Die SoPaDe berichtet
In der August-Ausgabe 1936 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:
Der Terror gegen die Juden
a) Olympiadefrieden für die Juden?
In der Weltöffentlichkeit herrschte die Auffassung, daß vor und während der Olympiade der Terror gegen die Juden eingestellt, daß den Juden aus Propagandagründen eine Atempause gewährt worden sei. Selbst diese bescheidene Hoffnung hat getrogen. Es ist zwar vor und während der Olympischen Spiele zu keiner sensationellen antisemitischen Großaktion gekommen, der tagtägliche Kleinkrieg gegen die Juden ist aber keinen Augenblick vermindert oder gar eingestellt worden. Daran hat auch die Überpinselung einiger Aufschriften an „Stürmer“-Kästen und die wegen Lesermangel erfolgte Einstellung des berüchtigten „Judenkenners“ nichts geändert.
Der Kampf gegen die Juden hat alle Gebiete ergriffen. Die Zahl der antijüdischen Maßnahmen ist unübersehbar. Wir haben wiederholt (zuletzt im Heft 1/1936, S [A] 13 ff). Übersichten über diese Terroraktionen zusammengestellt, ohne auch nur annähernd Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können.
Während im Vorjahre die Ausschaltung der Juden aus der „Volksgemeinschaft“ durch die bekannten Tafeln in Bädern, Sportanlagen, Ausflugsorten, -lokalen usw. im Vordergrund stand, liegt in diesem Jahre das Schwergewicht bei den wirtschaftlichen Maßnahmen. Wir geben im folgenden eine Reihe von amtlichen judengegnerischen Entscheidungen wieder. Es handelt sich entweder um Erlasse oder Verordnungen von Behörden usw. oder um letztinstanzliche Gerichtsurteile:
Anträge auf (zeitweilige) Befreiung vom Schulunterricht dürfen sich nicht mehr auf Zeugnisse jüdischer Ärzte stützen. Nichtarischen Ärzten ist verboten, ihre Patienten in ändern als in jüdischen Krankenhäusern zu operieren. Jüdische Ärzte dürfen arische nicht vertreten (und umgekehrt). Arische Patienten dürfen nur arischen Spezialärzten usw. überwiesen werden. Jüdische Ärzte sind in einem besonderen Verzeichnis zusammenzustellen. Juden, Mischlinge, und Arier, die mit einer Jüdin oder einem jüdischen Mischling verheiratet sind, dürfen als Arzt „vorläufig“ nicht bestellt werden.
Jüdische Vormünder sind auch für jüdische Minderjährige nicht mehr zugelassen. - Bis zum 1. 4. 1936 mußten die NS-Juristen ihre Sozietät mit Juden oder Halbjuden lösen, die Anordnung wurde im Frühjahr 1936 auch auf die Bürogemeinschaften ausgedehnt. - Der NS-Rechtswahrerbund hat Maßnahmen gegen die Beschäftigung nicht-arischer Justitiare in der Wirtschaft angedroht. - Der Ehrengerichtshof bei der Reichsanwaltskammer hat den Ausschluß eines Rechtsanwaltes aus dem Berufsstand wegen Heirat mit einer Jüdin bestätigt.
In bayrischen Schulen wird, auch in den ausgesprochenen Judenklassen, kein jüdischer Religionsunterricht mehr erteilt.
Die Nürnberger Volksschulen sind seit dem 20. 4. 36 frei von Judenkindern. Die Maßnahme soll auch auf die Mittelschulen ausgedehnt werden. - Jüdische geschiedene Mütter haben kein Recht, ihr Kind, das beim arischen Vater aufwächst, in ihrer Wohnung zu sehen. - Die Erziehung eines vierteljüdischen Kindes darf nicht in die Hände des halbjüdischen Vaters oder der halbjüdischen Mutter gelegt werden. - Einer arischen Mutter wurde vom Vormundschaftsgericht Berlin das Sorgerecht für ihren reinarischen Sohn wegen Gefährdung durch jüdische Umgebung entzogen. (Der Stiefvater ist Jude.) -
Die Preußisch-Süddeutsche Klassenlotterie hat von ihren Kollekteuren den Ariernachweis verlangt. - Gemäß der Forderung der SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ werden jetzt a 14 auch die jüdischen Lotteriekollekteure der Hamburger Staatslotterie beseitigt. - Als Folge der Ermordung Gustloffs wurden „bis auf weiteres“ sämtliche Veranstaltungen der jüdischen Kulturbünde verboten. - Juden ist der Zutritt zu sämtlichen städtischen Schwimm- und Bade-Anstalten Düsseldorfs verboten worden. - Jüdische Viehhändler in Ulm, die (landesüblicherweise) Bauern, Bäuerinnen oder deren erwachsene Kinder mit „Du“ anreden, werden wegen grobem Unfug bestraft.
Juden werden in Tilsit nicht mehr durch Makler bedient.
Der gemeinsame Besuch öffentlicher Gaststätten durch Juden und Arierinnen gilt als polizeiwidriges Verhalten. - Der Verkauf von Grundstücken an Juden wird als Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit betrachtet. - Das Adreßbuch des deutschen Buchhandels 1936 enthält keine jüdischen Buchhandlungen mehr. - Der Zusatz „deutsch“ bei nichtarischen Firmen ist nicht erlaubt. - Der Stuttgarter NSDAP-Kreisleiter hat die Anbringung der Schilder: „Deutsches Geschäft“ an allen arischen Geschäften angeordnet.
Die Herausdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben hat in den letzten Monaten außerordentlichen Umfang angenommen. Während sich das Regime früher im wesentlichen damit begnügte, die Juden zur Veräußerung ihrer Unternehmungen und Beteiligungen zu zwingen - natürlich unter entsprechenden Verlusten - mehren sich jetzt die Fälle nackter Enteignung. Die erste größere Maßnahme dieser Art war die Übertragung der in jüdischem Besitz befindlichen Suhler Waffenwerke Simson & Co., an eine nationalsozialistische „Stiftung“, die jetzt durch einen unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Prozeß legalisiert werden soll. Von den fünf Angeklagten ist einer geflohen, ein zweiter „schwer erkrankt“, ein dritter wegen Verfolgungswahn in einer Heilanstalt untergebracht worden . . . An weiteren Fällen sind u. a. bekanntgeworden:
Das Bankhaus Kahn & Co., Mainz, wurde behördlich geschlossen, die jüdischen Inhaber verhaftet. - Dem jüdischen Unternehmen Elias Cohn, Zittau, Reichenberger Str. 22, wurde die Handelserlaubnis wegen Unzuverlässigkeit entzogen, die Geschäftsräume wurden geschlossen. - Dem nichtarischen Kaufhaus Sobel in Halle wurde wegen Unzuverlässigkeit die Handelserlaubnis entzogen. Das Geschäft mußte innerhalb 14 Tagen geschlossen werden. - Die jüdische Buttergroßhandlung Weinberger, Berlin, wurde vom Polizeipräsidium zur Einstellung des Betriebes und Schließung der Geschäftsräume gezwungen, weil sie vorwiegend jüdische Wiederverkäufer beliefert hat.
