Bericht aus Halle (Westfalen)
Am 18. November 1938 verfasst der Landrat in Halle folgenden Bericht über die „Aktion gegen Juden am 10.11.38“:
Zu den einzelnen Fragen wird wie folgt berichtet:
1)Die Synagoge in Versmold ist am 10.11. um 18 Uhr in Flammen aufgegangen. Sie ist völlig ausgebrannt. Es stehen nur noch die Umfassungsmauern. Bei dem kleinen Gebäude ist der bauliche Schaden etwa auf 1.500 RM zu schätzen. Die Inneneinrichtung war bei der Versicherung mit 2.100 RM angegeben. Die Synagoge in Werther ist nicht abgebrannt. Ein Brand würde die Nachbarhäuser und die Apotheke in Brandgefahr gebracht haben. Die Inneneinrichtung ist demoliert worden. Es sind Leuchter, Schränke, Bänke, Altar und Kultusgegenstände stark beschädigt worden. Die Fensterscheiben wurden zertrümmert. Brennbare Gegenstände wie Läufer, Plüschdecken und Vorhänge sind vom Amtsbürgermeister aus der Synagoge entfernt worden, um eine Brandlegung zu verhindern. Er hat die beschädigten Leuchter des Materials wegen sicherstellen lassen. Der Schaden wird auf 400 RM geschätzt.
2)An der Besitzung des Juden Steinfeld in Versmold sind Fenster und Türen an der Scheune und am Schlachthause beschädigt worden. Der Schaden ist gering. Der Geschäftsinhaber Bernhard Steinfeld verbüßt zur Zeit wegen Tierquälerei im Staats- und Jugendgefängnis in Bochum eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten. Er wird nach Verbüßung der Strafe am 4. Dez. ds. Js. entlassen werden.
In Werther wurden das Manufakturwarengeschäft J. B. Weinberg und seine gewerblichen Räume stark beschädigt. Sämtliche Schaufenster- und sonstige Scheiben wurden zertrümmert. Laden und Büro wurden stark demoliert. Geschäftsinhaber ist Alfred Weinberg, geb. 28.5.1894 in Werther, wohnhaft in Werther, Ravensbergerstr. 36.
Der Schaden wird auf etwa 700 RM geschätzt.
3)Arbeiter und Angestellte sind durch die Zerstörungen nicht arbeitslos geworden.
4)Das vorgenannte Geschäft Weinberg in Werther wird kaum fortgeführt werden. Durch Reisen des Inhabers und durch einen auswärtigen Vertreter wird m.W. das Geschäft noch aufrecht erhalten.
5)Das Privathaus des genannten Juden Steinfeld in Versmold mit der darin befindlichen Wohnung ist beschädigt, die Inneneinrichtung ist zum größten Teil zerstört, Fenster und Türen sind eingeschlagen. Die Möbel wurden von unverantwortlichen Elementen trotz des vom Ortsgruppenleiter der NSDAP dem Landrat gegebenen Versprechens, keine weiteren Zerstörungen zu dulden, in der Nacht vom 10. zum 11. Nov. auf die Straße geworfen. Nähere Angaben über die Höhe des Schadens habe ich noch nicht erhalten können. Der Amtsbürgermeister in Versmold hat ihn auf 10.000,- RM geschätzt.
Am 10.11. ds. Js. gegen 22 Uhr ging das dem ehemaligen Viehhändler Nathan Hurwitz, geb. 20.1.1874 zu Levern, Kreis Lübbecke, in Brockhagen Nr. 220 gelegene Wohnhaus nebst Stallgebäude in Flammen auf. Das Haus brannte bis auf die Umfassungsmauern nieder. Nach Angabe der Isselhorster Feuerversicherung beträgt der entstandene Schaden etwa 23.000,- RM. Durch das Eingreifen des nachts an der Brandstelle weilenden Landrats konnte verhindert werden, daß ein dem Schwager des Hurwitz - einem Arier - gehöriges Haus abgebrannt wurde.
6)In der Wohnung des Alfred Weinberg in Werther wurde die Inneneinrichtung beschädigt. Der Schaden wird auf 200,- RM geschätzt. Außerdem sind in der Wohnung des Invaliden (früheren Händlers) Feodor Sachs in Werther, Adolf Hitler Straße 19 einige Fensterscheiben eingeworfen worden. Feodor Sachs ist am 11.3.1862 in Werther geboren. Der Schaden am Hause Sachs wird auf 20,- RM geschätzt.
7)Es ist niemand verletzt oder mißhandelt worden bezw. ums Leben gekommen.
8)Nach Angabe einer Schwester des unter 2) und 5) genannten Steinfeld sollen Sachen gestohlen bezw. abhanden gekommen sein. Täter sind bisher nicht festgestellt worden. Plünderungen und Erpressungen sind nicht vorgekommen.
