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Chronik und Quellen
1940
Dezember 1940

Versorgungslage und Stimmung

Ein Auswanderer schildert die Versorgungslage, die Stimmung der Bevölkerung und die Situation der Juden im Reich im Herbst und Winter 1940:

Herbst und Winter 1940 in Deutschland

Die folgenden Ausführungen sollen eine Schilderung geben von den im Herbst und Winter 1940 herrschenden Zuständen im Dritten Reich. Sie beruhen größtenteils auf eigener Erfahrung, die durch Beobachtungen und Erlebnisse zuverlässiger Gewährspersonen ergänzt wurden. Vorausgeschickt sei, daß ich, in Süddeutschland geboren, bis Ende September in einer größeren Stadt am Rhein lebte. Zu diesem Zeitpunkte begaben meine Frau und ich uns nach Berlin, um von dort aus unsere Ausreise nachdrücklicher betreiben zu können. Dies war unser Glück. Wenn wir wieder nach Süddeutschland zurückgekehrt wären, hätten wir am 22. Oktober an der Evacuation der badischen und pfälzischen Juden teilnehmen müssen und befänden uns jetzt im Camp de Gurs.

Als wir Deutschland Ende des Jahres 1940 verließen, war schon fast seit ein und einhalb Jahren Krieg. Man merkte dies daran, daß, besonders in Berlin, im Straßenbild das Militär am stärksten hervortrat. Nur selten sah man ein von einem Zivilisten gesteuertes Auto. Die Insassen waren meistens Offiziere. Die Eisen-, Hoch- und Untergrundbahn wurden, ebenso wie die übrigen Verkehrseinrichtungen, größtenteils von Soldaten benutzt. Militärtransporte und Urlauberzüge belasteten damals die Eisenbahnlinien so stark, daß der private Eisenbahnverkehr stark eingeschränkt war. Güterwagen aus allen besetzten Ländern standen in großen Mengen auf den Gleisen. An einer Station konnte ich französische, holländische, belgische, polnische und tschechische feststellen. Der private Autoverkehr war infolge der Benzin- und Ölknappheit sehr eingeschränkt und erschwert. Es bedurfte großer Mühe, vieler Nachweise, Vorsprache bei verschiedenen Instanzen und besonders guter Beziehungen, wenn jemand erreichen wollte, daß ihm Betriebsstoff für sein Auto bewilligt wurde. Als ich zwecks Beförderung unseres Gepäcks ein Auto benötigte, mußte ich über eine Stunde in Berlin herumirren, bis ich endlich ein Taxi fand, das mich aufnahm. Der Chauffeur sagte mir, ich hätte noch Glück gehabt. Der Taxiverkehr würde infolge Benzinmangels „von morgen an“ auf 14 Tage eingestellt. Ob er nach Beendigung dieser Frist wieder aufgenommen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Auch für die militärischen Stellen sollten Anordnungen getroffen werden, um den Benzinverbrauch in der Heimat und Etappe tunlichst einzuschränken.

Die Wirkungen des Krieges und der durch ihn hervorgerufenen Abschnürung Deutschlands von den Hauptexportländern waren hauptsächlich in der Versorgung der Bevölkerung mit Dingen für den täglichen Bedarf bemerkbar. Trotz der bis ins kleinste vorgenommenen Erfassung aller Lebens- und Gebrauchsmittel herrscht eine Knappheit, die sich hinsichtlich der Menge und Güte der Ware bemerkbar macht. Das von der Regierung bekanntgegebene Ergebnis der Getreideernte 1940 wird vielfach als unrichtig angesehen. Die fast in ganz Deutschland während des Sommers herrschende Regenperiode beeinflußte das Wachstum, die Blüte und Reife des Weizens und Roggens in ungünstiger Weise, so daß - wie ich aus einem Gespräche eines erfahrenen Landwirts mit einem Reisegenossen in der Eisenbahn hören konnte - etwa mit einer halben Ernte zu rechnen wäre. Wenn der Getreidevorrat tatsächlich bis zur nächsten Ernte ausreicht, so kann dies höchstens durch die in Frankreich, Belgien und Holland Vorgefundenen Mengen bewirkt werden, die zur Versorgung der Bevölkerung nach Deutschland gebracht wurden. Außer dem stark ausgemahlenen Getreidemehl werden noch Kartoffelmehl und andere Bestandteile zum Brotbacken verwendet, so daß - wie mir ein Bäcker sagte - schon eine große Kunst dazu gehört, aus dem von Mühlen gelieferten Mehl einigermaßen genießbares Brot zu backen.