Ein jüdischer Eierhändler in Berlin wurde in Schutzhaft genommen und ihm die Fortführung seines Betriebes untersagt, weil er fast nur an Rassegenossen geliefert habe. - Der Betriebsführer einer jüdischen Firma in Hannover wurde in Schutzhaft genommen und der Betrieb in arische Hände überführt, weil er einen arischen Schwerkriegsbeschädigten entlassen wollte.
In arischen Besitz übergegangen sind u. a. das Antiquariat Jacques Rosenthal, München; Modehaus Geschw. Alsberg, Köln, Korsettfabrik Rosenberg & Hertz, Köln; Herrenartikel-geschäft R. Breslauer, Glogau.
Der Eierhandel befand sich früher fast ausschließlich in jüdischen Händen. Durch Anhängung von Prozessen wegen Verstöße gegen die Marktordnung, die Devisengesetze und die Nahrungsmittelvorschriften wurde die „wirtschaftliche Unzuverlässigkeit“ der jüdischen Händler festgestellt und auf diese Weise erreicht, daß es seit November 1935 im Import und Großhandel in ganz Deutschland keine Nichtarier mehr gibt. Die „erste Hand“ beschloß dann, an Nichtarier in der „zweiten“ und „dritten Hand“ keine Waren mehr abzugeben. So wurden die jüdischen Eierhändler vollkommen „legal“ vernichtet. Im Geflügelhandel, soweit er den Import betrifft, liegen die Verhältnisse ähnlich.
Bezeichnend für die fortschreitende Isolierung der Juden sind die Bestrebungen, besondere Gaststätten für Juden zu schaffen. Obwohl fast überall eine Sperre für Schankkonzessionen besteht, werden neuerdings in Preußen und Anhalt davon Ausnahmen gemacht, wenn es sich um Lokale nur für Nichtarier handelt. Dabei wird zur Bedingung gemacht, daß diese Beschränkung durch deutlich lesbare Aufschriften kenntlich gemacht wird.
Hand in Hand mit diesen Maßnahmen geht die Boykottaktion.
Die Kreisleitung der NSDAP Landau (Rheinpfalz) veröffentlichte Mitte Juni in der gesamten bayrischen Presse folgende Erklärung:
„Um Irrtümer hinsichtlich des wahren Charakters arisch getarnter jüdischer Familien zu vermeiden, seien hiermit die Namen nach arischen Landauer Weinhandelsfirmen genannt, bei denen Juden maßgeblich beteiligt sind oder entscheidenden finanziellen Einfluß haben.
Es firmieren die Firmen Hermann Levy, Landau, auch als Firma Hermann Lohr; L. Stern, Landau, auch als Firma Martin Philipp § Co., Landau; M. S. Metzger, Landau, auch als Firma Pfaus; M. S. Metzger, Landau, auch als Firma Merian jr.; M. S. Metzger, Landau, auch als Firma Merian der Ältere; Marx und Joseph, Landau, auch als Firma Deutsche Weinkellerei; Leon Levy Söhne, Landau, auch als Firma Bauer & Co., Landau; E. Metzger und Sohn, Landau, auch als Firma Emil Lintz“.
Der Kreisleiter der NSDAP, Hippler, Nördlingen, erließ in der „Rieser Nationalzeitung“, No. 43 folgende Bekanntmachung:
„Der Jude Weissbacher, jüdischer Kaufmann in Nördlingen, hatte die Unverschämtheit, mit Tüchern und Aufschriften, die christliche Gebetsformeln tragen, zu handeln. Er hat sich nicht gescheut, in den Eingangsschaukasten seines Kaufhauses Versehtücher mit der Aufschrift „Gelobt sei Jesus Christus“ und „Jesus Dir leb ich“ auszustellen .. . Auf Grund dieser Vorgänge muß ich unbedingt noch einmal wiederholen, was meine Redner und ich in Hunderten von Versammlungen der Bevölkerung einzuprägen versuchen: „Meidet jüdische Geschäfte.“ Unser Appell wurde zum Teil nicht verstanden und oftmals erst recht nicht angehört. . . Bevölkerung des Rieses! Erkenne endlich, daß der Jude nur das Unglück des Volkes gewesen ist! . . . Verstehe endlich die jüdischen Geschäfte zu meiden . . . Deutsche Frauen und deutsche Männer! Betretet kein jüdisches Geschäft mehr. . . An Deutschland versündigt sich der, der heute noch beim Juden kauft, diese Schädlinge am Volke müssen und werden verschwinden.“
Der NSDAP-Kreisleiter Maurer in Stuttgart erklärte in einem Interview:
„In allen größeren Versammlungen der Partei, bei Arbeitstagungen, in Zellen- und Sprechabenden und bei den Appellen der Politischen Leiter und der Gliederungen in Stuttgart wurden jedesmal mit eindringlichster Deutlichkeit die Volksgenossen auf die nationalsozialistische Pflicht aufmerksam gemacht, in keinem jüdischen Geschäft einzukaufen . . .“
Die „Arbeitsgemeinschaft westdeutscher Künstlergruppen“ hat in ihrem Statut die Mitglieder verpflichtet, jeden persönlichen, gesellschaftlichen und auch geschäftlichen Verkehr mit Juden und Judenstämmlingen zu unterlassen.
Der Terror gegen die Juden wird von den deutschen Gerichten, teils auf Grund der Nürnberger Gesetze, teils unter Berufung auf das Volksempfinden, nach Kräften unterstützt.
