SD-Bericht aus Chemnitz
Am 18. Januar 1939 erstattet der SD-Oberschnitt Elbe (II 112) seinen „Bericht für 1938“:
Das Jahr 1938 stand unter dem Zeichen verschärfter antijüdischer Haltung der Partei, des Staates und der Bevölkerung, die unter dem Eindruck der Tat von Herschel Grynspan durch antijüdische Aktionen der Partei und ihrer Gliederungen ihren Höhepunkt erreichte und Ausmaß in bisher nicht gekanntem Umfange annahm.
Im Gau Sachsen begann das Jahr 1938 verheißungsvoll mit antijüdischen Kundgebungen. Auf Veranlassung des Gauleiters wurde am 31.1.38 in Dresden, Bad Weißer Hirsch, eine Protestkundgebung gegen die dort aufhältlichen jüdischen Kurgäste veranstaltet. Der Erfolg war das fluchtartige Verschwinden von 150 Juden. Im Februar 1938 wurden schlagartig die Kundenkarteien der größeren jüdischen Geschäfte Sachsens einer Kontrolle nach arischer Kundschaft unterzogen. Ein großer Teil dieser Kunden vermied es daraufhin, weiter bei Juden zu kaufen. Anfang März fand in sämtlichen Orten Sachsens, besonders in den Großstädten mit jüdischer Bevölkerung, eine Versammlungswelle von hunderten von Massenkundgebungen, zum Teil mit prominenten Reichsrednern der NSDAP , unter dem Stichwort ''Völkerfrieden oder Judendiktatur'' statt. Auch in den übrigen Gauen Thüringen, Halle-Merseburg und Magdeburg-Anhalt wurde durch antijüdische Maßnahmen, speziell auf wirtschaftlichem Gebiet, versucht, den Einfluß des Judentums zu brechen. Allgemein wurden Schilder verschiedener Art angebracht, um die jüdischen Geschäfte als solche dem kauflustigen Publikum kenntlich zu machen. Verschiedentlich kam es auch zu Ausschreitungen gegen jüdische Einzelhandelsgeschäfte, wie in Leipzig gegen die UWO-Filiale, die daraufhin behördlicherseits geschlossen wurde. Wenn aufgrund dieser Maßnahmen die Juden trotzdem nicht in erhöhtem Maße ihre Geschäfte verkauften, so ist dies nur ein Zeichen dafür, daß auch diese jüdischen Geschäfte an dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung Anteil hatten. Ein Teil der jüdischen Geschäftsinhaber versuchte, seine Geschäfte pro forma an Strohmänner abzugeben, oder sie mit Hilfe arischer Verwandter zu arisieren. Gegen diese Tarnungsversuche wurde am 22.4.1938 die Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe erlassen. Ein weiterer Schlag im Reichsmaßstabe erfolgte am 23.4.19383 mit der Verordnung über die Anmeldung des jüdischen Vermögens. Wenn auch vorerst die Juden durch diese Anmeldung nicht direkt geschädigt wurden, so bedeutete sie aber doch einen ziemlichen Unsicherheitsfaktor, da zunächst nicht bekannt war, welchen Zwecken diese Anmeldung dienen sollte. Schlag auf Schlag folgten weitere Verordnungen und Gesetze, die die Existenzgrundlage eines großen Teiles des Judentums erschütterten. Am 6.7.1938 erschien das Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich (Einschränkung der gewerblichen Tätigkeit von Juden). Kurze Zeit darauf kam die Ausschaltung der jüdischen Ärzte . Den schwersten Schlag, den das Gesamtjudentum erhielt, war die Verordnung vom 12.11.1938 zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Hatten alle vorhergegangenen Gesetze und Anordnungen und alle von seiten der Parteistellen oder der Bevölkerung ergriffenen Maßnahmen nur die Wirkung, daß einzelne Juden, ihrer augenblicklichen Existenzgrundlage entzogen, versuchten, sich einen anderen Verdienst zu beschaffen, so erloschen mit der Verordnung vom 12.11.1938 sämtliche Möglichkeiten restlos. Die Gesetze und Verordnungen brachten also sowohl eine schwere Schädigung bezw. Zerschlagung des jüdischen Wirtschaftslebens, als auch eine fast restlose Isolierung des Judentums vom deutschen Volke. Soweit die Verordnungen nur Juden deutscher Staatsangehörigkeit und Staatenlose betrifft, wird ihre Bedeutung für manche Orte, besonders für Leipzig, stark herabgemindert, da hier über 50% der Juden die ausländische, vor allem die polnische Staatsangehörigkeit, besitzen.
Die Juden - insbesondere deutscher Staatsangehörigkeit und Staatenlose - die bis in die letzte Zeit zwar gern über Auswanderungsprobleme diskutierten, aber nur in den wenigsten Fällen ernsthaftes Interesse dafür zeigten, sind nun unter dem Druck der Verhältnisse fast ausnahmslos bereit, in kürzester Zeit auszuwandern . Diese Tatsache trifft in erster Linie auf die vermögenden Juden zu. Allerdings liegt hierin eine große Gefahr, da damit zu rechnen ist, daß, wenn die Abwanderung dieser führenden und finanziell gut dastehenden Juden nicht unterbunden wird, ein führerloses Judenproletariat zurückbleibt, das nur eine Belastung und einen nicht zu unterschätzenden Unruhefaktor darstellt.
Der Auswanderung des Durchschnittsjuden stellen sich jedoch Hindernisse entgegen, die z.Zt. schwerlich behoben werden können. Einmal sind die Schiffspassagen aller Linien für längere Zeit besetzt; zum anderen besteht eine vorübergehende Einwanderungssperre in Amerika, sowie in vielen anderen Ländern.
Ein typisches Beispiel hierfür zeigt die Israelitische Kultusgemeinde in Dresden. Diese besitzt durch Vermittlung des Gemeindemitgliedes und Juden mit USA-Staatsangehörigkeit, Hermann Schocken, genügend Affidavits. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika stellen jedoch nur in ganz geringem Umfange Zertifikate aus und die Bürgschaftserklärungen sind daher für die Dresdner Juden vorläufig wertlos. Auffallend ist auch hier, daß die intellektuellen Juden und meist auch die finanziell besser gestellten, eher eine Einreiseerlaubnis bekommen, als die übrigen.