Nur an Kartoffeln scheint kein Mangel zu herrschen.

Hingegen ist Gemüse infolge des ungünstigen Sommers sehr knapp. Obst gibt es aus dem gleichen Grunde fast keines. Äpfel und Birnen, die ja die hauptsächlichsten dauerhaften Obstsorten sind, ergaben eine Mißernte, die sich dadurch noch stark fühlbar machte, weil von Italien keine Orangen hereinkamen. In der obst- und gemüsereichen Rheinebene war dies im September noch wenig fühlbar. Damals gab es dort noch reichlich Stein- und Beerenobst. Dagegen in Berlin kam der Mangel richtig zur Geltung. Die Hausfrauen hatten große Mühe, mußten weite Wege machen und lange anstehen, um etwas Grün- oder Blumenkohl und einige Äpfel oder Birnen zu erhalten. Damals wurden für Gemüse in Berlin Kundenlisten eingeführt. Dasselbe soll jetzt auch für Obst der Fall sein. Eine große Knappheit bestand auch an Butter und an Fetten jeglicher Art. Die pro Kopf zur Verfügung stehende Menge (125 Gramm Butter wöchentlich) genügt keineswegs. Öl, Margarine und sonstige tierische Fette kamen in ganz kleinen Mengen zur Verteilung. Wenn auch, um die Bevölkerung bei guter Stimmung zu erhalten, ab und zu Sonderzulagen an Butter ausgegeben wurden, und die in Holland, Dänemark usw. weilenden Soldaten ihren Angehörigen - was jetzt wohl so ziemlich aufgehört haben wird - kleinere Fettmengen und andere Lebensmittel zukommen ließen, so konnte diese Maßnahme nur kurze Zeit, aber nicht nachhaltig, den Mangel etwas beseitigen. Daß eine Fettnot besteht, läßt sich nicht bestreiten. Ebenso verhält es sich mit der Fleischversorgung. Die 500 Gramm, die wöchentlich pro Person abgegeben werden, müssen teilweise in Wurst, die qualitativ minderwertig ist, entgegengenommen werden. Die noch verbleibende Fleischmenge versteht sich einschließlich der Knochen, so daß jeder Person wöchentlich kaum mehr als 250 Gramm Fleisch bleiben. Dabei ist dieses von geringer Qualität. Die besten Schlachttiere werden für die Heeresverwaltung ausgesucht, so daß für die Zivilbevölkerung nur alte Kühe und Stiere zur Verfügung stehen, deren Fleisch zäh und trocken ist. Erwähnenswert ist, daß, wenigstens von Süddeutschland aus, auch das Sudetenland mit Fleisch mitversorgt werden mußte, weil dort die Knappheit ganz besonders groß war. Mangel besteht auch an Milch. Vollmilch wurde nur an Kinder, werdende und stillende Mütter abgegeben. Die übrige Bevölkerung mußte sich mit Magermilch begnügen, soweit solche vorhanden war. Juden erhielten überhaupt keine. Sogar Ärzte konnten nur in seltensten Fällen für Kranke eine Milchzulage erwirken.

Das für jede Person wöchentlich vorgesehene Ei konnte nur so lange richtig geliefert werden, als der in Holland und Dänemark Vorgefundene Vorrat reichte. Nachdem dieser erschöpft war, auch vorher schon, vergingen oft 14 Tage und noch mehr, bis wieder Eier ausgegeben wurden.

Mangel herrschte auch an Fluß-, Seefischen und Fischwaren aller Art. Sie durften an Juden ebensowenig verkauft werden, wie Wild und Geflügel, die aber auch für „Arier“ seltene Leckerbissen waren, soweit sie sie nicht durch geheime Beziehungen gegen hohe Bezahlung erhalten konnten.

Knapp waren auch die Vorräte an Obst- und Gemüsekonserven, und [diese] werden wohl infolge der schlechten Ernte immer mehr vom Markte verschwinden. Im Juni 1940 fragte ich in mindestens 10 Geschäften und Apotheken für einen Schwerkranken nach Himbeersaft. Schließlich erhielt ich solchen in einer Apotheke, deren vormaliger jüdischer Besitzer sich genügend eingedeckt hatte.

