Auswanderung von Juden
Vermutlich die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Berlin gibt Anfang November 1941 folgenden Bericht über die "Auswanderung von Juden aus dem Altreich" von 1933 bis 1941 ab:
Umfang
Seit 1933 sind aus dem Altreich 352.294 Juden ausgewandert. Die Auswanderung erstreckte sich auf folgende Haupteinwanderungsgebiete:
Afrika 14.760
Amerika
Nordamerika 57.189
Mittelamerika 9.728
Südamerika 53.472
Aden 16.374
Australien 4.015
Europa 183.326
Palästina 53.430
352.294
Organisation
Zur Förderung der Auswanderung waren seit 1933 folgende Organisationen tätig:
Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine
für die Auswanderung nach Palästina
Hilfsverein der Juden in Deutschland
für die übrige Auswanderung
Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge
für die Rückauswanderung.
Die Arbeit der drei Organisationen wurde zunächst durch die Reichsvertretung der Juden in Deutschland geleitet, nach Errichtung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in deren Wanderungsabteilung zusammengefasst. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Wahrnehmung bestehender und Schaffung neuer Auswanderungsmöglichkeiten, in der Auswandererberatung und Unterstützung hilfsbedürftiger Auswanderer.
Finanzierung
Die Finanzierung der Auswanderung in Reichsmark erfolgte zum grössten Teil durch die Auswanderer selbst. Soweit sie über die erforderlichen Mittel nicht verfügten, wurde die Durchführung der Auswanderung durch die Reichsvereinigung finanziert.
- 2 -
Die für (89.032) hilfsbedürftige Auswanderer seitens der Reichsvertretung bezw. Reichsvereinigung zur Förderung der Auswanderung aufgewandten Mittel belaufen sich seit 1933 auf RM 20.494.864,67, nämlich jährlich auf:
1933 RM 980.956,64
1934 RM 675.953,91
1935 RM 583.367,64
1936 RM 1.657.566,82
1937 RM 1.800.040,98
1938 RM 3.547.836,58
1939 RM 6.618.501,36
1940 RM 3.281.516,99
1.1.1941 bis 31.10.1941 RM 1.347.123,75
RM 20.492.864,67
Neben den Reichsmarkbeträgen sind Devisen für Vorzeige- und Landungsgelder seit Kriegsausbruch für die Passagen erforderlich gewesen. Diese Beträge sind zu einem grossen Teil durch Vermittlung der Wanderungsabteilung der Reichsvereinigung von Angehörigen oder Freunden der Auswanderer im Ausland zur Verfügung gestellt worden. Soweit dies nicht möglich war, wurde die Bereitstellung der erforderlichen Devisenbeträge durch jüdische Hilfsorganisationen im Ausland, insbesondere durch das American Joint Distribution Committee in New York bewirkt. So hat der Joint seit dem 1.9.1939 insgesamt $ 2.193.810,28 für die Buchungen von Passagen zur Verfügung gestellt.
Die Beschaffung der Vorzeigegelder für die Palästina-Wanderung erfolgte im wesentlichen durch ein mit Genehmigung des Herrn Reichswirtschaftsministers entwickelten Transfer-Verfahren zwischen Palästina-Treuhand-Stelle, Berlind und Haavara Ltd., Tel-Aviv in Zusammenarbeit mit deutschen und palästinensischen Banken durch deutschen Warenausfuhr nach Palästina. Im Rahmen des Palästina-Transfers wurden von 1933 bis 1939 (erstes Halbjahr) insgesamt RM 104.623.707,01 im Gegenwert von [..] 5.440.-- (rund) transferiert.
Im übrigen erfolgte die Beschaffung der Vorzeige- und Landungsgelder zu einem erheblichen Teil im Altreu-Transfer-Verfahren, das mit Genehmigung des Herrn Reichswirtschaftsministers seit 1937 durchgeführt worden ist. Bis 1.9.1939 nahmen an diesem Verfahren 3.008 Auswanderer teil, die einen Devisenbetrag im Kurswert von RM 5.631.000,-- erhielten und durch Reichsmark-Überzahlungen nach Massgabe einer Tabelle, gestaffelt nach Vermögensgrössenklassen und Anzahl der gemeinsam auswandernden Personen, die Auswanderung von weiteren 2.845 mittellosen Personen ermöglichten, denen im Rahmen des Altreu-Subventions-Verfahrens Devisen im Kurswert von RM 1.234.000,-- zur Verfügung gestellt werden konnten.
Nach Einstellung dieses Verfahrens (1.9.1939) wurde das Altreu-Passage-Verfahren entwickelt, in dessen Rahmen Joint-Devisen für Passagebuchungen gegen Reichsmark-Zahlungen nach einer Tabelle zur Verfügung gestellt wurden, die zunächst von Rm 10.-- bis 20.--,
- 3 -
später von RM 10.-- bis 55.--, je nach Vermögensgrössenklassen und Anzahl der gemeinsam auswandernden Personen gestaffelt war. An diesem Verfahren nahmen von April 1940 bis Ende Oktober 1941 987 Personen teil, denen Passagen im Werte von $ 154.255,29 beschafft wurden, für die ein Reichsmark-Gegenwert von 3.698.569,43 der Reichsvereinigung zugeflossen ist.