Darüber hinaus haben sich noch folgende Auswanderungshinweise bemerkbar gemacht:
1) Fehlen finanzieller Unterstützung durch jüdische Vereine .
2) Fehlen finanzieller Beihilfen vermögender Juden, die über ihr Vermögen infolge Sicherungsanordnung nicht verfügen können.
3) Von den Einreiseländern geforderte Landungsgelder, die nur vermögende Juden oder solche, die vermögende Verwandte in dem betr. Land haben, zahlen können.
4) Weigerung des polnischen Konsulates, Einträge in die Pässe polnischer Juden zu machen, aufgrund deren sie als polnische Staatsangehörige auswandern könnten.
5) Jüdisch-arabischer Konflikt (vorläufige Einstellung der Kinderverschickung nach Palästina )
Die angeführten Hindernisse machen es daher auch verständlich, daß die Auswanderungszahlen verhältnismäßig gering sind. So wanderten aus Leipzig von rund 11.000 Juden am Anfang 1938 im Laufe des Jahres 1.015 ab, im Gau Magdeburg-Anhalt von ca. 3.000 Juden 102, im Dresdner Gebiet von ca. 4.000 Juden rund 200. In diesen Zahlen sind nicht die Ende Oktober ausgewiesenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit enthalten, da man bei diesen abgeschobenen Juden nicht von einer Auswanderung im eigentlichen Sinne sprechen kann, zumal noch gar nicht feststeht, ob nicht ein großer Teil wieder zurückkommt. Aufschlußreich ist eine Aufstellung aus Halle über die Auswanderungsziffern der einzelnen Monate. Aus dieser Aufstellung ist genau ersichtlich wie der fortwährende Druck auf wirtschaftlichem Gebiete die Juden zu einer Auswanderung veranlaßte.
Januar: 2
Februar: 5
März: 11
April: 10
Mai: 7
Juni: 8
Juli: 9
August: 17
September: 23
Oktober: 21
November: 13
Dezember: 41
Die Entziehung der wirtschaftlichen Basis des Judentums brachte es naturgemäß mit sich, daß ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung verarmte oder in absehbarer Zeit vor einem Nichts steht. Der sogenannte jüdische Mittelstand ist im Gegensatz zum Anfang des Jahres nunmehr fast gänzlich verschwunden. Heute gibt es fast nur noch zwei Arten von Juden: die reichen Juden, deren Vermögen allerdings im Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung unverhältnismäßig hoch ist, selbst wenn man die vermögenslosen Juden in die Berechnungszahl mit einschließt und als zweites, ein jüdisches Proletariat. Dieses ist vollkommen auf die Unterstützung der jüdischen Fürsorge angewiesen. Durch die Zerschlagung der gesamten jüdischen Organisationen liegt heute die Fürsorgetätigkeit ausschließlich in den Händen der Israelitischen Kultusgemeinden. Die Summen, die für Unterstützungen aufgewendet werden, zeigen immer weiter steigende Tendenz, während die für diese Zwecke eingehenden Gelder immer geringer werden. Ein Teil der Gemeindenmist bereits zwangsläufig dazu übergegangen, Einsparungen an allen möglichen anderen Stellen vorzunehmen, die allerdings das Manko nicht ausgleichen. Viele Gemeinden weigern sich bereits, Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu unterstützen und weisen deren Unterstützungsgesuche grundsätzlich ab. Der Jüdischen Winterhilfe , die bis zuletzt an bedürftige Juden ohne Ansehen der Person oder Staatsangehörigkeit ihre Gaben verteilte, fließen immer weniger Mittel zu, und die vorhandenen Lebensmittel und Kleidungsstücke sind in Kürze aufgebraucht.
Ganz automatisch hat sich im Laufe des Jahres der Schwerpunkt der gesamten jüdischen Arbeit auf die Gemeinden verlagert. Anfang bis Mitte des Jahres versuchten die Gemeinden ihren Einfluß auf das Gesamtjudentum durch Einzelmaßnahmen, wie neutrale Heimabende, Vorträge allgemeiner Art, offene Unterstützung des Hilfsvereins in Auswanderungsfragen zu erhöhen. Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres konnte ein Teil der jüdischen Organisationen ohne finanzielle Hilfe der Gemeinden ihren Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Naturgemäß machte sich daraufhin der Einfluß der Gemeinden auch auf die Organisationen bemerkbar, je nach Ausrichtung der führenden Gemeindevorsitzenden. Auffallend war, daß in einem großen Teile der Kultusgemeinden das assimilatorische Element durch CV-Angehörige die Oberhand gewann und eine Arbeitsteilung zwischen Gemeinde und CV eintrat. Die Auswanderungsberatung, wie überhaupt die ganze Auswanderungsarbeit verlagerte sich immer mehr auf die Gemeinden und den von ihnen betreuten Hilfsverein, während die Beratung auf dem wirtschaftlichem Gebiete der CV an sich gerissen hatte.
Ein weiterer ausschlaggebender Faktor war der jüdische Kulturbund geworden, der sich ebenfalls mit Hilfe der Gemeinden, die gesamte seelische und geistige Betreuung, abgesehen von Gottesdiensten, zur Aufgabe gemacht hatte. Während früher die einzelnen jüdischen Organisationen ihre Anhänger nicht nur zu politischen Veranstaltungen zusammenriefen, sondern auch Veranstaltungen unterhaltender Art abhielten, hatte dies der Kulturbund restlos übernommen und den politischen Organisationen die rein politische Arbeit überlassen, die aber bei den einzelnen Juden immer weniger Anklang fand. Der Versuch der Zionisten , die Arbeit des Kulturbundes zu stören, war in den seltensten Fällen von Erfolg gekrönt. Nur in der Magdeburger Gegend brachten es die Zionisten fertig, die Kulturbundarbeit zu sabotieren und in Halberstadt den Kulturkreis der Synagogengemeinde zur Auflösung zu bringen.