Auch die Zuckerzuteilung war unzureichend. Den Hausfrauen wurde angeraten, das Beerenobst und sonstige Marmeladen ohne Zucker zu konservieren und die Versüßung erst vor dem Verbrauch vorzunehmen. Schokolade, Pralinen und andere Süßigkeiten sind kaum vorhanden und von sehr geringer Güte. An den Tagen, an denen solche Waren verabfolgt werden - Juden erhielten sie nicht -, standen die Käufer in langen Reihen vor den Geschäften und warteten, bis sie geöffnet wurden. Kakao, aus den Schalen der Kakaobohne hergestellt, wurde in geringen Mengen als Kindernährmittel verabfolgt. Reis, Graupen, Sago, Teigwaren usw. wurden in geringen Mengen ausgegeben. Infolge des ungünstigen Sommers war auch der Weinertrag quantitativ und qualitativ gering. Da fast alle noch vorhandenen Weine von der Heeresverwaltung beschlagnahmt waren, stand nur eine geringe Menge zum Verkauf. Ein Weinhändler sagte mir, daß er zu Weihnachten wohl kaum seine Kunden befriedigen könne. Die geringen Weinmengen, die aus Ungarn, Italien und Bulgarien eingeführt wurden, waren kaum imstande, den Ausfall zu decken. Eine sehr große Knappheit bestand auch in Zigarren und Rauchtabak. Ob diese durch Mangel an Rohmaterial oder an Arbeitskräften oder durch beides verursacht worden war, entzieht sich meiner Kenntnis. In Süddeutschland, wo die Tabakindustrie heimisch ist, machte sich dieser Mangel noch nicht so fühlbar, wenn auch Einzelhändler ihren Kunden auf einmal nicht mehr als 5 Zigarren verabfolgten. In Berlin erhielt jeder der Käufer höchstens 2-3 Stücke auf einmal. In vielen Berliner Zigarrenläden konnte man an bestimmten Wochentagen überhaupt keine Zigarren erhalten.

Recht fühlbar war auch der Papiermangel. Den Kunden wurde angeraten, Tüten und sonstiges Packmaterial beim Einkauf mitzubringen. Der Kaufmann und Metzger sah es gerne, wenn man ihm alte Zeitungen brachte. Klosettpapier war kaum mehr zu erhalten. Ein Ladenbesitzer sagte mir: Ja, da müssen Sie auf die Tagespresse zurückgreifen!

Die gleiche Verknappung wie auf dem Gebiet der Lebens- und Genußmittel bestand auch hinsichtlich der Bekleidungsgegenstände. Die sogenannte Kleiderkarte garantierte theoretisch jedem den Mindestbedarf dessen, was er zum Schutz seines Körpers gegen Witterungseinflüsse bedarf. Die Qualität der Textilien ist bei dem Mangel an Wolle und Baumwolle, der ausschließlich zur Verwendung von Ersatzstoffen zwingt, so gering, daß die angeschafften Kleidungsstücke kaum halb so lange reichen als früher. Dabei blieben die Preise in früherer Höhe. Häufig trat sogar ein Preisaufschlag für Spinn- und Webwaren ein.

Am schwierigsten ist die Schuhversorgung. An Leder, das die Heeresverwaltung für alle erdenklichen Zwecke in ungeheuren Mengen benötigte, herrschte der größte Mangel. Die Erwerbung neuer Schuhe ist von der Erlangung eines Bedarfsscheins abhängig, und wer keine besonders guten Beziehungen hat, wird kaum einen solchen erhalten, es sei denn, daß er imstande ist, nachzuweisen, daß er wegen Mangel an ganzem Schuhwerk nicht zur Arbeit gehen kann. Das Tragen von Holzschuhen aller Art ist deshalb in Deutschland zur Frauenmode geworden, und man konnte in Berlin und sonstwo Trägerinnen dieses klappernden Schuhwerks aus allen Gesellschaftsschichten beobachten. Daneben sah man Männer und Frauen mit abgetragenem Schuhwerk, das in normalen Zeiten längst weggeworfen worden wäre. Die Ausbesserung der Schuhe war ebenfalls ein schwieriges Kapitel. Kurz bevor wir Deutschland verließen, mußte sich jeder bei einem Schuhmacher als Kunde einschreiben lassen. Die Lederzuteilung war so gering, daß es keine Ledersohlen mehr gab. Die als Ersatz zur Verfügung gestellten Gummisohlen (aus synthetischem Gummi hergestellt) sind schlecht und halten nur kurze Zeit.