In Essen wurde am 7. Juli ein Jude wegen strafbarer Beschäftigung einer deutschblütigen Haushälterin zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. - Ein jüdischer Kaufmann in Hamm wurde Mitte Juni wegen des Versuchs, die Nürnberger Gesetze zu umgehen, zu sechs Wochen Gefängnis und 100,- Mk Geldstrafe verurteilt. Er hatte seine frühere deutschblütige Hausangestellte bei dem von ihm unterhaltenen Mittagstisch beschäftigt. - In Erfurt wurde am 24. August ein Jude wegen strafbarer Beschäftigung einer Deutschblütigen zu 500,- Mk. Geldstrafe verurteilt. Eine 43jährige arische Untermieterin hatte bei ihm Haushaltsarbeiten verrichtet. - In Karlsruhe wurde am 14. Juni ein jüdischer Arzt wegen strafbarer Beschäftigung einer deutschblütigen Hausangestellten zu 300,- Mk. Geldstrafe verurteilt. - Ein Nürnberger Jude wurde wegen groben Unfugs zu sechs Wochen Haft verurteilt. Er hatte eine dunkelbraune Hose getragen, die der SA-Hose ähnelte. Die Berufungsinstanz bestätigte am 20. Juni das Urteil. - Das Amtsgericht Nördlingen verurteilte den Juden Leopold Lehmann wegen abfälliger Bemerkungen über den „Stürmer“ zu drei Wochen Haft. - Eine 48jährige jüdische Angestellte wurde von einem in arische Hände übergegangenen Warenhaus entlassen. Ihre Klage vor dem Arbeitsgericht war erfolglos. - Ein jüdischer Angestellter wurde auf Drängen der DAF-Vertrauensleute aus seinem Betrieb entlassen, obwohl er Frontkämpfer und Kriegsbeschädigter ist. Das Landesarbeitsgericht Weimar wies seine Widerrufsklage ab. - Nach einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Breslau (15 Sa, 32/35) können Nichtarier fristlos entlassen werden, wenn sie ihrem Geschäftsherrn diese Eigenschaft nicht mitteilen und dieser „ein überaus wichtiges Lebensinteresse“ daran hat. - Eine deutsche Filmfirma löste den Vertrag mit dem jüdischen Regisseur Eric Charell wegen seiner Rassezugehörigkeit. Das Reichsgericht hat in Übereinstimmung mit dem Kammergericht die Klage Charells abgewiesen. - Ein Angestellter der Stadt Oberhausen war zum 30. Juni entlassen worden, weil er Nichtarier ist. Er klagte, wurde aber abgewiesen. - Eine Angestellte einer Berliner Bezirksverwaltung wurde entlassen, weil sie in einem jüdischen Haushalt als Untermieterin wohnen blieb. Ihre Widerrufsklage wies das Arbeitsgericht Berlin ab. - Ein Lehrling wurde wegen unrichtiger Angaben über seine Abstammung fristlos entlassen. Das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. wies die Widerrufsklage ab. - Ein bei der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz tätiger Tarifangestellter wurde entlassen, weil er Jude ist. Seine Widerrufsklage wurde vom Düsseldorfer Arbeitsgericht abgewiesen. - Ein Angestellter des Berufsverbandes ehemaliger Soldaten, der Schwerkriegsbeschädigter und Arier, aber (seit langem) mit einer Jüdin verheiratet ist, wurde fristlos entlassen. Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Berlin haben die Klage des Entlassenen abgewiesen.
Einen besonders eindrucksvollen Beweis von Terror-Justiz bietet der Fall Kuhlmey. Der nationalsozialistische Rechtsanwalt Kuhlmey in Magdeburg hatte in einer Verhandlung des Magdeburger Arbeitsgerichtes beantragt, den jüdischen Rechtsanwalt Fliess als Parteivertreter abzulehnen. Kuhlmey erklärte u. a., daß er lieber mit einem schmutzigen Neger als einem Juden verhandele. Fliess beschwerte sich bei der Anwaltskammer, die die Beschwerde abwies. Nun aber stellte der Staatsanwalt Strafantrag gegen den beleidigten jüdischen Anwalt wegen „wissentlich falscher Anschuldigung und Beleidigung“. In der Verhandlung vor der Magdeburger Großen Strafkammer schworen der Vorsitzende und die beiden Beisitzer der Arbeitsgerichte Meineide, sie hätten zwar wohl die Worte „Jude“ und „Neger“, aber nicht in bezug auf den Angeklagten gehört. Es seien vielmehr „rein sachliche, aus Sachkenntnis und Verantwortungsgefühl geborene Bemerkungen zur Judenfrage“ gewesen. Daraufhin wurde der beleidigte Jude zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Er nahm sich vierzehn Tage später das Leben.
Die Verminderung der Zahl der Juden in Deutschland ist die unausbleibliche - und von der NSDAP ja auch offen erstrebte - Folge des Terrors. Anfang 1933 gab es ca 517.000 Juden in Deutschland, am 1. Juli 1936 waren es noch 405.000. Es ist also eine Verminderung um 112.000 oder über 21 Prozent eingetreten, davon sind etwa 98.000 ausgewandert.
Da der Terror in der Provinz noch schlimmer wütet als in den Großstädten, hat neben der Auswanderung eine Binnenwanderung in die großen Städte, vor allem nach Berlin eingesetzt. Infolgedessen ist die Zahl der in der Provinz lebenden Juden besonders stark zurückgegangen. Einige Beispiele: Die jüdische Gemeinde in Duisburg hat seit Anfang 1933 rund 30 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Die jüdische Gemeinde in Würzburg ging von 2145 im Jahre 1933 auf 1637 am 1. August 1936 (um rund 25 Prozent) zurück. In Weiden (rund 25 000 Einwohner) wohnten 1932 181 Juden am 1. Juli 1934 154 Juden, am 1. Juli 1935 134 Juden und am 1. Juli 1936 nur noch 127 Juden. Der Rückgang beträgt 30 Prozent, in allen Fällen sind die Juden ins Ausland verzogen.
b) Die „Einzelaktionen“
Über die trotz der Olympiade erfolgten Einzelaktionen gegen die Juden entnehmen wir unseren Berichten:
Bayern: Aus einem Orte in der Bayerischen Ostmark wird berichtet, daß sich die überfallsartigen Kontrollen bei jüdischen Geschäftsleuten in letzter Zeit häufen. Die Warenbestände werden auf ihre Herkunft überprüft und die Tageslosungen notiert. Bei Schuhgeschäften wird genau darauf geachtet, daß alte Lagerbestände nicht zu den heute gültigen Preisen, die um 7 bis 10 Prozent höher sind, verkauft werden. Gegen jeden Verstoß wird mit Schließung des Geschäftes vorgegangen. Der Umsatz der jüdischen Geschäfte geht von Tag zu Tag mehr zurück. Es kommt vor, daß sich tagsüber nicht ein Kunde in das Geschäft wagt und erst abends bei Einbruch der Dunkelheit durch Hintertüren einige Geschäfte mit alten Kunden getätigt werden können. Um den jüdischen Geschäften den letzten Stoß zu versetzen, will man jetzt die arischen Großerzeuger anhalten, daß ihre Reisenden keine jüdischen Geschäfte mehr besuchen.