Alle diese Machtkämpfe innerhalb der jüdischen Organisationen rissen mit der Aktion im November mit einem Schlage ab. Da fast im gesamten OA -Gebiet der Kulturbund seine Arbeit aus Mangel an geeigneten Räumen noch nicht wieder aufnehmen konnte, läßt sich zur Zeit noch nicht übersehen, welche Tendenzen er in seiner zukünftigen Arbeit herausstellen wird.
Nachdem seit dem 10. November bis Mitte Dezember das gesamte jüdische Leben ausnahmslos brach lag, beginnen seit dieser Zeit nach und nach einzelne jüdische Gemeinden wieder zu arbeiten. Ihre hauptsächlichste Aufgabe ist die Unterstützung hilfsbedürftiger Juden und die Bearbeitung von Auswanderungsangelegenheiten. Nebenher lassen es sich die zur Arbeit bisher zugelassenen führenden Gemeindemitglieder nicht entgehen, die einzelnen jüdischen Organisationen zu einer Liquidierung zu drängen. Sie erhoffen sich dadurch eine größere Schlagkraft der jüdischen Gemeindearbeit, vor allen Dingen dadurch, daß ihnen die gesamten Gelder, die bisher den jüdischen Organisationen zuflossen, für ihre Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Aber bereits hier stellen sich ihnen wieder Hindernisse in den Weg. Hat nämlich ein Verein seine Geschäfte abgewickelt und möchte sich auflösen, um das noch vorhandene Vereinsvermögen der Gemeinde überweisen, so würde ein nicht geringer Teil dieses Geldes der jüdischen Gemeinde durch die Schenkungssteuer verlorengehen. Um dies zu verhindern, läßt man vielfach die Vereine pro forma bestehen und von den Mitgliedern auch weiterhin Beiträge kassieren und führt monatlich einen Teil der Gelder der JHW als Spende zu. Auf diese Art wird im Laufe der Zeit das Vereinsvermögen immer weniger, bis es eines Tages fast gänzlich durch solche Spenden verschwunden ist und der Verein sich auflösen kann. Dieser Taktik wird insofern Vorschub geleistet, als keine offizielle Anweisung zur Auflösung der Organisationen gegeben ist und ein örtliches Vorgehen infolge Fehlens jeder Handhabe zur Zeit nicht gegeben erscheint. Teilweise sind bei einzelnen jüdischen Organisationen, speziell bei kleineren, die Passiven größer als die Aktiven. Auch in diesem Falle sehen die Vereine bis auf weiteres von einer Auflösung ab, da die Geschädigten zum allergrößten Teil nur Juden wären und diese dann sich wieder an die Gemeinden wenden würden. In allen Fällen wird von den örtlichen Staatsstellen die Auflösung jedoch erst genehmigt, wenn die nichtjüdischen Gläubiger der Verein befriedigt sind. Aus diesem Grunde kommt es, daß überall noch ein großer Teil der bisherigen jüdischen Organisationen besteht, ohne daß jedoch von einer Vereinstätigkeit gesprochen werden könnte.
Allgemein ist jedoch die Beobachtung zu machen, daß das Judentum in seinen Organisationen und vor allem die jüdischen Gemeinden ohne Wissen der örtlichen staatlichen Stellen nichts unternehmen und daß sie sich in allen ihren Handlungen durch Befragung Rückendeckung verschaffen.
Eine Änderung der Lage des Judentums brachten aber nicht nur die Ereignisse im Inland bezw. das Vorgehen staatlicher Stellen mit sich. Von großem Einfluß waren vielmehr auch außenpolitische bezw. weltpolitische Vorkommnisse. Den ersten Schlag erhielt das Judentum Anfang des Jahres durch die Einsetzung der Regierung Goga in Rumänien. Der Schreck war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits bei den ersten antijüdischen Maßnahmen der Regierung Goga wurde ihr von seiten der Juden eine kurze Lebensdauer prophezeit. Die Juden sollten Recht behalten. Nach einem kurzen Ducken brach die Freude über den Sturz Gogas umso heftiger hervor und ein großer Teil der Juden versuchte gar nicht, mit seiner Freude hinter dem Berge zu halten, sondern gab ihr unverhohlen Ausdruck. In einem jüdischen Lokale Leipzigs zum Beispiel wurden wahre Freudenorgien in Gestalt von Wein- und Sektgelagen von den an diesem Abend besonders zahlreich erschienenen Juden gefeiert. Ob das Judentum glaubte, daß nunmehr der Sieg auch über das nationalsozialistische Deutschland näher rückte, ist nicht bekannt, aber aus ihrem Verhalten zu vermuten.
Diese Aussicht wurde aber durch die Angliederung der Ostmark an das Reich rasch gedämpft. Zumal, als die in der Ostmark getroffenen antijüdischen Maßnahmen bekannt wurden, verbreitete sich allgemeiner Schrecken. Die gesamte Judenheit glaubte, daß diese einschneidenden Maßnahmen auch in Deutschland zur Anwendung kommen würden. Erst als dies im Laufe des Sommers nicht geschah, atmeten sie wieder auf.
Viel Hoffnungen setzten die Juden auf die Konferenz von Evian, die ihnen neue Einwanderungsmöglichkeiten bringen sollte. Diese Erwartungen mußten sie aber in dem Augenblick fallen lassen, indem als Erfolg dieser Konferenz nur die Errichtung eines ''Ständigen Büros'' bekannt wurde.
Im August, als die ersten Anzeichen eines Konfliktes mit der Tschechoslowakei deutlicher hervortraten, wurde auch die Judenschaft wieder aus ihrer bis dahin gezeigten Reserve hervorgelockt. Zumal zu gleicher Zeit die rassepolitischen Maßnahmen in Italien mit aller Schärfe zur Durchführung gelangten.
