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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

SD-Bericht aus Berlin

Am 18. Januar 1939 erstattet der SD-Oberschnitt Ost (II 112) seinen „Bericht für 1938“:

Allgemeine Lage

Mit den Nürnberger Gesetzen 1935 waren die letzten einschneidenden Maßnahmen auf dem Gebiet des Judentums erfolgt. Es erklärt sich daher, daß die Lage der Juden zu Ausgang 1937 auf allen Gebieten als ausgesprochen gut bezeichnet werden kann. War ihnen doch nicht nur die freie Berufsausübung, sondern vor allem eine völlig selbständige, z.T. staatlich geförderte Gestaltung ihres Eigenlebens möglich. Daß sich bei den Juden in Anbetracht dieser Sachlage keine große Zurückhaltung oder gar Auswanderungsabsichten bemerkbar machten, war eine natürliche Erscheinung. Von einem Interesse weiterer Kreise am Zionismus konnte in Anbetracht der immer zunehmenden Unsicherheit der Lage in Palästina überhaupt nicht die Rede sein.

Erst das Jahr 1938 mit seinen zahlreichen innen- und außenpolitischen Ereignissen brachte nun auch hier die entscheidende Wendung. So wurden gleich zu Anfang der Berichtszeit die ersten entscheidenden Verordnungen erlassen, die in erster Linie eine Trennung in der Behandlung der Juden gegenüber den deutschen Volksgenossen bedeuteten. Zu nennen sind hier die Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 1.2.1938, die den Wegfall der Steuerermäßigung für jüdische Kinder brachte, die Verordnung vom 26.4.1938 über die Anmeldung des jüdischen Vermögens, die zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17.8.1938, sowie die Verordnung über die Reisepässe von Juden vom 5.10.1938.

Aber auch auf den Lebensgebieten, vor allem in der Wirtschaft, erfolgten nach dem Anschluß Österreichs und der Ernennung des Pg . Funk zum Reichswirtschaftsminister einschneidende Maßnahmen. Die Verordnung gegen die Tarnung jüdischer Betriebe vom 22.4. sowie die Abänderung der Gewerbeordnung vom 6.7.1938, dürfen als die wichtigsten bezeichnet werden.

In eine entscheidende Phase trat jedoch der Kampf gegen das Judentum erst, als der Mord des Juden Grünspahn4 [sic] an dem Gesandtschaftsrat vom Rath bekannt wurde.

Die nunmehr erlassenen Gesetze und Verordnungen hatten eine völlige Ausschaltung der Juden aus der öffentlichen Wirtschaft sowie eine starke Einschränkung des jüdischen Eigenlebens zur Folge. Die wichtigste Maßnahme war die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben.

 

Jüdisches Eigenleben - Vereinswesen

Eine völlige Veränderung der Sachlage innerhalb des jüdischen Vereinswesens 5 trat durch das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusgemeinden vom 28.3.19386 ein, da hierdurch die jüdischen Kultus- und Synagogengemeinden ihre Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts verlustig gingen. Die Steuerpflicht der jüdischen Gemeinden, die dadurch erfolgte, wurde mit der Verordnung vom 29.3.1938 rückwirkend auf den 1. Januar 1938 festgesetzt.

Weitere Veränderungen erfolgten durch die Ausschaltung der ausländischen und staatenlosen Juden aus den jüdischen Organisationen7 im Januar 1938, durch die zwangsweise Auflösung der Staatszionisten , die ihren Hauptsitz in Berlin hatten, sowie durch die Selbstauflösung von 150 Gruppen jüdischer Vereine, wovon 126 in Berlin und 24 im Regierungsbezirk Frankfurt/Oder erfolgten. Eine genaue Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung der jüdischen Organisationen gibt die nachstehende Aufstellung. Danach bestanden in Berlin:

1933 = 990 jüdische Organisationen
1936 = 450     ''                     ''
1937 = 347     ''                     ''
1938 = 221     ''                     ''

In Frankfurt/Oder bestanden:

1937 = 42 jüdische Organisationen
1938 = 18     ''                     '' .

Die Zahlen beziehen sich auf den Regierungsbezirk Frankfurt/Oder.