Die bekannte Porzellanfabrik Rosenthal-A.G. in Selb ist in eine arische Firma umgewandelt worden. Sie plakatiert dieses Ereignis in ihren sämtlichen Verkaufsläden. Der Gründer des Unternehmens und seitherige Generaldirektor Philipp Rosenthal ist Jude und deshalb „nicht mehr tragbar“. Sein Nachfolger wurde ein Herr Klass von der Dresdner Bank, der bei den Nazis großen Einfluß hat. Am Stamm-Werk in Selb hängt jetzt ein „Stürmer“-Kasten und daneben die Liste der jüdischen Geschäfte, bei denen kein Rosenthal-Arbeiter mehr kaufen darf, wenn er seinen Arbeitsplatz nicht verlieren will. Keine der anderen Porzellanfabriken, kein anderes Unternehmen in Selb, hat einen solchen Fabrikanschlag oder eine ähnliche mündliche Androhung gegen die Belegschaft erlassen. Die Entjudung hat die Situation der Firma nicht gebessert. Das Auslandsgeschäft ist fast völlig zum Erliegen gekommen.
Bei dem in Bayreuth lebenden Schwerkriegsbeschädigten Juden Reinauer war seit 7 Jahren ein arisches Dienstmädchen beschäftigt. Reinauer richtete ein Gesuch an Hitler mit der Bitte, das Mädchen weiterbeschäftigen zu dürfen. Er verwies auf seine Tätigkeit im Weltkrieg (Offizier bei einer Maschinengewehrkompagnie, Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, durch Gasvergiftung erblindet und nervenkrank). Das Gesuch wurde ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Auch ein Schreiben an Blomberg war erfolglos. Reinauer durfte auch zu den Festspielen keine Zimmer vermieten.
Das Modewarenhaus Gebr. Bachmann in Nürnberg, Karolinenstraße, ist jetzt in den Besitz von Alfred Pretscher übergegangen und damit ein arisches Unternehmen geworden. Einige jüdische Angestellte wurden entlassen.
Südwestdeutschland: In Bad Dürkheim hat eine Autogarage ihren fünf jüdischen Kunden, unter Hinweis auf den Mord an Gustloff, das Betreten der Garage für alle Zeit verboten.
Das Kaufhaus Landauer in Pirmasens ist jetzt in arische Hände übergegangen. Der NSDAP-Kreisleiter hat die Verträge mit geringfügigen Änderungen genehmigt, die arischen Angestellten können bis auf wenige Ausnahmen bleiben, die jüdischen werden entlassen.
In Cassel wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. August in fast allen jüdischen Geschäften die Fensterscheiben zerschlagen und die Häusermauern mit Aufschriften antisemitischen Charakters beschmiert. Der Terror gegen die Juden hat seit einigen Tagen in ganz Hessen erneut und in verstärkter Form eingesetzt. Für manche jüdischen Familien haben sich geradezu schreckliche Situationen ergeben.
Rheinland-Westfalen: Eines der besten Kinos in Aachen, die „Modernen Lichtspiele“ gehörte bisher dem Juden Lehr. Es hatte, nachdem der Boykott der ersten Zeit überstanden war, wieder guten Zuspruch.
Jetzt wurde die Hetze gegen Lehr erneut angefacht und nun ist endlich das Kino geschlossen worden. Der Besitzer mußte flüchten.
In München-Gladbach ist der Judenfriedhof wiederholt demoliert worden. Man hat sämtliche Denkmäler umgeworfen und alles zertrampelt. Täter waren Schulkinder, die der HJ angehören und die vorher in der Schule aufgehetzt worden waren.
Der jüdische Ladeninhaber de Vries in Duisburg-Laar mußte dem Terror weichen und sein Geschäft verkaufen. Kurz darauf hat er sich mit Frau und Tochter das Leben genommen.
Bei der Firma Gerson, Haushaltungsgegenstände in Duisburg-Ruhrort, war Ausverkauf. Viele Käufer liefen in das Geschäft, um sich billige Waren zu kaufen. Aus Wut über den Kundenandrang stellte sich SA vor das Geschäft und schrie: „Kauft nicht bei Juden!“ Eine Frau kaufte einen ganzen Korb voll Porzellan und wurde beim Verlassen des Geschäftes von der SA befragt, weshalb sie beim Juden kaufe. Sie antwortete: „Mein Mann verdient nur sehr wenig Geld und da muß ich eben kaufen, wo es am billigsten ist.“ Darauf wurde sie geohrfeigt und das ganze Porzellan kaputtgeworfen. Dann begab sich die SA in das Geschäft und fragte Gerson vor aller Kundschaft, warum er Ausverkauf mache. Er erwiderte, daß er sein Geschäft aufgeben müsse, da doch niemand mehr bei ihm kaufen dürfe. Darauf bekam auch er Ohrfeigen.
Ein „alter Kämpfer“ aus R. in Westfalen, seit 1925 Pg. arbeitet seit 1 1/2 Jahren bei einem Juden als Tischler. Er wurde von der Parteiortsgruppe aufgefordert, die Arbeit bei dem Juden niederzulegen. Das verweigerte er mit der Begründung dann solle man den 1600 Arbeitern der großen Lederwarenfabrik X die ebenfalls jüdisch ist, das gleiche Ansinnen stellen. Bis jetzt ist der Tischler nicht weiter behelligt worden.
