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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Das SD-Hauptamt berichtet

Am 7. Dezember 1938 erstattet das SD-Hauptamt (II 112) in Berlin folgenden „Lagebericht“ über den November 1938:

Judentum

Im Monat November wurde die Lage der Judenschaft in Deutschland hauptsächlich durch drei Faktoren gekennzeichnet:

1. Durch die Auswirkungen der am 27.10.38 verfügten Ausweisung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Reichsgebiet;

2. durch die im gesamten Reichsgebiet aus Anlaß der Ermordung des Gesandtschaftsrats vom Rath in Paris erfolgten Aktionen gegen die Juden am 9. und 10. November und

3. durch die in ihrem Gefolge erlassenen Gesetze und Anordnungen, die einen vollständigen Ausschluß der Juden aus der Gemeinschaft des deutschen Volkes zum Ziel haben.

Die Sühneaktion gegen die Juden Deutschlands setzte einheitlich im gesamten Reichsgebiet in der Nacht vom 9. auf den 10. November ein. Träger der Aktionen waren im allgemeinen die Politischen Leiter, Angehörige der SA , der SS und in Einzelfällen auch Mitglieder der HJ. Die Zivilbevölkerung hat sich nur in ganz geringem Maße an den Aktionen beteiligt. Auch die Art des Vorgehens war im allgemeinen in allen Teilen des Reiches einheitlich. Nachdem zunächst Synagogen, Bethäuser und Geschäftsräume der jüdischen Gemeinden und Organisationen zerstört bzw. in Brand gesteckt worden waren, wurde gegen jüdische Geschäfte und später auch gegen jüdische Privatwohnungen vorgegangen. Dadurch, daß sich bei der Ausdehnung des tätlichen Vorgehens gegen jüdisches Eigentum insbesondere nach Abschluß der Aktion auch politisch bedenkliche Elemente beteiligten, kam es an vielen Orten zu Plünderungen und tätlichen Ausschreitungen gegen einzelne Juden. Jedoch waren auch Angehörige der Partei und der Gliederungen hieran beteiligt. Durch das sofortige Eingreifen der Staatspolizei in Zusammenarbeit mit den Polizeiorganen und dem SD konnten derartige Ausschreitungen und Plünderungen im allgemeinen in kurzer Zeit unterbunden werden. Die hieran beteiligten Personen wurden zum großen Teil festgesetzt und in einigen Fällen bereits verurteilt. Parteimitglieder oder Angehörige der SA und SS wurden vor Übergabe an den Richter durch Schnellverfahren aus der Partei ausgeschlossen.

Die Anzahl der zerstörten Synagogen beläuft sich im gesamten Reichsgebiet auf ca. 360. Weiter wurden über 31 Warenhäuser durch Brand oder Demolierung vollständig zerstört. Der durch die Zerstörung von Sachwerten entstandene Gesamtschaden wird auf ca. 990 Millionen RM geschätzt. [hier handschriftliche Randbemerkung: ''? fordert Umfrage''] Die Zahl, der infolge der Schließung jüdischer Geschäfte erwerbslos gewordenen deutschblütigen Angestellten wird mit ca. 14.000 angegeben.

Gleichzeitig mit der Demolierung jüdischen Eigentums lief eine Verhaftungsaktion gegen Juden, die von Staatspolizei geleitet wurde. Die Zahl der verhafteten Juden beläuft sich auf ca. 24.000. Die Zahl der Todesfälle wird z.Zt. mit 36, die der Verletzten mit 58 angegeben. [hier handschriftliche Randbemerkung: ''neue Zahlen'']

Die Stellungnahme der Bevölkerung zu den Aktionen, die anfänglich zustimmend war, änderte sich grundsätzlich als der angestellte Sachschaden allgemein zu übersehen war. Es wurde immer wieder besonders betont, daß ein Vorgehen gegen die Juden als Sühne für den Mord an dem Gesandtschaftsrat vom Rath wohl gebilligt werde, die Zerstörungen von Geschäfts- und Wohnräumen sich jedoch nicht mit den für die Verwirklichung des Vierjahresplanes geforderten Maßnahmen vereinbaren ließe. Außerdem wurde zum Ausdruck gebracht, daß dieses allzu krasse Vorgehen gegen die Juden neue außenpolitische Schwierigkeiten bringen könnte. Die angewandten Methoden beim Vorgehen gegen die Juden wurden insbesondere aus den Reihen der Wehrmachtsangehörigen verurteilt.

