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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Berichte aus Hechingen

Am 11. November 1938 verfasst der Landrat des Kreises Hechingen folgenden Bericht über „Aktionen gegen das Judentum in der Nacht zum 10.11.1938“:

Die in der Nacht zum 10.11. im ganzen Reich durchgeführten Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum setzten in Haigerloch und in Hechingen schlagartig gegen 4 Uhr bezw. 4.30 Uhr ein. Gegen 4.15 Uhr meldete mir Gendarmerieposten in Haigerloch, daß er in das sog. Haag, wo 160 Juden bekanntlich in geschlossener Siedlung wohnen, gerufen sei, und daß bei seinem Eintreffen bereits sämtliche jüdischen Wohnungen, sowie die Synagoge und das zugehörige Badhaus von etwa 50 jungen Leuten demoliert wurden. Er bat um Weisung. Ich verständigte sofort den Vertreter des Herrn Regierungspräsidenten, den Kommandeur der Gendarmerie, sowie den Herrn Oberstaatsanwalt. Während ich im Begriffe stand mich gegen 4.30 nach Haigerloch zu begeben, erreichte mich ein fernmündlicher Anruf der Außendienststelle der Geheimen Staatspolizei , die mich ersuchte sofort 15 tunlichst reiche Juden verhaften zu lassen. Falls Aktionen gegen die Juden eingeleitet werden würden, dürfte nach Mitteilung der Außendienststelle der Geheimen Staatspolizei nicht dagegen eingeschritten werden. Ich verständigte darauf den Beamten der Außendienststelle, daß die Aktion in Haigerloch bereits im Gange sei.

Um die angeordneten Verhaftungen durchführen zu können, zog ich die hierfür benötigten Gendarmeriebeamten auf das hiesige Rathaus zusammen und gab dort im Benehmen mit dem Stellvertreter des beurlaubten Bürgermeisters, Ersten Beigeordneten Dr. Pfeffer, sowie fernmündlich dem stellv. Bürgermeister in Haigerloch, Ersten Beigeordneten Winter die für die Durchführung der Verhaftungen erforderlichen Weisungen. Bei meinem Eintreffen auf dem hiesigen Rathaus setzten gerade die Demolierungen an der hiesigen Synagoge und beim Kaufhaus Hofheimer ein.

Nachdem mich ein weiterer fernmündlicher Anruf der Außendienststelle erreichte, wonach alte und kranke Juden nicht zu verhaften seien, schritten die inzwischen eingetroffenen Gendarmerie- und Polizeibeamten zu nachstehenden Verhaftungen. [...]

Wegen des Verlaufs der Demonstrationen nehme ich Bezug auf die beigefügten Berichte der Bürgermeister in Hechingen und Haigerloch.

Demnächst habe ich, nachdem ich mich von dem Umfang der Demolierungen in Hechingen im Beisein des stellv. Bürgermeisters und in Haigerloch in Anwesenheit des Kommandeurs der Gendarmerie, des Kreisleiters von Horb, des Ortsgruppenleiters und des stellv. Bürgermeisters von Haigerloch überzeugt hatte, den Polizeibehörden Weisung erteilt, daß die zertrümmerten Läden und Hauseingänge durch Holzverkleidungen zu verschließen sind, um Unbefugten und Neugierigen den Zutritt zu versperren.

Auf Ersuchen des Kreisleiters von Horb und des hiesigen Ortsgruppenleiters ordnete die Außendienststelle der Geheimen Staatspolizei folgende weitere Verhaftung an: [...]

Die Inhaftierten sind in das Amtsgerichtsgefängnis in Hechingen und Haigerloch eingeliefert worden.

Um 19 Uhr erreichte mich der mir durch Kurier übermittelte Geheimerlaß des Chefs der Ordnungspolizei Sonderbefehlsstab o kdo 1 d 2000, über dessen Inhalt ich weisungsgemäß die zuständigen Parteidienststellen, sowie die Führer der örtlichen Parteiformationen unterrichtet habe. Um 20.15 Uhr verständigte ich fernmündlich, daß gegen etwa beabsichtigte weitere Demonstrationen polizeilich einzuschreiten und für die Nacht zum 11.11. verschärfter Streifendienst einzusetzen sei. Ich habe zu diesem Zweck in Haigerloch 4 und in Hechingen 5 Gendarmeriebeamte herangezogen. Die Nacht zum 11.11. ist ruhig verlaufen. Man hat lediglich das Blockhaus des inhaftierten Landgerichtsrat i.R. Dr. Meyer, das auf Gemarkung Wessingen abseits gelegen ist, nachträglich noch demoliert. Ich nehme insoweit Bezug auf den gleichfalls beigefügten Bericht des Bürgermeisters von Wessingen.