Nur an Sonn- und Feiertagen ließ sich eine gewisse Eleganz beobachten, die vielfach noch aus besseren Zeiten stammt und sorgfältig zu erhalten gesucht wird oder aus neuerworbenen Stücken besteht, denen man bei genauem Besehen anmerkt, daß ihr Glanz bald verblaßt sein wird.

Auffallend waren auch die vielen Pelzmäntel, deren Trägerinnen gar nicht zu dem Kleidungsstück paßten. Da Pelzmäntel damals noch bezugscheinfrei waren und viele Arbeiterinnen nicht wußten, was sie mit ihrem Lohn anfangen sollten - zur Sparkasse wollten sie ihn nicht bringen -, legten sie ihn auf diese Weise an. Ob diese Thesaurierung bei dem immer mehr schwinden[den] Vorrat an Rohpelzen heute noch möglich ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Damit die tatsächliche Lage nicht allzu deutlich offenkundig wird, werden die Geschäfte gezwungen, ihre Schaufenster so zu dekorieren, als ob alles in Hülle und Fülle vorhanden sei. Dadurch befinden sich in vielen Geschäften die meisten Waren in den Schaufenstern. Die ausgestellten Waren sind vielfach mit Zetteln versehen, die die Aufschrift „verkauft“ tragen. Will ein Kunde irgendein Stück aus der Auslage haben, so wird er vom Geschäftsinhaber oder einem Angestellten belehrt, daß alle im Schaufenster liegenden Stücke, solange sie ausgestellt sind, nicht entfernt werden dürfen.

In der Leipziger Straße in Berlin waren im Oktober 1940 in einem Schaufenster wunderbare Pralinen und Schokoladen ausgestellt, aber als „unverkäuflich“ bezeichnet. Ob es echte oder nur Attrappen waren, konnte ich nicht feststellen. Durch derartige Mittel, für die die deutsche Sprache neuerdings die Bezeichnung „Tarnung“ geprägt hat - andere Sprachen kennen meines Wissens diesen Begriff nicht -, soll den in Berlin noch weilenden Ausländern vorgetäuscht werden, daß alles noch wie früher vorhanden sei.

Eine Knappheit besteht auch in allem, was der Gewerbetreibende zur Neuanfertigung oder Instandsetzung aller möglichen Dinge benötigt. Die Ausbesserung irgendeines Schadens an der Wasserleitung, einer Maschine oder an einem Bau ist deshalb eine schwierige und langwierige Angelegenheit. Die aus sogenannten Werkstoffen hergestellten Ersatzteile sind in der Regel so minderwertig, daß sie nicht lange halten, und dann geht der Tanz von neuem los. Für die Heeresverwaltung sollen alle Gebrauchsgegenstände in genügenden Mengen vorhanden sein. Wie es mit der Güte beschaffen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Der Bedarf des Heeres ist aber so ungeheuer, daß für die eigentliche Wirtschaft immer weniger übrig bleibt. Die Zuteilungen an diese werden immer geringer. Ein Installateur für Wasser und Gaseinrichtungen sagte mir schon im Herbst 1939, daß seine Innung kaum noch 25 % des normalen Bedarfs erhalte.

Die private Bautätigkeit hat fast völlig aufgehört. Notwendige Hausreparaturen müssen zurückgestellt werden. Die für öffentliche Neubauten vorgesehene Zeit wird weit überschritten. Nur wenn es sich um wichtige Gebäude handelt, in denen z. B. Heeresbedarf aufbewahrt wird, und um Unterkunftsräume für Soldaten oder Arbeiter in besonders wichtigen Betrieben, werden alle nötigen Materialien rechtzeitig zur Verfügung gestellt. Aber auch hier spielen die Werkstoffe eine große Rolle.

Zu dem Materialmangel gesellt sich noch ein Arbeitermangel. Da Millionen von Männern im Heeresdienst gebraucht werden und andere Millionen den ungeheuren Bedarf der gewaltigen Kriegsmaschine bereitstellen müssen, werden der Wirtschaft die besten Kräfte entzogen. Die Einstellung weiblicher und ausländischer Arbeiter und Kriegsgefangener kann nicht als vollwertiger Ersatz angesehen werden. An starkem Arbeitermangel leidet auch die Privatwirtschaft, und es ist sehr fraglich, ob die kommende Ernte so bestellt werden kann, daß sie die Volksernährung für ein ganzes Jahr gewährleistet.

