Anzeige wegen Kennkarte
Luise Solmitz aus Hamburg schreibt am 18. März 1941 in ihrem Tagebuch über eine Anzeige gegen ihren Mann, der seine Kennkarte nicht unaufgefordert vorgezeigt hatte:
Neues Verhängnis? - Fr. meldete beim Polizeimeister Plischewski auf Wache 25 Aban (unsern Hund) zur Stammrolle der Hunde an. Ich hatte mit sollen, hatte {aber} zu tun; hätte ich gewußt, was kam, wäre ich sicher mitgegangen. Schließlich hätte man die Meldung auch mit der Post schicken können. - Fr. war noch nicht zurück, da ruft die Wache 25 an. - Als ichs später Fr. sagte, rief er von sich aus an, ich hörte mit. Und was ich hörte, war nicht erfreulich. Ob Fr. Nichtarier sei? So, dann habe er seine Kennkarte nicht pflichtmäßig, auch wenn er der betreffenden Behörde bekannt sei, vorgelegt. - Er habe es vergessen. „Gesetz ist Gesetz, es wird Anzeige gegen Sie erstattet.“ - Schweigen beiderseits. Aus der einen Schwierigkeit sind wir glücklich heraus, nun brockt uns Fr. so ganz unnötig eine neue, böse ein ... Dreimal versuchte ich Herrn (Polizeikommissar) Zille zu sprechen. Endlich gelang es auf Wache 25. „Ich komme in einer sehr unangenehmen Sache ...“Er war schon aufgesprungen, ganz blaß und erregt: „In diesem Augenblick lese ich die Meldung, daß gegen Ihren Mann Anzeige erstattet worden ist - die Anzeige läuft.“
Ich wußte es wohl, nichts konnte sie zurückholen. Das wars auch nicht, was ich wollte. Nur Herrn Zille, der sich immer gut und freundlich gegen uns gezeigt hatte, sagen, daß es nicht böser Wille von Fr. gewesen war, der ja nur etwas hatte abgeben wollen, wie man etwas in den Briefkasten wirft, nichts erreichen oder erschleichen. Daß Gesetz zwar Gesetz ist. Daß es aber auch ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dem wir alle schon mal zu Dank verpflichtet gewesen sind, das uns treibt, unseren Mitmenschen durch einen kleinen Wink Unannehmlichkeiten, Scherereien, Schweres zu ersparen. Hier die Frage nach der Karte und meinetwegen ein Verweis, eine Verwarnung. Ich sagte, es gäbe Versehen, die seien nicht gut zu machen: ein Lokomotivführer, der rot für grün nimmt und viele Menschen tötet. Ich sagte, daß Fr. fast 6 Jahrzehnte ohne Karte zu gehen gewohnt gewesen sei... Fragte: „Mußte es denn gleich eine Anzeige sein?“ - Herr Zille war so rührend gut und teilnahmsvoll ...Es geht doch nichts über einen anständigen Menschen, auch wenn er einem nicht helfen kann. Schon die gute Gesinnung, die einem entgegengebracht wird, richtet das Gemüt auf.
(Was ich nicht schreiben durfte: Herr Zille - Vorgesetzter der Wache 25 - schlich auf Zehenspitzen zur Tür, spähte auf den Gang hinaus und brach los, wenn auch gedämpften Tones, wohlweislich: „Sie ahnen ja gar nicht, wie fürchterlich es ist, bespitzelt auf Schritt und Tritt von Untergebenen“; er war ihr Gefangener in seiner eigenen Wache. Nie habe ich das vergessen, wie er mir sein Herz ausschüttete in vollem Vertrauen, in jener entsetzlich gefährlichen Zeit.)
Wir sagen Gisela nichts von der (unseligen) Kenn- noch von der günstigen Stammkartensache.
Gisela ... in Blankenese, wollte es recht gut machen, brach früh auf und saß 3½ Stunden in einem eisigen Bunker, ... als um 22.10 Uhr Alarm kam. Sie rief hier schnell noch an, ehe sie in der Unterwelt verschwand. Für mich ein schreckliches Gefühl, sie ausgerechnet in der Nähe eines Bahnhofs zu wissen. Alles ruhig bis 24¼, dann schwere Flak. Wieder Stille, Entwarnung 10 Minuten vor ½ 2. Bängliches Warten mit heißem Tee auf Gisela, die um 2 Uhr glücklich heimkam.