittlich täglich 50 Personen gezählt, welche illegal über die Grenze kamen, weshalb die holländische Regierung zu Ende des Jahres 1938 die legale Einwanderung nach Holland, die bis jetzt 7.000 Personen beträgt, vorübergehend gesperrt hat. Holland hat schon eine große Anzahl Kinder aufgenommen und wird dies auch weiterhin tun. U.a. hat sich ein reicher holländischer Jude bereit erklärt, zur Förderung der Auswanderung auf diesem Wege für die württembergischen Juden eine bestimmte Summe auszuwerfen. Daraufhin ist seitens des Israelitischen Oberrates eine große Anzahl Visen für württembergische Juden bestellt worden.

Als Grundfrage bei allen Verhandlungen ist immer wieder aufgetaucht, ob nicht letzten Endes das restlose Gelingen der Auswanderung daran scheitern müsse, weil sich kein Land dazu entschließen kann, ein Territorium zur geschlossenen Besiedlung freizugeben, und diejenigen Länder, die jetzt Juden aufnehmen, eines Tages selbst Maßnahmen zur Auswanderung für diese Juden ergreifen.

Nicht unerwähnt sei, daß von der katholischen Kirche im Rahmen ihrer Missionstätigkeit ein besonderes Interesse für die geschlossene Ansiedlung von Nichtariern und nichtarischen Christen in außereuropäischen Ländern besteht. Ein in Heidelberg wohnhafter, katholisch getaufter Jude, der Mitglied des St. Rafaels-Verein ist, setzt sich in diesem Zusammenhang in entschiedenster Weise für eine ''Mission für Siedlung von Nichtariern und Nichtarischen Christen ein''. Er ist mit seinen Plänen bereits bis zum Vatikan vorgedrungen. Friedemann erwirkte bereits im September 1936 eine Audienz bei Kardinalstaatssekretär Pacelli in welcher im Rahmen der religiösen, finanziellen und caritativen Vorbedingungen und auch die Landfrage erörtert wurden. Es wurde in dieser Unterredung besonders auf die Vorteile für eine Befestigung des katholischen Glaubens hingewiesen und zum Ausdruck gebracht, daß dieses Werk um der Zukunft der Kirche willen errichtet werde. Pacelli hat diesem Plan bereits zugestimmt. Nach seiner Unterrichtung über diesen Plan gab auch der Papst dem Werk ''seinen Segen''. Auch in den Kreisen den des deutschen Episkopats wird diesem Plan hohe Bedeutung zugemessen. So haben z.B. der Erzbischof von Freiburg, Dr. Gröber, und andere hohe Würdenträger diesem Plan ihre Unterstützung zugesagt. Aus einem Schreiben des Kardinal-Erzbischofs Bertram, Breslau, an die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz vom 18.11.1938, das sich mit der Verwendung der Caritas-Kollekte befaßt, geht hervor, daß von dem ''Reichsausgleichsfond 1938'' ein Betrag von RM 25.000 zur Betreuung der katholischen Nichtarier zur Verfügung gestellt werden soll.

Die im vergangenen Jahre erreichte Ausscheidung der Juden aus dem Wirtschaftsleben hat den Juden jede wirtschaftliche und Existenz-Grundlage zerstört und ihnen das Gespenst der Arbeitslosigkeit gebracht. Für diejenigen Juden, welche über Vermögensreserven verfügen, ist dies weniger schlimm, falls diese Reserven bis zu ihrer Auswanderung ausreichen. Dagegen fallen die vielen Juden, die über derartige Reserven nicht verfügen, und kein Berufseinkommen mehr besitzen, der Fürsorge und seit dem 1.1.1938 in erster Linie der jüdischen Fürsorge zur Last. Da die jüdischen Einrichtungen ihre Gelder nun hauptsächlich für die Auswanderung bereitstellen müssen, ist es klar, daß, je mehr die Fürsorge hieran zehrt, desto geringer der Anteil für die Auswanderung bleibt.

Anzeichen der zunehmenden Verproletarisierung der jüdischen Lebenshaltung stellen die vielen übermäßig belebten Wohnungen dar. Die Wohnungsmöglichkeit in jüdischen Häusern nimmt durch deren Liquidationsprozeß sehr rasch ab. Die Plätze in den verschiedenen Altersheimen reichen trotz starker Zusammenlegung nicht aus. Durch die Auflösung von Wohnungen, dem Verkauf von Häusern, sowie die Auswanderung junger Juden ist der Bedarf an neuen Altersheimplätzen überall gestiegen. Nach Ansicht der Juden dürfe nicht verkannt werden, daß die Auswanderung jüngerer Juden vielfach dadurch gehemmt wird, daß diese alte Angehörige zurücklassen müßten, die dann nicht richtig versorgt seien. Es fehlt vor allem an Altersheimplätzen für Gebrechliche, an Anstaltplätzen für Geisteskranke und entwicklungsschwierige Kinder. Die Tatsache, daß seit der Aktion keinerlei Möglichkeit zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Anstalten besteht und dadurch die Erwerbstätigkeit alleinstehender Mütter stark gehemmt ist, ist nicht unerheblich. Die Arbeitslosigkeit, die nunmehr in fast alle Schichten eindringt, mit Ausnahme gewisser weiblicher Berufe, ist fürsorgerisch gesehen, die allerschlimmste Belastung, da auf diese Weise ein Menschenkreis entsteht, der auf das Nehmen angewiesen ist, ohne Möglichkeit, aus dieser Lage herauszukommen. Die Anzeichen einer jüdischen Verproletarisierung sind somit stark vorhanden. Wenn auch im Augenblick die jüdischen Organisationen alle Anstrengungen unternehmen, um zunächst einen Übergang in die neue Lage zu finden, so wird dieser Zustand jedoch bald ein Ende haben, sodaß gerade auf dieses Problem ein wachsames Auge gerichtet werden muß.

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