Gerade im Gebiet des Gaues Sachsen, zum Teil auch darüber hinaus, bestanden viele Beziehungen nach der Tschechoslowakei. Diese waren zum großen Teil rein geschäftlicher Natur. Zu einem nicht geringen Teil aber hatten sie auch persönliche Motive. Gerade die CSR war es, die für jüdische Flüchtlinge aus dem hiesigen Gebiet als Emigrationsland in Frage kam, wodurch mancherlei verwandtschaftliche Bande hinüber und herüber spielten. Zum anderen hatte die ganzen Jahre die verhältnismäßig nahe gelegene Grenze die Juden, die noch einigermaßen über Geldmittel verfügten, gelockt, die Orte jenseits der Reichsgrenze als Ziele ihrer Wochenendfahrten zu wählen. Kein Wunder, daß die tschechoslowakische Frage eifrig besprochen wurde, ohne daß die Juden jedoch offiziell irgendwie Stellung nahmen. Mit Bestimmtheit muß aber aus den obenerwähnten Gründen angenommen werden, daß die Juden nichts sehnlicher wünschten, als ein Eingreifen der Westmächte und Sowjetrußlands zugunsten der CSR; denn solange Deutschland durch die CSR und ihre Verbündeten bedroht wurde, glaubten die Juden im Altreich noch einigermaßen sicher zu sein, vor einschneidenden Maßnahmen der Deutschen Regierung. Wie sehr die Juden im Grenzgebiet an eine gewaltsame Auseinandersetzung glaubten, ist daraus ersichtlich, daß in Dresden z.B. der Andrang im Israelitischen Gemeindeamt zur Gasmaskenausgabe außerordentlich stark war. (Hierzu muß bemerkt werden, daß die nichtjüdische Bevölkerung kein Verständnis für die Verteilung von Gasmasken an Juden aufbrachte, zumal ein nicht geringer Teil der Volksgenossen nicht damit beliefert werden konnte).
Durch die Lösung der sudetendeutschen Frage wurde den Juden im mitteldeutschen Raum jedoch ein Schlag versetzt, der sie schwerer getroffen hat, als die Angliederung der Ostmark.
Völlig überraschend kam der Abschub der Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Daß Polen den im Ausland wohnenden Juden in ihrer Mehrzahl die Staatsangehörigkeit aberkennen wollte, war allgemein bekannt. Die Reaktion auf diese von den Polen in Aussicht genommene Maßnahme war auf die einzelnen Juden polnischer Staatsangehörigkeit verschieden. Ein Teil bemühte sich mit allen Mitteln, seine Pässe in Ordnung zu bringen lassen, um polnischer Staatsbürger zu bleiben, da er glaubte, hierdurch bei eventuellen antijüdischen Maßnahmen des Reiches eine Ausnahmebehandlung erlangen zu können. Ein anderer Teil wieder stand dem Verlust der polnischen Staatsbürgerschaft nicht ablehnend gegenüber und war der Meinung, daß er als Staatenloser nicht so leicht von einer Ausweisung betroffen wird. Das plötzliche Eingreifen des Staates vor Ablauf der Frist hatte jedenfalls keiner der Juden erwartet. Im großen und ganzen wurden dadurch die Orte mit einem Schlage frei von jüdisch-polnischer Bevölkerung - bis auf Leipzig -. Hier saßen die ''polnischen Juden'' derart dick aufeinander, daß es der Ordnungspolizei einfach nicht möglich war, überraschend zuzugreifen und es dadurch einem großen Teil der Juden gelang, aus der Wohnung zu verschwinden und sich irgendwo verborgen zu halten. Auf Grund der schon verschiedentlich stattgefundenen Festnahmeaktionen weiß der Jude nämlich ganz genau, daß nach zwei bis drei Tagen eine gewisse Beruhigung der Lage eingetreten ist und er nichts mehr zu befürchten hat. Wie immer, so spielte auch in diesem Falle wieder der polnische Konsul in Leipzig eine mehr als fragwürdige Rolle. Es gelang jedenfalls in Leipzig nur ca. 1.600 (50%) der Juden polnischer Staatsangehörigkeit zum Abtransport zu bringen. Gerade die Prominentesten hatten im polnischen Konsulat Unterschlupf gefunden und es besteht der starke Verdacht, daß der polnische Konsul bereits vor der Zeit von der geplanten Aktion erfuhr und den Juden über Mittelsmänner Warnungen zugehen ließ.
Interessant bei diesem Abtransport der Juden polnischer Staatsangehörigkeit war die Beobachtung, wie weit die Versippung polnischer Staatsangehöriger mit Juden anderer Staatsangehörigkeit oder Staatenloser fortgeschritten ist. In vielen Fällen mußten die Familienmitglieder getrennt werden, da nur ein Teil der Familie die polnische Staatsbürgerschaft besaß.
War bei den ersten Transporten noch eine mehr als gedrückte Stimmung zu bemerken, so hatte sich bei den letzten ein Stimmungsumschwung eingestellt. Aus einem durch Leipzig fahrenden und von Nürnberg kommenden Zuge riefen einige Juden ihren auf dem Bahnsteig stehenden Rassegenossen zu: ''Wir kommen ja bald wieder!'' Daß der größte Teil der ausgewiesenen Juden tatsächlich daran dachte, wieder zurückzukommen, ist nicht nur daraus ersichtlich, daß bereits nach kurzer Zeit einige der damals abgeschobenen Juden wieder auftauchten, sondern auch daran, daß ein nicht geringer Teil Verwandte, Bekannte oder irgendwelche Organisationen mit der vorläufigen Abwicklung bezw. Aufrechterhaltung seiner Geschäfte und Haushaltungen noch in letzter Minute auf dem Bahnhof beauftragte. Bei der Annahme derartiger Aufträge tat sich besonders der CV hervor.
Das Nichtzustandekommen dieser Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr dürfte wohl nicht nur auf die bis heute noch nicht zum Abschluß gekommenen Verhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen zurückzuführen sein. Einer der Hauptgründe ist vielmehr auch in dem Fall Herschel Grynspan und in den daraus für die Juden in Deutschland entstandenen Folgen zu suchen.