             Während die Tätigkeit der jüdischen Vereine in der Provinz fast gänzlich nachgelassen hatte, konnte in Berlin eine verhältnismäßig aktive Arbeit festgestellt werden, wenn auch die Zahl der Veranstaltungen nicht an die des Vorjahres heranreicht. In der ersten Hälfte der Berichtszeit fanden täglich ca. 20 Veranstaltungen, später nur ca. 8-10 statt, denen eine Zahl von ca. 70 Veranstaltungen pro Tag im Jahre 1937 gegenübersteht. Nachdem am 10. November 1938 die wichtigsten Zentralstellen der jüdischen Organisationen, so die des Centralverein , der Zionistischen Vereinigung für Deutschland , des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten geschlossen worden sind, haben die jüdischen Vereine ihre Betätigung gänzlich eingestellt. Eine Ausnahme hiervon bildet der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, dem die Betreuung der jüdischen Kriegsopfer obliegt. Die Räume dieses Bundes werden im Januar 1939 zur Erledigung der wichtigsten Fürsorgearbeit wieder freigegeben.

             Zu erwähnen ist schließlich noch, daß auch im Laufe des vergangenen Jahres wiederholt Betätigungsverbote gegen einzelne jüdischen Gruppen, vor allem Sportvereine , erlassen werden mußten. Das, auf Grund der Antwerpener Vorgänge, erfolgte Betätigungsverbot für alle jüdischen Organisationen wurde durch die Vorkommnisse im November stillschweigend verlängert.

 

Auswanderung

Wie bereits oben erwähnt, wurde die Auswanderung nur bei dem kleineren Teil der Juden ernsthaft in Erwägung gezogen. Hierdurch erklärt sich auch die verhältnismäßig geringe Zahl von tatsächlich erfolgten Auswanderungen, wobei sich für die Reichshauptstadt noch der ständige Zuzug aus der Provinz ungünstig bemerkbar macht.8 Einen Einblick in das Verhältnis der Ab- und Zuwanderung gewährt die als Anlage beigefügte Aufstellung. Hiernach stehen der Abwanderung vom 1.8.1935 bis zum 30.11.1938, die sich auf eine Zahl von insgesamt 39.677 Juden beläuft, die Zuwanderung von 21.428 Juden gegenüber.

Die Auswanderungsvorbereitung erfolgt im Dienstbezirk in den vorhandenen neun Vorbereitungs- bzw. Umschulungslagern9 . Die nachstehende Tabelle gibt einen Bericht über die Tätigkeit der vier im Regierungsbezirk Potsdam liegenden Umschulungslager wieder.

Umschichtungslager   Abwanderung nach Ausland   in Deutschland verblieben
                                         (Palästina und Übersee)

Ahrensdorf:                                   47                                                 17
Gut Winkel:                                     29                                                62
Havelberg:                                       1                                                   14
Polenzwerder:                               36                                                   16
                                                    113                                                 109

Von den 222 umgeschulten Juden hatten 151 die Deutsche Staatsangehörigkeit, während 71 staatenlos oder Ausländer waren.

 

Jüdische Presse und Schrifttum

Wie das gesamte jüdische Eigenleben, so durfte sich auch die jüdische Presse in völliger Selbständigkeit entwickeln. Diese Großzügigkeit seitens des nationalsozialistischen Staates wurde von den Juden mit Artikeln beantwortet, in denen in mehr oder weniger versteckter Form assimilatorische Gedanken verbreitet wurden. So mußte die Jüdische Rundschau gleich zu Anfang des Jahres 1938 mit einem 1-monatlichen [sic] Erscheinungsverbot belegt werden.

Auch auf diesem Gebiet erfolgten die ersten einschneidenden Maßnahmen erst nach dem 9. November.

Die Auflagenziffer der jüdischen Zeitungen zeigen seit der Machtübernahme eine abfallende Tendenz. Über die einzelnen jüdischen Zeitungen liegen hier folgende Zahlen vor:

''Jüdische Rundschau":

Auflagenhöhe:   4. Vierteljahr 1935 = 38.000 Exemplare
                             3. Vierteljahr 1938 = 25.000 '' ''

''CV-Zeitung ''

Auflagenhöhe: 3. Vierteljahr 1935 = 40.000 Exemplare ,
                           1.         ''         1938 = 37.715         '' ,  
                          2.           ''         1938 = 38.232         '' ,  
                           3.           ''         1938 = 39.519         '.'

''Israelitisches Familienblatt''

Auflagenhöhe: 4. Vierteljahr 1935 = 35.000 Exemplare ,
                            3. Vierteljahr 1938 = 26.500         ''.