9)Nach Bekanntgabe der Verordnung über den Waffenbesitz der Juden wurden von der
Witwe Elfriede Weinberg geb. Sternberg in Werther, Ravensbergerstr. 44, geb. 22.2.1863 in Erwitte und der Witwe Julie Weinberg geb. Simons in Werther, Ravensbergerstr. 36, geb. 8.7.1859 in Olfen,
je zwei Degen abgegeben, die von den Söhnen während der Militärdienstzeit getragen wurden. Der genannte Feodor Sachs hat eine ungebrauchte Schreckschußpistole abgegeben.
10)Archivmaterial ist nicht sichergestellt worden.
11)Bargeld usw. ist ebenfalls nicht sichergestellt worden.
12)Ob die Synagoge in Versmold (Gebäude) versichert war, ließ sich noch nicht feststellen. Die Inneneinrichtung war mit 2100,- RM bei der Westf. Provinzial-Feuer-Sozietät in Münster versichert. In dieser Höhe ist der Anspruch gestellt worden.
Das Wohnhaus des Juden Steinfeld in Versmold war bei der Allgemeinen Versicherungsgesellschaft für See-, Fluß- pp. Transporte Dresden, Sitz Barmen,
gegen Tumultschäden versichert. Der Schaden ist angemeldet. Die Höhe wird sich nach der Taxe der Gesellschaft richten.
Der unter 5) Abs. 2 genannte Hurwitz in Brockhagen hat das mit 12.700 RM versicherte Anwesen und das Mobiliar, das mit 11.924 RM versichert ist, als Brandschäden der Isselhorster Feuerversicherung in Isselhorst gemeldet, die Ansprüche jedoch in einer bestimmten Höhe noch nicht gestellt.
Der Amtsbürgermeister in Werther hat mir berichtet, daß die Beantwortung der Frage zu 12) nur nach Feststellungen bei den Geschädigten möglich ist. Mit Rücksicht auf den Geheimcharakter der Bezugsverfügung hat er vorerst von diesbezüglichen Rückfragen bei den Juden abgesehen.
13)Es befindet sich kein Jude in einer Notlage.
14)Der Amtsbürgermeister in Versmold berichtet:
''Die Bevölkerung verhielt sich im allgemeinen auffallend still. Soweit ich die Stimmung bei einem großen Teil der Bevölkerung beurteilen kann, geht sie dahin, daß Vergeltungsmaßnahmen für den feigen Mord anerkannt werden, daß aber die Zerstörung von Volksvermögen nicht verstanden wird. Man hält sie nicht vereinbar [sic] mit den Bestrebungen des Vierjahresplanes.''
Der Amtsbürgermeister in Halle berichtet u.a.:
''An der Brandstelle Hurwitz in Brockhagen war eine verhältnismäßig geringe Zuschauermenge zu beobachten, die mit stummer Miene dastand.''
Der Amtsbürgermeister in Werther berichtet:
''Von einem großen Teil der Bevölkerung wird die Aktion nicht gebilligt, vor allem nicht die Art der Ausführung. Immer wieder hörte man die Äußerung, daß es unsinnig sei, hier Werte zu zerstören, während man laufend ''Kampf dem Verderb'' fordere. Man würde eine Beschlagnahme des jüdischen Besitzes durch die Regierung und auch die Landesverweisung der Juden besser verstanden und eher gebilligt haben als die Zerstörung der Sachwerte durch unverantwortliche Personen. Unverständlich war vielen die Duldung der Zerstörungen durch die Polizei bezw. ihr Nichteingreifen. Mißbilligung fand auch vor allem die Beteiligung der Schuljugend an den Zerstörungen in den Mittags- und Nachmittagsstunden des 10.11. Als ich hiervon Kenntnis erhielt, habe ich durch einen Polizeibeamten die weiteren Zerstörungen untersagt. Es wird allgemein angenommen, daß die Schulkinder von Erwachsenen zu den Zerstörungen angestiftet sind, da diese widerspruchslos den Zerstörungen zusahen. Dadurch, daß trotz der Anweisung zur Einstellung jeglicher Aktion, die bereits am 10.11. durch Rundfunk usw. bekannt wurde, und trotz der von der Polizei anweisungsgemäß aufgestellten Wachposten der SS noch in der Nacht zum 12.11. von maßgebenden Volksgenossen in die verriegelte Synagoge eingedrungen und die Zerstörung fortgesetzt wurde, ist das Ansehen und die Autorität der Polizei stark erschüttert und das Vertrauen zu ihr sehr geschwächt. Für die Polizei war es auch äußerst unangenehm, daß andere Stellen die Anweisung zur Zerstörung bereits am 9.11. abends erhielten, während die Polizei erst am 10.11. morgens von den Maßnahmen und der Duldung derselben Nachricht bekam. So kam ich in die unangenehme Lage, in der Nacht zum 10.11. zweimal gegen Zerstörer einschreiten zu müssen, die nur anweisungsgemäß gehandelt hatten.
Welche nachteiligen Auswirkungen zu befürchten sind, kann jetzt noch nicht überblickt werden. Neben der Schädigung des Ansehens und der Autorität der Polizei ist örtlich eine Verrohung der Jugend und gewisser Elemente nicht von der Hand zu weisen.