Mit den sogenannten Novemberaktionen, unter denen die Reaktion der Bevölkerung auf das Attentat des Juden Grynspan auf den Gesandtschaftsrat vom Rath verstanden wird, wurde die ganze Behandlung der Judenfrage in ein entscheidendes Stadium gedrängt und zum Teil zu einem gewissen Abschluß gebracht.
Von der nichtjüdischen Bevölkerung wurde der Fall Grynspan und dessen Folgen sehr geteilt aufgenommen. In Arbeiterkreisen und durch den Mittelstand wurde zwar die Aktion (Synagogenbrände, eine Milliarde Buße, Entziehung der wirtschaftlichen Grundlagen usw.) gutgeheißen, aber auf die dabei vernichteten Werte, die im Rahmen des Vierjahresplanes Verwendung finden konnten, verwiesen. Von einem Teil der sogenannten ''gebildeten'' Kreise wurden auch diese Maßnahmen, wie fast jede andere, die sich gegen das Judentum richtet, stark kritisiert. Die über dies Aktion veröffentlichten Presseberichte mit den Überschriften: ''Spontane Volkskundgebungen gegen das Judentum'', ''Empörte Volksmenge setzt Synagoge in Brand'' usw. verfehlten vollkommen ihre Wirkung. Allgemein wurden derartige Artikel deshalb lächelnd aufgenommen, weil man genau wußte, von und durch wen diese Aktionen durchgeführt worden waren. Die Meinung, daß die Judenaktion vom November, ähnlich wie der Judenboykott 1933, ein taktischer Fehler gewesen sei, setzt sich immer mehr durch. Aus Parteikreisen stammt die Äußerung, daß die Presse mit ihrer Behauptung von ''spontanen Kundgebungen'' dem Reiche ins Gesicht geschlagen habe, denn wenn schon spontane Kundgebungen heute noch möglich wären, stünde es durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß sich ''spontane Kundgebungen'' auch einmal gegen Kreise der Partei wenden könnten. Auch die seither vor jedem Nachrichtendienst im Rundfunk bekanntgegebenen Worte führender Männer über das Judentum werden so gut wie nicht beachtet, geschweige denn darüber gesprochen. Es wird die Meinung laut, daß gegen die Juden die entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen ergriffen seien und sich somit der Fall erledigt habe.
Die Juden selbst wurden bei Bekanntwerden des Attentates zweifelsohne in starkes Erschrecken versetzt und glaubten bereits am ersten Tage an Gegenmaßnahmen behördlicher Stellen oder gar des Reiches. Als diese jedoch vorerst ausblieben, atmeten sie wieder etwas auf und glaubten, daß diesesmal der Schlag noch an ihnen vorübergehen würde. Daß der Anschlag derart radikale Auswirkungen zeitigen würde, wie sie die Novemberaktion darstellten, hatten sie keineswegs erwartet und sie kamen zu einem großen Teil überraschend. Mit einem Male zeigten selbst die Hartnäckigsten unter der Judenschaft den Willen zur Auswanderung. Jeder einzelne setzte alle Hebel in Bewegung und benutzte sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um seine Auswanderung durchführen zu können. Aber bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit machten sich die ersten Anzeichen einer erlahmten Energie bemerkbar. Soweit es sich um vermögende Juden handelt, glauben sie, von ihrem Vermögen im Inland bis an das Ende ihrer Tage leben zu können, was ihnen ihre Meinung nach mit dem geringen Rest, der ihnen bei einer Auswanderung verbleibt, im Auslande nicht möglich ist. Dies trifft speziell für ältere Leute zu. Die große Masse der minderbemittelten Juden und derjenigen, die durch die Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben betroffen wurden, beginnen mit einem gewissen Fatalismus in die Zukunft zu sehen. Wohl suchen sie die Auswanderungsberatungsstellen auf, wohl beschaffen sie auch alle von diesen angeforderten Papiere, die zu einer Auswanderung nötig sind, aber alles geschieht mit einer Unlust und Gleichgültigkeit. Die größte Sorge aller jüdischen Stellen ist das Herausbringen der Kinder aus dem Reich in Form von sogenannten Kinderverschickungen. Die Hauptaufnahmeländer hierfür sind zur Zeit England und Holland. Palästina scheidet augenblicklich wegen des Araberkonfliktes aus und Überseeländer kommen aus Gründen hoher Transportkosten und Mangel an Schiffspassagen bis auf weiteres nicht in Frage.
Das Judentum in Deutschland sah sich also Ende des Jahres 1938 in voller Auflösung begriffen. Um die restlose Klärung und Lösung der Judenfrage herbeizuführen und für die Juden auf möglichst vorteilhafte Art zu einem Ende zu bringen, sieht sich die jüdische Führung, die örtlich in den Händen der früheren Kultusgemeinden liegt, gezwungen, die bis heute verbliebenen Reste ihrer Rassegenossen zu sammeln und die jüdische Arbeit auf einer vollkommen neuen Basis aufzubauen. Diese Arbeit darf nur zwei Ziele kennen. Als erste und größtes Ziel die Auswanderung und als zweites die Sicherstellung des notwendigsten Lebensunterhaltes für die Zurückbleibenden. Eine seelsorgerische Tätigkeit kommt in den allerwenigsten Fällen mehr in Frage, da die Synagogen und Bethäuser mit ganz geringen Ausnahmen vernichtet sind und es den Juden wohl kaum gelingen dürfte, bei Ariern hierfür irgendwelche Räumlichkeiten zu mieten. Außerdem dürften selbst große und größte Gemeinden ihre Gelder heute wohl viel nötiger gebrauchen, als für hohe Rabbinergehälter und die Einrichtung und Erhaltung kostspieliger Kulträume.