Bei Kriegsbeginn wurden Gesetze zur Verhütung des sogenannten „Hamsterns“ und des Schleichhandels erlassen und nachgehend mehrfach verschärft. Unter Umständen kann sogar für derartige Verbrechen die Todesstrafe verhängt werden. Trotzdem ist die Zahl der „Volksschädlinge“, die täglich und stündlich gegen diese Anordnungen verstoßen, nicht gering. Wie in den Jahren 1914-18 war der Schleichhandel schon im Herbst 1940 üppig ins Kraut geschossen. Unter der Hand wurden alle möglichen Dinge zum Kauf angeboten. Namentlich der von den Soldaten aus Holland nach Hause gebrachte oder geschickte Bohnen-Kaffee war ein beliebter Handelsartikel, der bis zu RM 12,- und darüber pro halbes Pfund Abnehmer fand.

Wie in der Zeit des ersten Weltkrieges ist der Landwirt gerne bereit, Butter, Eier, Geflügel u. a. gegen Textil- und Wirtschaftsgegenstände „hintenherum“ abzugeben, und der Kaufmann in der Stadt geht sehr gerne auf solche Tauschgeschäfte ein.

Die Einschränkung, die sich die Bevölkerung hinsichtlich der Ernährung, Kleidung und ihres bisherigen Komforts auferlegen muß, ist nicht das einzige Opfer, das der Krieg von ihr forderte. Als mindestens gleich starke Qual werden die Luftangriffe der RAF empfunden, die ja bis in die Industriestädte längs des Rheins, an der Nordseeküste und auch in Berlin große Beunruhigung hervorriefen. Neben der Gefahr, in die die von den feindlichen Fliegern angegriffenen Orte gerieten, wurde das oft stunden-, manchmal nächtelange Verweilen in den Luftschutzräumen als eine schwere Störung empfunden. In Berlin hatten die Luftschutzwarte Weisung erhalten, bei Fliegerangriffen die in den Kellern versammelten Menschen durch geeignete Ansprachen bei guter Stimmung zu erhalten. Ein Luftschutzwart benutzte diese Gelegenheit, um die Verdienste Hitlers hervorzuheben. Begeistert rief er u.a. aus: „Wo wären wir jetzt, wenn wir Adolf Hitler nicht hätten!“ Ein junges Mädchen erwiderte: „Im Bett.“ Die Anwesenden waren starr vor Schreck, als sie diese kühne Antwort hörten. Das Mädchen wurde gleich am anderen Morgen der Geheimen Staatspolizei übergeben.

Der Arbeiter, der oft schon um 5 Uhr seine Wohnung verlassen muß, um rechtzeitig zur Arbeitsstelle zu kommen, geht nach größtenteils im Keller verbrachter Nacht - manchmal mußte der Luftschutzraum infolge mehrmaligen Ertönens des Warnungssignals innerhalb einer Nacht 3 oder 4 mal aufgesucht werden - schlaftrunken und mürrisch zur Arbeit. Viele Werktätige suchen darum auch die Luftschutzräume gar nicht mehr auf. Der Grünwarenhändler ist mißgestimmt, weil er zur Entgegennahme seiner Ware nach einer Fliegernacht ebenso früh in der Markthalle erscheinen muß wie an anderen Tagen. Die einzigen, die durch die Fliegerangriffe einen Vorteil haben, sind die Schulkinder und ihre Lehrer, da der Unterricht, je nach der Dauer des Aufenthalts im Keller, später beginnt. Lästig und gefährlich sind auch die Verdunkelungs-Vorschriften. Besonders in den kurzen Spätherbst- und Wintertagen herrschte in Berlin von nachmittags 5 Uhr eine dichte Finsternis auf den Straßen. Wer nicht dringend außerhalb zu tun hatte, zog es vor, zu Hause zu bleiben. Es ist begreiflich, daß dieser Zustand das gesellschaftliche Leben, den Konzert-, Theater- und Kinobesuch fast völlig unmöglich machte.