Anweisungsgemäß habe ich zu den gestellten Fragen in aller Offenheit und ohne jede Schönfärberei wahrheitsgemäß berichtet. Ich bin mir der Verantwortung voll bewußt, fühle mich aber meinem Gewissen verpflichtet, nichts zu verschweigen, was zur Beurteilung der Aktion wissenswert ist. Viele Volksgenossen, auch Parteigenossen, lehnen diese Aktion ab, sind aber außerordentlich vorsichtig in ihrer Kritik, weil sie befürchten, als Judenfreunde bezeichnet zu werden und dadurch wirtschaftliche und sonstige Nachteile zu haben.''
Dieser Bericht wird noch durch folgenden Bericht des Amtsbürgermeisters in Werther ergänzt:
''In der letzten Nacht von 22-24 Uhr waren die SS-Leute Ronsiek und Vogt zur Bewachung der im Hofe des Klempnermeisters Kaufmann in Werther befindlichen Synagoge eingesetzt. Nach der mir erstatteten Meldung fuhren gegen 23,30 Uhr 2 Autos vor dem Kaufmann'schen Haus vor, denen etwa 6-8 Herren entstiegen, u.a. Ortsgruppenführer Dr. Läcke-Halle, Obersturmbannführer Klommhaus-Brackwede, Obersturmführer Adank-Halle, Kreisamtsleiter Goldbeck-Bielefeld und ein Führer des RAD. Trotz Hinweises des Wachpostens, daß das Betreten der Synagoge polizeilich verboten sei, entfernten die Genannten die Holzverriegelung und das Verbotsschild von dem offenen Eingang und drangen in die Synagoge ein. Hier setzten sie die in den Vornächten vorgenommenen Zerstörungen fort. U.a. wurden noch in dieser Nacht vernichtet Bänke, Schränke und Leuchter. Von der Brandlegung konnten die Posten sowie der inzwischen erschienene Klempnermeister Kaufmann, die auf das strengste Verbot und die Gefährdung der Nachbarhäuser hinwiesen, sie abhalten. Nach den Angaben des Wachpostens soll sich der RAD-Führer an den Zerstörungen nicht beteiligt haben.
Der SS-Posten erklärte mir heute morgen, daß er sich gegen eine Ortsgruppenleiter und einen SA -Obersturmbannführer nicht habe durchsetzen können. Durch diese Nichtachtung der Anweisungen von Partei und Staat sowie der angeordneten polizeilichen Überwachungsmaßnahmen ist die Autorität der Polizei sehr geschädigt.''
Im Amtsbezirk Borgholzhausen sind keine Juden vorhanden. Ich bedaure außerordentlich, daß ich erst am 10.11.38 545 Uhr vorm. auf besondere Anfrage bei der Stapo Bielefeld den ersten Fernspruch erhielt, während die Partei schon lange vorher über die kommenden Ereignisse Bescheid wußte und die Aktionen z.T. in Hände legte, die bedauerlicherweise kein Fingerspitzengefühl hatten. Es wäre auf das Konto dieser späten Benachrichtigung gekommen, wenn der Polizeibeamte in Werther bei den schon in der Nacht vom 9. auf den 10.11.38 beginnenden Zertrümmerungen unter entsprechenden Umständen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht hätte. Es geht auch nicht an, daß der Ortsgruppenleiter der NSDAP in Halle, Dr. Läcke, am Nachmittag des 10.11., nachdem die Aktionen durch Funkspruch des Chefs der Ordnungspolizei-Sonderbefehlsstab eingeengt waren, mir, als ich ihn darauf hinwies, daß man in Halle beabsichtige, die Wohnhäuser der Juden Isenberg und Sachs trotz des inzwischen eingegangenen Verbots anzuzünden, erklärte, er würde auf die örtliche Polizei hinwirken, im übrigen aber hätte der Staat der Partei keine Vorschriften zu machen. Dr. Läcke hielt es auch für richtig, dem Kreisoberinspektor Magnino und dem Sachbearbeiter zu sagen, zum Einsatz der SS sei die Genehmigung des Hoheitsträgers (also des Ortsgruppenleiters) notwendig. Es ist ihm amtlich und von der SS-Führung gesagt worden, das sei nicht seine Sache, sondern höhere Anordnung. Dr. Läcke erschien auch in der Nacht vom 10. zum 11. Nov., offenbar nicht nüchtern, bei den angesetzten SS-Männern, die die beabsichtigten Brandlegungen an den feuergefährdeten Häusern Isenberg und Sachs verhindern sollten und pöbelte sie mit der Bemerkung an, was sie denn mit der Polizei vor den beiden Juden[...]mmeln Wache ständen. Wer sie denn überhaupt gerufen hätte! Das wüßten sie wohl selber nicht! Es ist unerhört und zeugt nicht gerade von politischem Verständnis, daß ein politischer Leiter in dieser Stellung (er ist Notar) die Polizei und SS als Judenschützlinge hinstellt.