II 112 1 - Assimilanten
Am Anfang des Jahres 1938 bestand der Eindruck, als ob der Jüdische Centralverein e.V. seine Tätigkeit fast gänzlich eingestellt hätte. Zu Veranstaltungen rief er seine Mitglieder nur noch in ganz außergewöhnlichen Fällen zusammen und auch da höchstens zu Arbeitsgruppen in größeren Orten mit verhältnismäßig starken Ortsverbänden. Erst im Laufe des Jahres 1938 wurde immer klarer, daß sich die eigentliche CV-Arbeit nicht in der Öffentlichkeit abspielte. Wohl fast keine andere jüdische Organisation war derart straff gegliedert wie der CV und niemand benötigte für die Betreuung seiner Mitglieder und die Art seiner Arbeit so wenig das Hervortreten an die Öffentlichkeit, wie er. Dadurch, daß die einzelnen Ortsverbände des CV im OA -Gebiet zu einem Landesverband zusammengeschlossen waren und dieser die führenden Stellen hauptamtlich besetzt hatte, war es möglich, daß mit Hilfe dieser hauptamtlichen Kräfte, die außerdem fast durchgängig zu den befähigsten Juden gehörten, eine intensive Einzelarbeit geleistet werden konnte. Besonders der Syndikus Kurt Sabatzky und der erste Vorsitzende, Landgerichtsrat a.D. Cohn waren den größten Teil ihrer Zeit in den verschiedenen Orten unterwegs. Hier wurde den einzelnen um Rat und Hilfe nachsuchenden Juden in sogenannten Beratungsstunden Auskünfte erteilt. Diese Auskünfte waren fast 100%ig rechtlicher Natur. Auffallend dabei war besonders, daß Auswanderungsfragen als solche grundsätzlich nicht behandelt wurden, sondern daß in diesem Zusammenhang lediglich Fragen der Vermögenstransferierung oder anderer Dinge, die irgendwie gesetzlich geregelt werden mußten, eine Beantwortung fanden. Mit der Novemberaktion wurde diese Tätigkeit des CV unterbunden. Von Interesse ist, daß die Vorsitzenden des CV nach ihrer Entlassung als Kriegsteilnehmer aus dem KZL sofort bei der Geheimen Staatspolizei vorsprachen und die Möglichkeit einer Fortsetzung ihrer Tätigkeit forderten.
Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten trat nach einer anfänglich immer noch regen Tätigkeit, soweit es Versammlungen betraf, im Laufe des Jahres immer weniger hervor. Auch hier erweckte es nur den Anschein, als ob nach und nach der Bund aus dem öffentlichen jüdischen Leben verschwinden würde. Die Mitglieder stellten sich jedoch den jüdischen Gemeinden und anderen jüdischen Organisationen zu allen möglichen Zwecken zur Verfügung. Zum Beispiel stellten sie ein nicht geringes Kontingent der Sammler und sonstigen Mitarbeiter für die Jüdische Winterhilfe. Das Haupttätigkeitsgebiet aber lag für die männlichen Mitglieder in der Ausübung der sogenannten Ordnertätigkeit anläßlich von Veranstaltungen größerer jüdischer Verbände, jüdischer Gemeinden und anläßlich jüdischer Feiertage in und vor den Synagogen. Da die betreffenden Juden außer dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten zu gleicher Zeit auch der betr. jüdischen Organisation und selbstverständlich auch der Gemeinde angehörten, erweckte es daher anfangs den Anschein, als übten sie diese Tätigkeit nicht als Mitglieder des Reichsbundes, sondern als Mitglieder der betreffenden Organisation aus. Erst eine Ende des Jahres erschienene Anzeige, sowie aufgefundene Schriftstücke erbrachten den Beweis, daß die Ordnertätigkeit vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten auf Ansuchen organisiert worden war. Eine Unterbindung dieser Art der Tätigkeit erübrigte sich durch die Ereignisse des November. Ob und inwieweit der Reichsbund seine ehemalige offizielle Tätigkeit der Betreuung der Kriegsopfer und Kriegshinterbliebenen wieder aufnehmen wird, ist nicht bekannt. Die Art der ersterwähnten Betätigung dürfte jedenfalls nicht mehr in Frage kommen.
Zu einer immer mehr akut werdenden Frage entwickelt sich die Betätigung der ''Vereinigung 1937''. Wie Beobachtungen im Laufe des Jahres ergaben, ist die Tätigkeit der zentralgeleiteten Vereinigung über ihre Bezirksgruppen eine ziemlich rege. Die Arbeit dieser Organisation ist umso schwerer kontrollierbar, da die Zusammenkünfte mit einer einzigen Ausnahme im OA -Gebiete, nämlich in Leipzig, nur in Form von kleinen Zirkeln, in denen jeder jeden kennt, stattfinden. Die Art der Arbeit dieser Organisation auf die vorbezeichnete Art und Weise ist umso bedenklicher, als es sich hier nicht um Personen handelt, die abgeschlossen von der deutschblütigen Bevölkerung leben, sondern die als Mischlinge , meistens I. Grades, Bindungen jeder Art zu beiden Teilen haben.
Die drei Ortsverbände Magdeburg, Halle und Dresden der jüdisch-liberalen Vereinigung zogen aus der bereits Anfangs des Jahres festgestellten Bedeutungslosigkeit, zu der sie im Laufe der Jahre nach dem Umschwung trotz eifrigster Bemühungen führender Persönlichkeiten herabgesunken waren, die Konsequenzen. Sie lösten sich teils selbst auf, teils wurden sie aufgelöst, da ihre noch vorhandenen Mitglieder fast ausnahmslos Brüder bezw. Schwestern der ehemaligen Organisationen des Unabhängigen Ordens Bne Briss [richtig: Bne Brith] waren und die Gefahr bestand, daß unter dem Vorwand von Veranstaltungen der religiös-liberalen Vereinigung, illegale Zusammenkünfte dieser ehemaligen Ordensmitglieder stattfinden würden.