Berlin: Die zahlreichen Stürmerkästen, die bisher an der Kopfleiste die Inschrift trugen: „Die Juden sind unser Unglück“ sind in Berlin und Umgebung geändert worden. Meist steht jetzt an der Stelle dieses Satzes der Name der NSDAP-Ortsgruppe oder es sind irgendwelche „Kernsprüche“ angebracht worden. Wahrscheinlich ist diese Änderung wegen der Olympiade erfolgt. Der „Stürmer“ selbst ist aus den Kästen verschwunden und durch „Angriff“ und „V.B.“ oder durch „Das Schwarze Korps“ ersetzt worden.
Während der Olympiade-Tage wurde von ausländischen Gästen bei Zeitungshändlern der „Stürmer“ verlangt. Ihnen wurde von den Händlern erklärt, daß der „Stürmer“ ausverkauft sei.
Vor einiger Zeit ist den Speditionsfirmen Brasch & Rothenstein und Jacob & Valentin die Konzession entzogen worden. Sie ist nach unseren Informationen von einem gewissen Hentzsch erworben worden.
Jüdische Kassenärzte erhalten die Operationen, die sie an Ariern vollziehen, nicht mehr bezahlt. Selbst bei Unglücksfällen, wo rasche Operation notwendig ist, werden dem jüdischen Kassenarzt bei arischen Patienten nur die Auslagen bezahlt.
Wohlfahrtsempfängern wird die Unterstützung entzogen, wenn sie sich von einem jüdischen Arzt behandeln lassen.
Norddeutschland: Vor etwa einem halben Jahr wurden in Hamburg in jedem Stadtteil große Stürmerkästen aufgestellt. Die Kästen hatten die Aufschrift: „Kauft nicht bei Juden“ oder „Die Juden sind unser Unglück“ usw. Jetzt hat man sie wieder überstrichen und zum größten Teil hängt nicht mehr der „Stürmer“ drin, sondern Gaunachrichten der NSDAP.
Auf der Tagung der Fachgruppe für Pensionen und Fremdenheime in Misdroy sagte der Bürgermeister Dr. Szpitta: „Juden sind, wie der neue Badeführer ausdrücklich fettgedruckt hervorhebt, bei uns, wie überall, unerwünscht, und die Kurverwaltung wird in diesem Jahre von ihrem Recht, diesen Fremdlingen den Zutritt zum Strand und zu den Kuranlagen zu verbieten, in jedem Fall Gebrauch machen.“
Der Landesfremdenverkehrsverband Harz hielt am 25. April in Ballenstedt am Harz seine Jahreshauptversammlung ab, welche der Ministerpräsident Klagges-Braunschweig leitete. Die Teilnehmer fanden in ihrer Arbeitsmappe folgendes Rundschreiben:
„Landesfremdenverkehrsverband Harz
Braunschweig, den 23. IV. 36
Streng vertraulich!
Mitteilung an alle Gast- und größere Beherbergungsstätten!
Anläßlich der olympischen Spiele wird auch der Harz von zahlreichen Ausländern besucht werden, die leider noch immer eine falsche Auffassung über das neue Deutschland haben.
Das Gaststätten- und das Beherbergungsgewerbe steht im Fremdenjahr 1936 deshalb in vorderster Front. Die ausländischen Besucher müssen deshalb unter allen Umständen davon überzeugt werden, daß die Gastlichkeit Deutschlands von keinem Land der Erde überboten werden kann. Im Benehmen mit der politischen Leitung bitten wir deshalb auch, die Judenfrage sinngemäß zu behandeln.“
Der gleiche Landesfremdenverkehrsverband erließ noch im Herbst 1935 mit der Unterschrift des gleichen Klagges eine Anordnung (s. Heft 1/36, S. [A] 30), in der es u. a. hieß: „Insbesondere ist auch die Entschließung bekanntzugeben, daß Juden in den betreffenden Orten unerwünscht sind.“ Demgemäß wurden damals in zahlreichen Harzer Kurorten Tafeln mit der Aufschrift: „Juden sind hier nicht erwünscht“ aufgestellt.
Sachsen: Der Kampf gegen die jüdischen Geschäfte in Leipzig wird nicht einheitlich geführt. Die kleineren, mit bestimmten Waren ausgerüsteten Geschäfte, in welchen nur der Inhaber und noch ein oder zwei Personen jüdischer Rasse beschäftigt waren, sind fast alle verschwunden. Auch größere Kaufhäuser, die in der Hauptsache jüdisches Personal beschäftigten, sind durch alle möglichen Schikanen zur Aufgabe ihrer Häuser gezwungen worden. Auch das große „Kaufhaus Brühl“ mit fast 1000 Beschäftigten ist geschlossen worden. Dagegen wird gegen solche Geschäfte, die in der Mehrzahl arische Kräfte beschäftigen, nichts unternommen, im Gegenteil, diese Geschäfte erfreuen sich nach der Auflassung der Konkurrenzunternehmungen eines noch viel größeren Kundenzuspruches als früher. Die Leipziger fahren lieber ein Stück weiter, als daß sie den Besuch jüdischer Geschäfte aufgeben. Gegen diese Geschäfte läßt sich auch schwer etwas unternehmen, weil sie caritativ viel mehr als arische Geschäfte leisten und diese Haltung in der Bevölkerung Anerkennung findet. So wird rühmend erzählt, daß eines dieser Kaufhäuser wöchentlich gegen 100 alte Leute unterstützt.
Am 8. März starb in Adorf i. V. plötzlich ein 6jähriges Kind. Der Vater des Kindes behauptete, daß das Kind Wurst vom jüdischen Kaufhaus Heymann („Haus der Kleinpreise“) genossen hätte und daran gestorben sei. Darob großes Geschrei der ganzen Nazimeute und der Gewerbetreibenden gegen die jüdische Firma und deren Inhaber. Die Hetze gegen den Juden Heymann veranlaßte den Staatsanwalt, einzugreifen. Die Leiche wurde geöffnet. Die ärztliche Gerichtskommission stellte Lungengrippe und Unterernährung fest. Trotzdem ist das Kaufhaus nun doch in arische Hände übergegangen.
Die jüdischen Kaufhäuser Reka und Messow & Waldschmidt in Dresden sind jetzt auch in arischen Besitz übergegangen. Die jüdischen Angestellten werden nach und nach entlassen.
Besonders rührig sind die Streicherleute im Kampf gegen das jüdische Warenhaus Schocken. Allerdings erfolglos. Wenn es heute gelingt, durch Boykottposten die Käufer einzuschüchtern, so sind diese am anderen Tage wieder zur Stelle. Auch Nazifunktionäre kaufen bei Schocken. Das Fotografieren der Käufer hat man eingestellt, nachdem die Menge einmal einem Fotografen den Apparat aus der Hand geschlagen hat.
