Bedeutung der Briefzensur
Kurt Rathenau aus Berlin schildert seinem Bruder Fritz am 3. Januar 1941, was die Briefzensur für ihn bedeutet:
Lieber Fritz!
Die gemeinsamen Grüße von der Sylvesterstunde wirst Du erhalten haben; diese Stunde hat in uns allen das Gedenken an die entfernten Nächsten wachgerufen, und wir wünschten uns allen ein gutes neues Jahr 41!
Deine Zeilen vom 18. Dez. habe ich mehrfach gelesen, und ich danke Dir nochmals für die Mühe und Zeit, die Du Dir dazu genommen hast. Alle Deine Nachrichten interessieren mich aufrecht, davon darfst Du überzeugt sein, aber es ist nicht nur mir, sondern fast allen meinen Bekannten hier sehr schwer, wie Du ja selbst es hervorhebst, lange Briefe über sich und sein Tun und Lassen, seine Gedanken niederzuschreiben, denn Briefe sind eben nur für den Empfänger bestimmt, nicht aber für die Zensur; nicht etwa, daß ich irgendwie etwas zu fürchten hätte oder gar zu verbergen, aber man ist nämlich absolut gehemmt, seine Gefühle fremden Menschen - sei es Männern oder Frauen - preiszugeben. Wie leicht können harmlose Sätze oder Worte von Fremden falsch gedeutet werden, die weder Absender noch Empfänger kennen. Daher vermeide ich es nach Möglichkeit, lange Episteln zu fertigen, da ich weder philosophisch noch geschichtlich mich auszudrücken verstehe. Da ist also keine Geheimnistuerei meinerseits vorhanden, sondern Zensoren-Scheu! - Was hätte es für einen Sinn, wenn ich Dir erzählen wollte, wie störend im Alltagsleben das Abschneiden des Fernsprechers ist, an den wir 30 Jahre unter gleicher Nr. am gleichen Platz gewohnt waren!
Am 1. Jan. gegen 8:30 früh, ein leichtes Klingelzeichen und - aus der Traum! Soll ich mir den Kopf zerbrechen, warum man die Apparate gerade den Nicht-Ariern abbricht, statt den vielen „Wenig-Sprechern“, die vielleicht im Monat nur ganz selten sprechen. - Wozu soll ich klagen, wie schwer es für eine Hausfrau ist, in einer Stunde den gesamten Bedarf für das Haus einzukaufen! Es ist verfügt, und damit müssen wir eben fertig werden, wie mit vielem anderen. - Wozu also sich das Herz erneut schwer machen, seinen Nächsten draußen zu eigenen Sorgen noch neue hinzufügen?
Glaube mir, lieber Fritz, es ist für jeden so schwer, mit sich, dem Gegebenen und Erlaubten fertig zu werden, daß eine gute Portion Nerven und Optimismus notwendig sind, um den Kopf oben zu behalten! Keiner kann beurteilen, wie es im Innern des ändern aussieht, selbst nicht des Nächsten! Jeder hat seine schweren Sorgen, dieser u. jener Art; abwägen kann man nicht, weil man nicht weiß, wie der Druck bei dem einen oder anderen ist. - Daher bitte ich Dich, nichts für ungut zu nehmen, wenn meine Nachrichten Dir dürftig erscheinen! Du kannst Dir nicht vorstellen, wie leicht man aneckt! Das Tatsächliche in der großen Welt erfährst Du wie ich aus der Presse!
Nun zu Einzelheiten: Ich habe keine Anzeige einer Vermählung von Gilberts Schwester erhalten; auch kenne ich nicht Frau Nelly; ihr Interesse an mir rührt also von der kurzen Korrespondenz her. Mit Dir bin ich der Ansicht, daß der Papa G. ein weites Herz haben muß bei der Verschiedenheit der Schwiegerkinder in facto und in spe, aber die Eltern müssen doch auch nicht in Sorge um Gilbert sein, und das ist doch auch für Euch ein gutes Zeichen.
Gestern erfuhr ich, daß Deine alte Großtante, Frau Lebmann, am 13. Jan. 100. Geburtstag hat!! Fabelhaft; Du schreibst ihr doch sicherlich; ich kenne sie ja nicht. Ihr Sohn Georg Lebmann ist jetzt vor ca. 8 Tagen im 74. Jahre gestorben! - Damit Übergang auf die Toten: Joses Sterbetag [ist] mir unbekannt, wer Kosten für Beerdigung etc. zahlte, unbekannt, beigesetzt in Stahnsdorf.
Betreffs Claras Testament, so kann ich Dir heute keinen Bescheid geben. R. A. Bernd konnte [ich] noch nicht erreichen, ich glaube nicht, daß er die Sache noch von Clara weiterbearbeiten durfte; auch weiß ich nicht, ob er mir Auskunft irgendwelcher Art geben wird. Ich würde, da die Angelegenheit nicht eilt, nur an Olga schreiben, wie und wo die Vollstreckung erfolgt, ob sie alle Punkte beobachtet und ob Du mitwirken sollst. Bitte mich gänzlich aus dem Spiel zu lassen, wenn irgendmöglich. Lasse die Sache ruhig an Dich herantreten, nachdem Du Olga aufmerksam gemacht hast. Die Post von hier und nach hier aus USA ist sehr schlecht, teils ganz unterbrochen, und ich empfehle daher, sofort an Olga zu schreiben, da man ja nicht weiß, wie USA sich verhalten werden im Laufe des Weltgeschehens. - Für die Kinder Gr. war m.W. eine Hypothek sichergestellt; der Anteil Jose fällt an [...] Renee. - Das Akt.-Z. von Ludwig Claras Testament ist: Amtsgericht Berlin-Mitte: 95 IV. 720.07.29.
Die Schenkung datiert vom 10. Nov. 1910, geschlossen bei Just.Rat Veit Simon. - Soviel davon für heute. -
Sophies fröhl. Zeilen haben uns sehr gefreut, und Elsi u. ich danken bestens. - Von [...] kam netter Brief, auch über Euch. -Für heute sehr viele herzliche Grüße Dein