Von den Jugend- und Sportorganisationen ist lediglich der Sportverein ''Schild" in seinen Ortsverbänden zu benennen. Seine Tätigkeit auf sportlichem Gebiete war, soweit sie nicht in örtlichem Maßstabe anläßlich besonderer Vorkommnisse unterbunden wurde, eine sehr rege. In letzter Zeit ging allerdings der Sportbund dazu über, außer sportlichen, auch andere Veranstaltungen aufzuziehen. Da diese Versammlungen in den weitaus meisten Fällen der Behandlung von Auswanderungsfragen dienten, wurde von Verboten Abstand genommen, trotzdem der stark begründete Verdacht bestand, daß der Sportbund zum großen Teil nur seinen Namen für Veranstaltungen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten für diese Zwecke hergab. Seit November 1938 ist aber im ''Schild" die Tätigkeit restlos eingestellt. Ob und inwieweit der ''Schild" jemals wieder im Laufe der Neuentwicklung der jüdischen Arbeit innerhalb der sportlichen Betätigung, deren Bedeutung für eine Auswanderung nicht ganz von der Hand zu weisen ist, eine Rolle spielen wird, läßt sich zur Zeit nicht übersehen. Die Hoffnung, eine Einflußnahme auf diesem Gebiete wieder zu erringen, scheint in diesen Kreisen jedoch zu bestehen, da die ''Schild"-Sportgruppen im Verhältnis zu den Sportabteilungen anderer jüdisch-politischer Richtungen, viel weniger eine Liquidierung ihrer Vereine betreiben.
II 112 2 - Orthodoxe und Caritative
Die Vereine der verschiedensten orthodoxen Richtungen, an ihrer Spitze die Agudas Jisroel mit ihren Jugendgruppen, hatten innerhalb der Judenschaft schon seit jeher nur eine begrenzte Bedeutung, die örtlich sehr verschieden war. Ihre Tätigkeit lag in der Hauptsache auf dem Felde seelsorgerischer Betreuung des orthodoxen Judentums. Ihre bereits allenthalben bis zu einem gewissen Grade geringe Bedeutung wurde noch dadurch gemindert, daß der Nachwuchs, d.h., die Jugend hier außerordentlich gering war. Ihre etwaige Propagandatätigkeit für eine Auswanderung erstreckte sich in der Hauptsache auf Erez Israel. Da ihre Forderungen aber zum großen Teil überspannt und hauptsächlich auf das rein religiöse abgestellt waren, schieden sie in diesen Fragen fast restlos aus. Bereits in der ersten Hälfte des Jahres erlitten gerade die orthodoxen Gruppen die erste schwere Erschütterung. Da ihre Mitglieder sich größtenteils nur aus Ostjuden zusammensetzten, waren sie fast ausnahmslos nicht in der Lage, anläßlich der Ausscheidung von Juden ausländischer Staatsangehörigkeit aus führenden Stellungen, einen Ersatz für die frei werdenden Vorstandsposten zu finden. Kleinere Organisationen lösten sich selbst auf. Nur sehr selten, wie z.B. in Halberstadt, änderten sie ihre Vereinigung in eine solche mit landsmannschaftlichem Charakter um. Meistenteils übergaben sie ihre Betsäle der örtlichen Religionsgemeinde, auch wenn sie mit dieser nicht ganz einig waren, traten ihr als Mitglieder bei und hielten ihre Gottesdienste dann dort wieder unter sich ab. Den schwersten Schlag aber erlitten sie anläßlich der Ausweisung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit im Oktober, denn rund 90% aller ihrer Mitglieder waren ja polnische Staatsangehörige. Damit war ihre Bedeutung für das Gesamtjudentum nunmehr fast gänzlich ausgeschaltet und die Ereignisse des November hatten für sie nicht die Bedeutung wie für die übrigen Organisationen.
Der Hilfsverein der Juden in Deutschland baute im Laufe des Jahres seine Organisationen im hiesigen Bereich immer weiter aus und errichtete in fast allen Orten mit einer größeren jüdischen Bevölkerungszahl Ortsverbände und Stützpunkte. Dies war ihm umso eher möglich, als er dabei auf das Tatkräftigste von den jüdischen Gemeinden unterstützt wurde. Die Ausbreitung wurde ihm dadurch außerordentlich erleichtert, daß er sich hauptsächlich mit Auswanderungsberatung befaßte und hierzu zum Teil bereits bestehende nicht rein zionistische Auswanderungsberatungsstellen, vor allem deren Bearbeiter, übernahm. Der Hilfsverein ist neben den jüdischen Kultusgemeinden jene jüdische Organisation, die nach den Novemberereignissen ihre Arbeit baldigst wieder aufnahm. Ihre Tätigkeit ist allerdings nicht mehr eine selbständige wie früher, sondern geschieht im Rahmen der Israelitischen Kultusgemeinden, die vom Hilfsverein lediglich die für eine Auswanderung nötigen Unterlagen und die eingearbeiteten Kräfte übernahm.
Die Jüdische Winterhilfe des Winters 1937/38 hatte allenthalben einen befriedigenden Abschluß zu verzeichnen. Der Beginn des Winters 1938/39 war für sie allerdings weniger erfreulich, soweit die Sammelergebnisse in Betracht kamen. Im Laufe des Jahres war die Zahl der zu Betreuenden größer und die Zahl der Gebenden kleiner geworden. Bei den vermögenden Juden waren Spenden in dem Maße wie sie früher gezeichnet wurden, fast durchweg nicht mehr zu holen, schon aus dem Grunde nicht, weil diese Juden ja nicht mehr so frei über ihr Vermögen verfügen konnten, als dies früher der Fall war. Bereits Ende Oktober, anläßlich des Abschubes der Juden polnischer Staatsangehörigkeit wurden verschiedentlich, vor allem aber in Leipzig und Dresden, an die JWH die ersten außergewöhnlichen Anforderungen gestellt. Da die Bahnhöfe der beiden genannten Städte Durchgangsstationen eines großen Teiles der Züge aus dem westlichen und südlichen Teil des Reiches waren, waren hier von seiten der Jüdischen Winterhilfe Verpflegstationen eingerichtet worden. Zu einem plötzlichen Stillstand kam auch bei der JWH die gesamte Tätigkeit, sowohl des Sammelns, als auch des Unterstützens, am 10.11.1938. In den weitaus meisten Orten hat die JWH ihre Tätigkeit als solche wieder aufgenommen. Jedoch auch sie wurde überführt in die allgemeine Arbeit der jüdischen Kultusgemeinden und besteht vorläufig im großen und ganzen nur noch dem Namen nach.