Daß sich die innerpolitischen Gegner diese Stimmung Zunutze machen, beweist die eindeutige Ablehnung der gesamten Aktion in rein katholischen Gegenden. Unter dem Hinweis, daß die Synagogen ''Gotteshäuser'' seien, als die sie vorher insbesondere von der katholischen Kirche nie angesehen wurden, wurde versucht, die Bevölkerung zu beunruhigen und die Befürchtung ausgesprochen, daß den Kirchen ein gleiches Schicksal bevorstehe. Dieses Vorgehen der katholischen Geistlichkeit hatte teilweise zur Folge, daß die Bevölkerung in verschiedenen rein katholischen Orten von der Beteiligung an dem Vorgehen gegen die Juden Abstand nahm oder sogar demonstrativ Sympathien für die Judenschaft zum Ausdruck brachte. So tätigte z.B. in Vreden der größte Teil der Bevölkerung am nächsten Tag ostentativ seine Einkäufe in den betriebsfähigen jüdischen Geschäften, andererseits wurden auch bei Ortsgruppenleitern, die man für die Aktionen verantwortlich machte, die Fenster eingeworfen. Weiter wurden Eintopfspenden und Sammlungen der NSV unter dem Hinweis auf die Schande der Judenaktionen abgelehnt. Im Ruhrgebiet wurden Flugzettel verteilt, in denen aufgefordert wurde, die an der Aktion beteiligten Parteiführer und Beamten an die Wand zu stellen. [hier handschriftliche Randbemerkung: ''Genau belegt? S.2'']

Die Stellungnahme des Auslandes zu der Aktion war einheitlich ablehnend. Trotz der gegenteiligen Veröffentlichungen der deutschen Presse ging die Meinung der ausländischen Journalisten und offiziellen Vertreter der Staaten dahin, daß die Aktion wohl vorbereitet und mit Duldungen von höchster Stelle durchgeführt worden sein müßte. Die Botschaften und Gesandtschaften hatten ihre Konsulate angewiesen, laufend über den Verlauf der Aktion an sie zu berichten. Die Folge waren verschiedene Interventionen, zugunsten geschädigter Juden ausländischer Staatsangehörigkeit.

Die im Gefolge der Aktion gegen die Juden in Deutschland erlassenen Gesetze und Verordnungen aller Ressorts, sowie die noch in Vorbereitung befindlichen , bezwecken den endgültigen Ausschluß der Judenschaft aus allen Lebensgebieten mit dem Endziel ihre Entfernung aus dem Reichsgebiet auch mit allen Mitteln und in der kürzester Zeit zu bewirken. [...]

Die Einwanderung in die für eine Einwanderung von Juden überhaupt in Frage kommenden Länder wurde generell in keinem Fall erleichtert. [...]

 

Danzig

Das Bekanntwerden des Attentats in Paris rief in Danzig zunächst keine besondere Reaktion hervor. Erst als durch Presse und Rundfunk die Ereignisse im Reich bekannt wurden, kam es zu größeren Demonstrationen, die jedoch vollkommen unorganisiert durchgeführt wurden. Die Stimmung der Bevölkerung war ähnlich wie im Reich.

Mit Wirkung vom 23.11.38 wurde eine Verordnung des Senats zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre veröffentlicht. Text und Ausführungsbestimmungen halten sich eng an die Nürnberger Gesetze. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Verordnung sich auch ausdrücklich auf die in Danzig lebenden Juden poln. Staatsangehörigkeit bezieht. (…)

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