Der Sohn des jüdischen Kaufhausbesitzers Lachmann in Zittau, ließ sich von einem Zug überfahren, weil man ihm mit den Nürnberger Gesetzen gedroht hat. Er soll ein arisches Mädchen sittlich beleidigt haben.
Der Inhaber des Konfektionshauses Sann in Zittau mußte sein Geschäft verkaufen, weil sonst die amtliche Schließung seines Geschäftes vorgenommen worden wäre.
Den Juden wird der Zutritt zu intellektuellen Berufen fast allgemein unmöglich gemacht, das Erlernen eines Handwerkes wird ihnen in Sachsen ebenfalls untersagt.
In Dresden ist angeordnet worden, daß unter das Nürnberger Schutzgesetz auch Hausschneiderinnen, Waschfrauen und Aufwärterinnen zu fallen haben. Die betroffenen Frauen unter 45 Jahren verlieren dadurch manche Beschäftigungsmöglichkeit.
In der Dresdner Ortskrankenkasse wurde eine Bekanntmachung angeheftet, die inhaltlich ungefähr folgendes besagte: Die Kommunisten haben jetzt die Parole herausgegeben, sich nur von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen. In Zukunft werde zwar jedes Mitglied über jeden Arzt, auch über jüdische, Auskunft erhalten, doch werde es jeweils darauf aufmerksam gemacht, wenn es sich um einen Juden handele. Sollte das Mitglied trotz dieser Mitteilung darauf bestehen, von einem Juden behandelt zu werden, habe es alle Weiterungen selbst zu tragen.
Schlesien: In Breslau sind alle jüdischen Schüler aus den Berufsschulen ausgeschieden und zu besonderen Judenklassen zusammengefaßt worden. Die Zusammenstellung der Judenklassen geschah ohne Rücksicht auf das Alter und den Beruf der Schüler. Zunächst waren Friseure, Dentisten, Schlosser, kaufmännische Lehrlinge usw. der Unter-, Mittel- und Oberstufe, das sind Schüler im Alter von 14 bis 17 Jahren, zusammengefaßt. Da sich diese „Regelung“ als völlig unmöglich erwiesen hat, wurden nach Monatsfrist zwei Gruppen: gewerbliche und kaufmännische Lehrlinge gebildet. Von einer Lehrplangestaltung kann auch bei dieser Zusammensetzung keine Rede mehr sein. Es wäre selbst beim besten Willen der Lehrpersonen nicht möglich, den Lehrstoff dem Alter und den verschiedenen Berufen der Schüler anzupassen. Besonders die gewerblichen Lehrlinge haben keine Ausbildungsmöglichkeit mehr. Die Dentisten wurden aus der Dentistenschule überhaupt ausgeschieden und haben jetzt keine Möglichkeit mehr, eine Prüfung abzulegen. Bei gutem Willen hätten mehrere Klassen nach dem Alter und mindestens nach verwandten Berufen zusammengestellt werden können. In einer Ansprache erklärte der zuständige Schulinspektor, daß irgendwelche Wünsche in bezug auf den Lehrplan und auch sonst leider nicht erfüllt werden könnten. Der Unterricht der Judenklassen wurde in die Berufsschule der Arbeitslosen und ungelernten Arbeiter am Zwingerplatz verlegt. Die Schüler werden nur mit „Du“ angesprochen, während die Anrede zumindest in den kaufmännischen Klassen „Sie“ ist. Die Pausen sind für Juden und die im gleichen Gebäude unterrichteten Arier getrennt festgelegt. In den Lehrplan der Berufsschulen sind zahlreiche Filmvorführungen aufgenommen. Filme vom Leben der Reichswehr, von Aufmärschen der Nazis, werden häufig vorgeführt. Die jüdischen Schüler sind von diesen Veranstaltungen ausgeschlossen.
Auf dem Bahnhof in Breslau wurde am 29. Juni in den Mittagsstunden ein jüdischer Reisender von der Bahnpolizei mißhandelt und blutig geschlagen, weil festgestellt worden war, daß er aus Palästina zurückgekehrt ist. Die Schupo beobachtete diesen Vorfall, griff aber nicht ein, obwohl sie von anderen Reisenden hierzu aufgefordert wurde.
Die selbständige jüdische Winterhilfe in Breslau war in der Lage, an die von ihr Betreuten mehr auszugeben als die NSV. Aus Amerika erhielt die jüdische Winterhilfe große Unterstützungen, ganze Waggons Kleider und Lebensmittel wurden geschickt. Daraufhin erfolgte die Anweisung, daß nicht mehr ausgegeben werden dürfe, als die NSV ausgebe. Große Bestände, die dadurch nicht verwertet werden konnten, wurden - wahrscheinlich unter Zwang - der NSV abgetreten. Alle Fürsorgeempfänger erhielten auch Brot durch die Gemeinde. Die Juden erhielten weniger als die anderen, auch durften die Juden dieses Brot nur bei jüdischen Bäckern kaufen. Die Brotkarten waren besonders gekennzeichnet, sie trugen außer dem Gemeindestempel auch den der jüdischen Gemeinde. Die Bäckerinnung protestierte gegen diese Anordnung, weil die wenigen jüdischen Bäcker dadurch ein besonders gutes Geschäft machten und den anderen Bäckern ein Verdienst entging. Die Anordnung wurde auf diesen Protest hin wieder aufgehoben.
Am 2. März wurde auf die jüdische Assistentin eines Zahnarztes in Breslau ein Attentat verübt. Auf dem Schloßlatz in der Nähe des Brigadekommandos wurde sie von hinten angeschossen und ins Bein getroffen. Die Polizei ermittelte, daß der Schuß aus der Kaserne des Brigadekommandos abgefeuert worden war. Daraufhin erschien die Meldung, der Täter habe sich selbst gestellt, der Schuß sei beim Waffenputzen losgegangen. Diese Darstellung stimmt nicht. Nach Ansicht von Fachleuten bei der Polizei ist gezielt worden. Fest steht auch, daß die Frau wiederholt belästigt worden ist und man ihr nach dem Leben trachtete.