II 112 - Zionisten
Die Zionistische Vereinigung hat sich auch im Laufe des Jahres 1938 nicht wieder zu der Bedeutung entwickeln können, die sie in den Jahren nach der Nationalen Erhebung des Deutschen Volkes eingenommen hatte. Die immer größer werdende Interesselosigkeit ihrer Mitglieder war vor allem auf die Ereignisse in Palästina zurückzuführen. Viele Anhänger sahen, daß eine Abwanderung nach Übersee und anderen Immigrationsländern außer Palästina eher möglich war, zumal für ältere Personen. Dies zeigte sich weniger in Austritten aus der Zionistischen Vereinigung , als vielmehr darin, daß Mitglieder der ZVfD in nicht geringer Anzahl, im Verhältnis zur Gesamtauswanderung, nach anderen Ländern als Palästina gingen. Daß die Mitglieder trotz ihrer Enttäuschung, solange sie im Lande blieben, der Vereinigung nur selten den Rücken kehrten, hat seinen Grund darin, daß sich der größte Teil der Zionisten aus einem dem Assimilantentum gegensätzlichen Personenkreis zusammensetzt, wenigstens in ihrer übergroßen Mehrheit. In der ZVfD war vor allem das ostjüdische Element, soweit es nicht fanatisch orthodox eingestellt war, organisiert. Die zionistischen Juden deutscher Staatsangehörigkeit oder Staatenlosen waren entweder aus dem Ostjudentum hervorgegangen und hatten noch starke Bindungen zu diesem, oder sie waren zum jüdischen Proletariat herabgesunken und fühlten sich den assimilatorischen Kreisen, in denen bis zuletzt eine Atmosphäre bürgerlicher Wohlhabenheit und Ruhe herrschte, nicht mehr wohl. Allerdings scheuten sie sich nicht, wenn sie Rat und Hilfe brauchten, die Beratungsstunden des Jüdischen CV aufzusuchen, und wurden dort auch niemals abgewiesen. Mit der Ausschaltung der Juden ausländischer Staatsangehörigkeit aus führenden Positionen kamen auch verschiedene Ortsverbände der ZVfD in Schwierigkeiten, da der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß und der verbleibende Rest zu einer Führung nicht fähig war. Auch hier gingen kleinere Ortsverbände, die sich in einer solchen Situation befanden, dazu über, sich selbst aufzulösen. Die Ausweisung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit legte den größten Teil der Zionistischen Ortsverbände lahm, sodaß der Zionismus durch die Novemberaktion nicht allzuhart betroffen wurde.
Die Arbeit der Zweigstellen des Palästinaamtes war durch die geringe Anzahl der Deutschland zugewiesenen Zertifikate auf ein Minimum herabgesunken und bestand in der Hauptsache nur noch aus Ratschlägen für eine Umschulung . Im allgemeinen arbeiteten sie gezwungenermaßen immer mehr mit den Auswanderungsstellen des Hilfsvereins Hand in Hand. Die Unterlagen sowie die geschulten Arbeitskräfte der Palästinaamtszweigstellen üben ihre Tätigkeit heute gemeinsam mit den Auswanderungsbearbeitern des Hilfsvereins im Rahmen der vorläufigen Tätigkeit der jüdischen Gemeinden aus.
Erwähnenswert ist im Rahmen der Gesamtbetrachtung noch, daß dort wo der Zionismus in verhältnismäßiger Stärke den anderen jüdischen Gruppen gegenüberstand, er es fertig brachte, die gesamte jüdische Arbeit zu stören. In Halberstadt hatte die Zionistische Vereinigung mit der Gemeindevertretung einen Streit. Daraufhin proklamierte sie den Boykott des Kulturkreises der Synagogengemeinde. Der Kulturkreis war dadurch gezwungen, sich am 15.6.1938 wegen geringer Mitgliederzahl und wegen finanzieller Schwierigkeiten aufzulösen. Allerdings brachte es die Zionistische Vereinigung nicht fertig, dem boykottierten Kulturkreis etwas gleichwertiges dieser Art gegenüberzustellen. Hier wurde der Beweis erbracht, daß der Zionist in seinem Parteifanatismus wohl fähig ist, zu zerstören, aber nicht aufzubauen, soweit es sich um Interessen des Gesamtjudentums handelt.
Die Auflösung der Ortsverbände der Staatszionistischen Organisation hinterließ im Gesamtbild des jüdischen Vereinswesen keine größere Lücke. Zahlenmäßig waren die Staatszionisten von ganz untergeordneter Bedeutung und konnten sich auch nur in Leipzig bis zuletzt halten. Eines ist jedoch nicht zu verkennen, daß der Staatszionismus Wurzeln fast ausschließlich in der Jugend faßte und die der Staatszionistischen Jugend angehörenden Juden und Mädel waren nicht die Minderwertigsten des Judentums. Die geringe Anzahl, sowie das geistige Niveau der Mitglieder zeigten, daß hier eine Auslese unter der zionistisch gesinnten Jugend sich zusammengefunden hatte. Wäre es nach der Auflösung diesen jungen Juden gelungen, soweit bei ihnen der Wille überhaupt vorhanden war, in die Zionistische Vereinigung einzudringen, so wäre dem Zionismus in seiner Gesamtheit kein schlechtes Führermaterial erstanden.
Die Arbeit der Zionistischen Jugend- und Sportorganisationen, die im Deutschen Makkabikreis zusammengeschlossen waren, fanden ihre Hauptbetätigung in sportlichen Veranstaltungen und dem Training hierzu. Allerdings mußte verschiedentlich gegen einzelne örtliche Makkabigruppen mit zeitweiligen Betätigungsverboten eingeschritten werden, da das Verhalten und Benehmen ihrer Mitglieder auf den Wegen von und zu den Sportplätzen des öfteren den Unwillen der deutschblütigen Bevölkerung herausforderte. Außer dieser sportlichen Betätigung arbeiteten die Makkabigruppen eng mit den zionistischen Umschulungsorganisationen zusammen und versuchten, ihre Mitglieder für die körperliche Betätigung im Umschulungslager und für ihren späteren Beruf durch den Sport abzuhärten.