Die Bezieherzahl des ''Israelitischen Familienblattes '' in Berlin fiel von 9.000 im Jahre 1935 auf 6.800 1938.

''Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde Berlin''

Auflagenhöhe: 4. Vierteljahr 1936 = 50.000 Exemplare ,
                           3. Vierteljahr 1938 = 39.000 '' ''

Seit dem 9. November haben alle jüdischen Zeitungen ihr Erscheinen eingestellt, den bisherigen Abonnenten wird das neu herausgegebene jüdische Nachrichtenblatt geliefert.

 

Beziehungen der Juden zu den Lebensgebieten

Wirtschaft

Von den erfolgten Maßnahmen zur Ausschaltung der Juden aus den Lebensgebieten, wurde die Wirtschaft am stärksten berührt. Während zu Ausgang des Jahres 1937 die Juden in der Wirtschaft finanzielle Höhepunkte erreichten, waren bereits nach knapp einem Jahr sämtliche Juden aus der öffentlichen Wirtschaft ausgeschaltet. Die hier vorliegenden Zahlen über Umsätze im jüdischen Einzelhandel haben durchweg eine stark ansteigende Kurve. So war es ein oft zu beobachtendes Bild, daß jüdische Geschäfte ''wegen Überfüllung'' geschlossen werden mußten. Diese Tatsachen entgingen natürlich auch nicht der Beobachtung des aktiv-politischen Teils der Bevölkerung; vor allem war es die Parteigenossenschaft, auf die dieser Zustand beschämend wirkte. So kam es denn, daß bereits im Vorjahre, in verstärktem Maße jedoch während der Berichtszeit Einzelaktionen , die sich zunächst im Einwerfen von Schaufensterscheiben und in der Beschmierung jüdischer Geschäfte äußerten, festgestellt wurden. Diese Selbstmaßnahmen der Bevölkerung erreichten in den Monaten Mai/Juni, in denen es auch zur Zerstörung von Räumen der jüdischen Kultusgemeinde kam, ihren Höhepunkt, ohne jedoch an dem bestehenden Zustand etwas geändert zu haben.

Die Verordnung gegen die Tarnung jüdischer Geschäfte vom 22.4.1938 wurde daher von weiten Kreisen der Bevölkerung begrüßt, hoffte man, doch, daß dadurch eine Trennung zwischen der jüdischen und arischen Geschäftswelt erfolgt. Mit Ausnahme Berlins, wo eine Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte durch Beschriftung erfolgte, blieb diese Verordnung jedoch wirkungslos. Im Gegenteil, infolge der Uneinheitlichkeit der Durchführung, war eine zunehmende Unsicherheit, vor allem bei den örtlichen Parteileitungen bemerkbar.

Eine praktische Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft begann daher erst mit der Abänderung der Gewerbeordnung vom 6.7.1938, wodurch die Ausübung des Fremdenführergewerbes, des Bewachungsgewerbes und des Grundstückshandels durch Juden verboten wurde. Auch die Entziehung des Wandergewerbescheines und der Legitimationskarten fiel hierunter.10 - In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß noch 9.446 Berliner Grundstücke in jüdischem Besitz sind, wovon 8.242 inländischen und 1.204 ausländischen Juden gehören.

War bis dahin nur ein langsames Zurückdrängen der Juden aus diesem wichtigen Lebenszweig des deutschen Volkes erfolgt, so brachten es die Ereignisse nach dem Pariser Mord mit sich, daß am 31.12.38 die restlose Beseitigung des jüdischen Einflusses aus der Wirtschaft erfolgte. Eine Ausnahme bilden die Juden ausländischer Staatsangehörigkeit, denen auch nach dem 31.12.1938 die Ausübung ihres Gewerbes gestattet bleibt. Von der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und der dazu ergangenen Durchführungsverordnungen werden in Berlin 3.767 Einzelhandelsgeschäfte betroffen, von denen aber nur 1.200 in arischen Besitz überführt werden sollen,11 um eine Übersetzung einzelner Gewerbszweige zu vermeiden. Z.Zt. sind 700 Geschäfte arisiert worden, bei den restlichen 500 werden die Verhandlungen durchgeführt.