 

Ebenfalls am 11. November 1938 schreibt der Hechinger Bürgermeister:

Im Rahmen der Vergeltungsaktion für den jüdischen Meuchelmord an dem Diplomaten Gesandtschaftsrat vom Rat [sic] in Paris hat sich in der Kreisstadt Hechingen folgendes ereignet:

Der Standartenführer der SA Schuhmacher von Reutlingen erschien mit 3 Mann zwischen 4 und 5 Uhr auf der Polizeiwache und kündigte an, daß die Tat in Paris auch hier gerächt wird. Kurz darauf wurden die Türen zur Synagoge in der Goldschmiedstraße hier eingeschlagen und die gesamte Einrichtung und die Fenster demoliert. Ferner wurden am Wohn- und Geschäftshaus des Otto Hofheimer [...] 2 Schaufenster und 1 Rolladen zertrümmert. Juden zeigten sich bei der Durchführung der Aktion nicht. Es kam auch zu keinerlei Zwischenfällen. Die Synagoge, Gebäude Parz. Nr. 208 Goldschmiedstr. 20 steht im Eigentum der israelitischen Kirchengemeinde. Die Straße vor der Synagoge wurde noch in den frühen Vormittagsstunden durch städt. Arbeiter aufgeräumt und die herausgeworfenen Gegenstände in das Haus zurückgebracht. Die Eingangstüren und die Fenster zur Straße sind mit Brettern und Dielen abgedeckt. Damit ist ein Zutritt Unbefugter verhindert. Die seitliche Eingangstüre wird noch abgesperrt und versiegelt werden.

Das Wohn- und Geschäftshaus des Otto Hofheimer, Gebäude Parzelle Nr. 239 ist in der Hohenbergstraße Nr. 4. Eines der Schaufenster ist durch den Rolladen, das andere durch Lattenverschlag gesichert. Anträge auf Schadensersatz oder Unterstützungen sind bis jetzt nicht eingegangen.

Im weiteren Verlauf der Aktion wurden auf höhere Anordnung in Schutzhaft genommen: vormittags zwischen 6 und 7 Uhr 7 Juden, nachmittags um 2 Uhr noch der Jude Dr. Moritz Meyer.

Die Personalien der Juden sind: [...]

Es wird noch vermerkt, daß bei dem zuletzt festgenommenen Juden Dr. Moritz Meyer, der auf der Straße hier angehalten wurde, eine 6,35 mm Selbstladepistole mit 8 Schuß festgestellt wurde. Die Waffe wurde ihm vor der Einlieferung auf der Polizeiwache abgenommen. Anzeige wegen unerlaubten Waffenführens wird dem Herrn Oberstaatsanwalt vorgelegt.

 

Am 13. November 1938 berichtet der Kreisschulrat Hechingen Folgendes über die „Schutzhaft des jüdischen Lehrers Spier in Haigerloch“:

Der Leiter der jüdischen Volksschule in Haigerloch Gustav Spier, ist am 10. November d.J. in Schutzhaft genommen worden. Wie ich festgestellt habe, sind in dem als Schulhaus benützten Saal, die Fenster und Fensterstücke zertrümmert, die Einrichtungsgegenstände liegen wild durcheinander und bilden ein Chaos. Die Schule wird von 9 Kindern besucht. Eine Frau meldete bei mir 2 Kinder ab, da ihre Familie die Erlaubnis zur Reise ins Ausland habe und in den nächsten Tagen Haigerloch verlasse. Da aber ihr Ehemann ebenfalls in Schutzhaft genommen wurde besteht die Gefahr, daß ihre Ausreise unmöglich wird. Die 7 Kinder beziehungsweise 9 könnten in die evangelische Schule aufgenommen werden, die 25 Kinder zählt und hinreichend Platz für 32 bzw. 34 Kinder bietet. Allerdings bestehen dagegen sehr schwere Bedenken. Wie mir allgemein bestätigt wurde herrscht bei vielen Schulkindern namentlich bei den Knaben der T. Klasse der katholischen Volksschule große Erregung, ja geradezu feindselige Stimmung gegen die jüdischen Kinder. Wenn schon vor Jahren für diese die Pausen während der Unterrichtszeit geändert und später die jüdische Schule überhaupt in ein anderes Gebäude verlegt werden mußte, so hat sich ganz besonders unter dem Einfluß der Ereignisse der letzten Woche diese Lage wesentlich verschlimmert. Daher ist der stellvertretende Bürgermeister der Ansicht, der auch ich mich anschließe, es wäre im Interesse der Schule wie der Gemeinde die beste Lösung wenn Lehrer Spier aus der Schutzhaft entlassen würde und die Leitung der Schule wieder übernehmen könnte. Ist dies aber nicht möglich, dann stehen der Schule Haigerloch ernste Tage bevor. Die jüdischen Kinder zu trennen und teils die 2. Klasse der katholischen Schule wo auch Plätze frei sind, teils die evangelische Schule besuchen zu lassen möchte ich nicht empfehlen. Außerdem ist Lehrer Enders ein ruhiger und sachlich eingestellter Lehrer. Aber auch er sieht in dieser Lösung eine sehr ernste Gefahr. Wie es mir scheint haben die Lehrer ihre Kinder, namentlich die älteren Knaben, in dieser Beziehung nicht mehr genug in ihrer Gewalt, da sich im Laufe der Zeit bei diesen durch das dauernde Zusammenwohnen mit den Juden in einer Stadt andere Einflüsse geltend gemacht haben, die stärker sind als die der Schule. Daher befürchte ich nicht ohne Grund, daß diese kaum den jüdischen Schülern auf die Dauer den notwendigen Schutz zu gewähren vermag.

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