Durchführung
Die Durchführung der Auswanderung in technischer Hinsicht ist in folgende Abschnitte zu gliedern:
Von 1933 bis Ende 1938:
Überwiegen der nicht unterstützten Auswanderung, vor allem nach Europa als Zwischenwanderungsland / Beschaffung der Übersee-Passagen in Reichsmark / Ausreise aus deutschen Häfen / Rückauswanderung (Repatriierung) von Juden ausländischer Staatsangehörigkeit / Erlangung von Arbeiter-Zertifikaten zur Einwanderung nach Palästina aufgrund landwirtschaftlicher, handwerklicher und hauswirtschaftlicher Berufsausbildung und -umschichtung / Seit 1936 Einwanderungssperre in Südafrika, vorher Charterung des Nord.-Lloyd-Dampfers „Stuttgart” mit 540 Auswanderern nach Südafrika / Seit 1937 Einwanderungsbeschränkungen in Südamerika, besonders in Brasilien, 1938 in Argentinien und Columbien, demgegenüber stärkere Einwanderung nach Bolivien und Chile / Konferenz in Evian (Juli 1938) / Ansiedlungen in den Ica-Kolonien in Argentinien / Gruppensiedlungsprojekte für Brasilien / Weitere Einwanderungsbeschränkungen.
Von 1939 bis 1.9.1939:
Errichtung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Berlin, Vereinheitlichung der Auswanderungs-Formalitäten (Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Finanzämter und Stadtsteuerkassen, als Voraussetzung für die Ausstellung des Auswandererpasses, Genehmigung der Devisenstelle zur Mitnahme des Umzugsgutes, Schliessung des Arbeitsbuchs, Einführung der Auswandererabgabe-Bescheinigung), zentrale Überwachung und Lenkung der Auswanderung / Regelung des Umfangs der Auswanderung durch Zuweisungen zur Zentralstelle / Zunahme der Übersee-Auswanderung / Einwanderungsbeschränkungen in Palästina, Sondertransporte nach Palästina / Verstärkung der Kinderauswanderung / Errichtung des Camps in Richborough für Zwischenwanderer / Seit März 1939 durchschnittliche Auswanderung von monatlich 9.000 Personen / Stärkere Auswanderung nach dem Fernen Osten (Shanghai), teilweise bereits unter der Bedingung der Passagezahlung in Devisen / Zwischenwanderung von USA-Visumanwärtern in europäische Länder / Einwande-
- 4 -
rungssperre für Cuba, vorher Abfahrt des Hapag-Dampfers „St.[..]” mit 900 Passagieren für Cuba, die da Landung nicht möglich, in europäischen Ländern aufgenommen worden sind.
Von September 1939 bis April 1940:
Wegfall der Auswanderung nach europäischen Ländern / Passagebuchungen nur noch auf ausländischen Schiffen in Devisen / Vorwiegend Ausreise aus italienischen Häfen / Einwanderungs-Drosselung nach Bolivien und Chile / Weitere Auswanderung nach dem Fernen Osten / Vorwiegend USA-Auswanderung.
Von Mai 1940 bis Oktober 1940:
Wegfall der Ausreise aus italienischen Häfen infolge Einstellung der Erteilung von italienischen Durchreisevisen / Nutzbarmachung des Landweges nach dem Fernen Osten sowie zur Abfahrt nach USA aus japanischen Häfen unter Benutzung der transsibirischen Bahn / Einführung eines Durchreisedepots für Mandschukuo Ende August / Einführung eines japanischen Durchreisedepots im Oktober 1940 / Versuche der Ausreise mit finnischen Linien ab Petsamo / Verwaltungsmässige Einschränkung der Erteilung amerikanischer Visen.
November 1940 bis Oktober 1941:
Schaffung der Ausreisemöglich ab portugiesischen und spanischen Häfen, insbesondere ab Lissabon / Versuche, auf dem Landweg nach Griechenland und von dort durch das Mittelmeer nach Lissabon, ferner auf dem Landweg durch die Schweiz und von dort mit Autobus durch Frankreich nach Barcelona zu gelangen / Einrichtung der Auswanderer-Sammeltransporte, zugleich für Auswanderer aus der Ostmark und dem Protektorat durch Frankreich zum Abfahrtshafen / Passagebuchungen auf amerikanischen, spanischen und portugiesischen Schiffahrtslinien / Durchführung von 25 Sammeltransporten in Sonderwagen mit 5.945 Auswanderern, davon 4.808 aus dem Altreich / Überwiegen der USA-Auswanderung, nachdem im Januar 1941 die Visumerteilung wieder aufgenommen worden war, bis zur Einstellung der Visumerteilung (Juni 1941), alsdann verstärkte Auswanderung nach Cuba und Ecuador / Beschaffung einer grösseren Anzahl (etwa 800) cubanischer Visumermächtigungen, von denen noch der grösste Teil noch nicht ausgenutzt worden ist.
Auswanderungsvorbereitung
Der Auswanderungsvorbereitung dienten insgesamt 42 land- und forstwirtschaftliche, 168 handwerkliche, 27 hauswirtschaftliche, 12 pflegerische Arbeits- bezw. Ausbildungseinrichtungen. Seit 1933
- 5 -
bis Oktober 1941 ist die Auswanderung von insgesamt 66.546 Personen durch Berufsausbildung und Berufsumschichtung vorbereitet worden, davon in der Landwirtschaft 33.751, in handwerklichen Berufen 26.108, in der Hauswirtschaft 4.350, in der Säuglings- und Kinderpflege 2.357.
Bestand
Zurzeit befinden sich im Altreich unter Berücksichtigung der Auswanderung und des Sterbeüberschusses seit 1933 sowie der Aussiedlungs-Transporte im Oktober 1941 noch rund 151.000 Juden, davon bis 18 Jahre 11 %, von 19 bis 45 Jahre 25,7 %, von 46 bis 60 Jahre 89,6 %, über 60 Jahre 33,7 %.