 

Rasse- und Volksgesundheit

Auf dem Gebiete der Rasse- und Volksgesundheit brachte das Berichtsjahr ebenfalls eine entscheidende Veränderung. Durch die vierte, fünfte und sechste Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz erfolgte die Ausschaltung der jüdischen Ärzte . Von diesen Verordnungen wurden in Berlin 1.561 jüdische Ärzte und im Regierungsbezirk Frankfurt/Oder 25 Ärzte betroffen. Der Anteil der Juden an diesem Berufszweig belief sich noch am 1.7.1938 auf 22,4%.

Ganz erheblich höher als im Vorjahre ist die Zahl der gemeldeten Rasseschandefälle . Während im Jahre 19371.342 Fälle bearbeitet wurden, lagen bis zum 31.10.1938 bereits 1.718 Rasseschandedelikte vor, sodaß sich die Zahl für 1938 auf über 2.000 belaufen dürfte. Die Zahlen beziehen sich auf Berlin.

Ein bisher ungelöstes Problem ist das der jüdischen Prostituierten, deren Zahl sich in Berlin auf etwa 70 beläuft. Etwa die Hälfte von ihnen war bereits in Rasseschandenprozessen verwickelt. Eine Überführung in ein Konzentrationslager erfolgte aber nur dann, wenn die angeklagten Männer rechtskräftig verurteilt wurden.

 

Rechtswesen

Nachdem durch die fünfte Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz die jüdische Rechtsanwälte , und durch die sechste Verordnung die jüdischen Patentanwälte aus dem Rechtsleben ausgeschaltet wurden, wurden von den 698 betroffenen Rechtsanwälten 72 als Konsulenten zugelassen.

In der Rechtssprechung hat ein außerhalb des Dienstbezirkes gefälltes Urteil, welches eine Jüdin die wegen Vergehens gegen den § 218 (Abtreibung) angeklagt war, freisprach, erhebliches Aufsehen und Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Rechtswahrerstandes gegeben. Die Begründung des Urteils besagt, daß der § 218 das Bluterbe des deutschen Volkes, nicht aber das des jüdischen schützen will.

 

Kulturelles Leben

Auf diesem Gebiet ist die Anordnung des Reichspropagandaministers vom 12.11.1938 bemerkenswert, wonach Juden der Besuch kultureller Veranstaltungen verboten ist. Auswirkungen dieser Anordnung machten sich besonders bei den Lichtspieltheaterbesitzern des Westens bemerkbar, die seit dieser Zeit einen Besucherrückgang von 30-50% aufzuweisen haben. Für das Judentum selbst bedeutet diese Anordnung ein verstärktes Interesse an den Veranstaltungen des jüdischen Kulturbundes .

 

Erziehung

Die Verordnung des Reichserziehungsministers vom 30.11.193812 untersagte den Juden weiterhin den Besuch, der dem Reichserziehungsministerium unterstellten Schulen, nachdem bereits vorher die jüdischen Kinder aus den Volks- und Mittelschulen entfernt worden waren. Auch die Entlassung der Fortbildungsschulpflichtigen Juden ist inzwischen erfolgt. Da die in Berlin bestehenden 27 jüdischen Schulen 13 ohnehin im Jahre 1938 einen größeren Schülerrückgang hatten, macht die Aufnahme der Entlassenen keinerlei Schwierigkeiten.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Judenfrage seit der Machtübernahme erstmalig in der Berichtszeit in ein entscheidendes, soweit es die Ausschaltung aus den Lebensgebieten betrifft, in ein abschließendes Stadium getreten ist.

Den Juden sind durch eine Vielzahl von Verordnungen große Beschränkungen in ihrer persönlichen Freiheit auferlegt worden. Das jüdische Vereinswesen ruht völlig. Für die jüdische Auswanderung spielen die verschiedenen Richtungen des Zionismus, wie auch das Ziel der Auswanderung, keine Rolle mehr. Eine Vereinfachung der zur Auswanderung erforderlichen Formalitäten würde binnen kurzem die Auswanderungsziffern wesentlich erhöhen. Die jüdische Presse ist bis auf ein Zentralorgan14 lahmgelegt und spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die Lebensgebiete sind durch die einschneidenden Maßnahmen von jeglichem jüdischen Einfluß gesäubert. Ungeklärt ist bisher lediglich die Frage der jüdischen Zahnärzte und Dentisten.

Über die Gestaltung der weiteren Entwicklung läßt sich z.Zt. noch kein Urteil bilden, da ein großer Teil der erlassenen Gesetze und Verordnungen mit dem Abschluß der Berichtszeit zusammenfielen.

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