Der Judenboykott in Breslau wirkt sich immer mehr auf die Geschäfte aus. In letzter Zeit mußten drei alte und angesehene jüdische Geschäfte veräußert werden. Das Konfektionshaus Petersdorff wurde verkauft, es nennt sich jetzt Dykhoff (arisch). Sämtliche jüdischen Angestellten wurden entlassen. Das Warenhaus Messow & Waldschmidt ist ebenfalls in arische Hände übergegangen. Bei der Übernahme fand ein Betriebsappell statt, bei dem Vertreter der Arbeitsfront, des Treuhänders der Arbeit und der Handwerkskammer anwesend waren. Dabei wurde den jüdischen Angestellten befohlen, innerhalb einer halben Stunde den Betrieb zu verlassen. - Das bekannte Schuhgeschäft Klausner ist am 1. August in arische Hände übergegangen, was mit den Angestellten geschieht, ist noch unbekannt.
Die jüdischen Apothekenbesitzer müssen ihre Apotheken abgeben. Ursprünglich wurde ein Termin von 1 bis 2 Jahren für die Ausschaltung der Juden aus dem Apothekerberuf genannt. Vor kurzer Zeit wurde ganz überraschend angeordnet, daß die Apotheken bis zum 30. Juni veräußert werden müssen. Dieser Termin sei unbedingt einzuhalten.
Der Wert der Objekte sank ganz beträchtlich, da ja jetzt der Verkaufszwang gegeben war. Trotzdem konnten viele Besitzer nicht verkaufen.
Die Leute befinden sich in einer verzweifelten Lage, sie wissen nicht, was nun werden soll.
Der Leiter der schlesischen Philharmonie, von Hesslin, ist mit einer Jüdin verheiratet. Es wurde von ihm verlangt, daß er entweder seine Ehe löse oder die Stellung aufgebe. Draufhin kündigte Hesslin seine Stellung. Kurz vor seinem Ausscheiden wurde er zur Zurücknahme seiner Kündigung aufgefordert. Er lehnte ab, zumal er bereits ein neues Engagement in Wien hatte. Im Breslauer Konzerthaus gab er ein Abschiedskonzert vor ausverkauftem Haus. Sogenanntes bestes Publikum war anwesend. Die Autos standen in allen Nebenstraßen um das Konzerthaus. Während des Konzertes wurden dem Dirigenten immer wieder langandauernde Ovationen dargebracht. Als das Konzert beendet war, wurde die Beleuchtung außer der Notbeleuchtung ausgeschaltet, um das Publikum zum rascheren Verlassen des Saales zu veranlassen. Aber gerade das Gegenteil wurde erreicht. Hesslin wurde immer wieder herausgerufen. Die Leute riefen im Sprechchor: „Hesslin wiederkommen.“ Im gleichen Hause wurde die Sitzung einer Nazikörperschaft abgehalten. Die Teilnehmer gingen, angelockt von dem Lärm im Konzertsaal, auf die Galerie, um nachzusehen. Dabei rief einer dieser Nazis „Judenketzer“. Nun setzte ein nicht zu beschreibender Tumult ein. „Pfui“, „Raus“, „Unflätiger Lümmel“ usw. wurde gerufen. Sofort wurde auch bekannt, daß der Rufer der Stadtrat Guhr gewesen sei. Daraufhin wiederholten sich der Tumult und die Raus- und Pfui-Rufe verstärkten sich. Hesslin, der den Zwischenruf nicht verstanden hatte, fragte, was denn los sei. Es wurde ihm erwidert, er möge zur Kenntnis nehmen, daß man ihn nicht beleidigen lasse. Hesslin hielt eine kurze Ansprache, in der er erklärte, man möge sich wegen des Zwischenfalles nicht aufregen, alle sollten als Freunde auseinandergehen, und erst recht wieder Freunde werden. Das Publikum hielt noch lange im Saale aus, dann wurde Hesslin durch die Stadt zum Hotel Monopol getragen. Vor dem Hotel wiederholten sich nochmals die Ovationen und die Rufe: „Hesslin wiederkommen.“ Eine große Menschenmenge begleitete ihn vom Konzerthaus zum Monopol. Sein Auto mußte leer hinterherfahren.
c) Maßnahmen gegen die „Rassenschänder“
„Das Delikt der Rassenschade ist auch zwischen rein Deutschblütigen denkbar . . . wenn nämlich ein deutsch-blütiger Mann mit einer deutschblütigen Frau in Beziehung steht, sich jedoch dabei im Glauben befindet, es handle sich hier um eine Jüdin.“ - Reichsgerichtsrat Dr. Schwarz in der „Deutschen Juristenzeitung“.
Das in Nürnberg verkündete „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ hat den Terror gegen die Juden außerordentlich verschärft. Das gilt besonders für den Teil des Gesetzes, der Verstöße gegen den Rassengedanken bestraft. Rassenschande gilt als Verbrechen. Also ist auch der Versuch strafbar. Verurteilungen wegen versuchter Rassen- A28 schände sind bereits erfolgt. Die Begründungen sind bemerkenswert:
In München wurde ein Arier verurteilt, weil er mit einer Halbjüdin in Beziehung gestanden hatte, die sich als Nichtarierin ausgab. Versuchte Rassenschande wurde deshalb angenommen, weil die Halbjüdin nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. In Hildesheim erfolgte die Verurteilung eines Juden wegen versuchter Rassenschande, weil es nicht zur vollendeten Tat gekommen war. In Hamburg wurde einem jüdischen Arzt zur Last gelegt, er habe eine 18jährige Patientin während der Behandlung zu küssen versucht. Der Arzt bestritt, das Gericht glaubte der minderjährigen Zeugin und verurteilte ihn wegen versuchter Rassenschande zu 2 ½ Jahren Zuchthaus.
Der Begriff der „versuchten Rassenschande“ ist im Wege der Auslegung noch wesentlich erweitert worden. Dafür einige Beispiele:
Die ehelichen Beziehungen in Mischehen sind natürlich erlaubt, es liegt aber Rassenschande vor, wenn das gleiche Paar etwa nach der Scheidung noch Beziehungen unterhält. Die Beziehungen zwischen einem ausländischen Juden und einer deutschblütigen Inländerin sind Rassenschande; zwischen einem inländischen Juden und einer deutschblütigen Ausländerin dagegen nicht. Rassenschande liegt vor, wenn ein Deutschblütiger jüdischer Religion Beziehungen zu einer Jüdin unterhält. Rassenschande ist es dagegen nicht, wenn ein Vierteljude jüdischer Religion Beziehungen zu einer arischen Frau unterhält. Rassenschande gibt es auch: beim Verkehr mit Prostituierten, im Ausland, bei regelwidrigem Verkehr (homosexueller oder perverser Veranlagung). Als Rassenschande strafbar sind die Beziehungen zwischen Juden und Ariern; zwischen Ariern und Angehörigen anderer Rassen dagegen nicht. Beziehungen zwischen Deutschblütigen und Mischlingen mit deutschem Ahnenteil bleiben straflos; Beziehungen zwischen Deutschblütigen und Mischlingen mit „artfremdem“ Ahnenteil sind Rassenschande. Nicht nur der Vorsatz, sondern auch der bedingte Vorsatz zur Rassenschande ist strafbar, er wird angenommen, wenn jüdisches Aussehen, jüdischer Vor- oder Nachname (oder umgekehrt: rein arisches Aussehen usw.) vorliegt.
Auf diese Weise häufen sich die Verurteilungen wegen Verstoß gegen das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Sie treffen natürlich in erster Linie die Juden. Von den wegen des Deliktes der Rassenschande bisher rechtskräftig Verurteilten sind nach amtlichen Angaben 17,8 Prozent deutschblütig und 82,2 Prozent Juden. Die Zahl der bisher Verurteilten ist nicht bekannt. In einem Aufruf in sächsischen Nazi-Zeitungen, der sich gegen die „artvergessenen Frauen“ wendet, werden 31 Personen namentlich aufgeführt, die seit Ende 1934 auf Anordnung des Ministers des Inneren für das Land Sachsen wegen rassenschänderischer Beziehungen verhaftet und ins Konzentrationslager Sachensburg gebracht oder verurteilt worden sind. Wir haben bereits im Heft 9/1936, S. [A] 34 ff. eine Liste von Rassenschande-Urteilen veröffentlicht. Seitdem sind uns folgende Fälle bekanntgeworden: [Es folgt eine lange Aufzählung von Einzelfällen.]
Bei fast allen diesen bestraften „rasseschändenden“ Beziehungen handelt es sich um Bindungen von vieljähriger Dauer. Nach den Feststellungen des Reichsjustizministeriums haben bei 7/8 aller Fälle die Beziehungen schon vor Erlaß der Nürnberger Gesetze bestanden. Die Verurteilten standen vielfach seit einem Jahrzehnt und länger in eheähnlichen Beziehungen zu ihren Partnern; gemeinsame Haushaltungen waren gegründet, Kinder geboren. Manche beabsichtigten sich zu trennen, zum Teil war die Trennung bereits vollzogen, in anderen Fällen bestand die Absicht, auszuwandern oder die Eheerlaubnis zu erlangen.
Da die am Delikt beteiligte Frau nach den Nürnberger Gesetzen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, ist der Erpressung Tür und Tor geöffnet. Naturgemäß dringen Fälle dieser Art nur selten an die Öffentlichkeit. Denn der erpreßte Jude muß bei einer Anzeige der Erpesserin damit rechnen, daß er wegen Rassenschande verurteilt wird. Einige Beispiele:
Der Mannheimer Einzelrichter verurteilte am 19. 3. 36 Madelaine K. zu sechs Monaten Gefängnis, weil sie von ihrem früheren jüdischen Freund 500,- Mk. unter der Drohung einer Anzeige bei der NSDAP erpreßt hatte.
Die Aachener Strafkammer verurteilte am 7. 7. 36 eine Frau und zwei Männer wegen Erpressung zu 18, 12 und 10 Monaten Gefängis. Die Frau hatte einen Juden in ihre Wohnung eingeladen und ihre beiden Helfershelfer beauftragt, im gegebenen Augenblick einzudringen. Man drohte dem Juden mit Anzeige und erpreßte von ihm 500,- Mk. - Der Jude wurde wegen Rassenschande zu fünf Monaten verurteilt.
Der „Stürmer“-Mitarbeiter SA-Mann Wilhelm H. aus Odenkirchen, mehrfach vorbestraft, versuchte seine Frau mit einem Juden zu verkuppeln. Er lud den Juden als „Hausfreund“ in seine Wohnung ein und versuchte, ihn dann unter der Drohung, ihn wegen rassenschänderischen Verkehrs anzuzeigen, zu erpressen. Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich die Bezichtigung wegen Rassenschändung als haltlos heraus. Der Erpresser wurde zu 18 Monaten Gefängnis und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Der rehabilitierte Jude (Kriegsteilnehmer und Inhaber mehrerer Tapferkeitsorden) wurde von der SA bedroht, in „Schutzhaft“ genommen und nach M.-Gladbach überführt. Dort hat er „Selbstmord“ verübt.
Diese Rassenschutzmethoden entsprechen trotz der Streicherpropaganda nicht dem Volksempfinden. So sah sich die Justizpressestelle Stuttgart am 22. 8. gezwungen, eine öffentliche Warnung zu erlassen. Sie wendet sich in dieser Bekanntmachung dagegen, daß sich immer wieder deutsche Frauen fänden, die das ihrige dazu beitrügen, daß Juden sich auch heute noch der Rassenschande schuldig machen könnten. Und in dem schon erwähnten Aufruf in der sächsischen NS-Presse heißt es:
„Man müßte eigentlich annehmen, daß diese Aufklärungsarbeit auch dem letzten Volksgenossen die Augen über die Gefahren geöffnet hat, die dem deutschen Volk von den Juden drohen. Man sollte meinen, daß der wirtschaftliche oder gesellschaftliche Umgang mit Juden ein für allemal aufhören muß. Leider beweist die Erfahrung, daß es noch immer Unbelehrbare gibt, die sich vor ihren Volksgenossen nicht schämen, teils heimlich, teils in aller Öffentlichkeit weiteren Verkehr mit Juden zu pflegen und sogar für sie einzutreten . . . Wenn aber deutsche Mädchen sich soweit vergessen, daß sie Liebesverhältnisse mit Juden eingehen, ja sogar zum Geschlechtsverkehr mit ihnen sich herablassen, so muß solches ehrloses und pflichtvergessenes Verhalten mitleidlos bestraft werden, um damit zugleich abschreckend auch auf diejenigen einzuwirken, die das Gebot der Stunde noch immer nicht verstanden zu haben scheinen.“