Schwierig, fast unmöglich ist es, die Schäden anzugeben, die durch die Fliegerangriffe verursacht wurden, weil die Presse hierüber selten Nachrichten bringen darf. Ab und zu kommen wohl behördliche Berichte, die die Vorgänge und die Opfer, die sie forderten, bagatellisieren; auch wurden die Stellen, wo Bomben niederfielen, sofort behördlich abgesperrt. Daß mancherlei Schäden durch die RAF angerichtet wurden, ist sicher. In Mannheim war z. B. im September die Rheinbrücke gesperrt, weil am Brückenanfang eine Bombe niedergegangen war. Weitere Abwürfe erfolgten in und in der Nähe der Lang’schen Maschinenfabrik, auf dem Lindenhof und in den verschiedenen Werken der Badischen Anilin- und Sodafabrik auf der linksrheinischen Seite. In Berlin waren die oberen Stockwerke eines Wohnhauses zwischen den Bahnhöfen Lehrter Stadtbahnhof und Bellevue der Hochbahn völlig zerstört. In der Halle des Lehrter Stadtbahnhofs waren im Oktober fast alle Glasscheiben zerstört. Dieser Schaden wurde mit der größten Eile ausgebessert. Große Verwüstungen wurden in der gleichen Zeit an einem Gebäude in der alten Kantstraße beim Charlottenburger Bahnhof hervorgerufen, die auch viele Menschenleben gefordert haben sollen. Bemerkenswert waren auch die mehrfachen Anschläge in den Bahnhöfen der Hochbahn, daß diese oder jene Strecke gesperrt und welche Umwegstrecke zu benutzen sei. Welche Schäden in der Umgebung von Berlin und auf dem Fernbahnnetze entstanden, kann nicht berichtet werden. Es wurde wohl viel von zerstörten Fabriken in den Vororten erzählt und von stillgelegten Bahnstrecken. Das sind aber unzuverlässige Berichte, die nicht nachgeprüft werden können.

Die Behandlung der Juden bei Luftschutzangriffen war verschieden. In vielen Häusern waren besondere Luftschutzkeller für Nichtarier. In anderen durften sie mit den Ariern im gleichen Raume weilen. Anderswo ordnete der Luftschutzwart an, daß nur Juden die Luffschutzräume aufsuchen müßten, weil zu befürchten sei, daß sie den englischen Piloten mit Taschenlampen Blinkzeichen gäben. In noch anderen Häusern brauchten Juden überhaupt nicht ihre Wohnungen zu verlassen. Irgendwo beschwerte sich ein neuer Mieter über die Anwesenheit von Juden im Luftschutzkeller. Dies sei unerträglich für ihn. Die Juden wurden daraufhin ausgeschlossen. In der folgenden Nacht schlug eine Bombe in den Keller, wobei es viele Tote und Verwundete gab. Die jüdischen Bewohner, die in ihren Wohnungen hatten bleiben müssen, blieben verschont.

Wie verhielt sich die Bevölkerung zu den damals in Deutschland herrschenden Zuständen? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb nicht so ganz einfach, weil es der Nationalsozialismus nach und nach erreicht hat, die Juden in Deutschland völlig zu isolieren und fast alle Beziehungen zwischen der arischen und nichtarischen Bevölkerung zu unterbinden. Daher kommt es, daß der jüdische Beobachter nur wenig Gelegenheit hat, die im Volke herrschende Stimmung kennenzulernen. Eine der ersten Taten Hitlers und seiner Helfershelfer war es, dem deutschen Volke seine Menschenfreiheit zu rauben. Wer sich nicht willig knebeln ließ, dem wurde der Brotkorb entzogen. Daß dieses Mittel vorzüglich wirkte, beweist am besten die derzeitige geistige Verfassung des deutschen Beamten aller Kategorien. Ich konnte dies vorzüglich am Verhalten meiner früheren Bekannten mir gegenüber beobachten. Viele von ihnen, darunter solche, mit denen ich früher freundschaftlich verkehrte und die mich in ihre intimsten Verhältnisse eingeweiht hatten, brachen nach und nach den Umgang mit mir ab. Andere stellten sich, wenn sie auf der Straße an mir vorbeigingen, an ein Schaufenster, schauten nach der Uhr oder sonstwo hin und taten, als sähen sie mich nicht. Nur wenige blieben in ihrer Haltung unverändert und erwiesen sich bis zuletzt als aufrechte, ehrenhafte Männer.

Das sind allerdings nur einzelne Erscheinungen. Das durch den Nationalsozialismus geschaffene, feinmaschige Bespitzelungssystem hat bewirkt, daß keiner mehr dem anderen traut. Die Eltern fürchten, von ihren Kindern denunziert zu werden, und der Landgerichtspräsident von seinem jüngsten Schreibgehilfen. Der Arbeiter hütet sich wohl, mit seinem Werkgenossen mehr zu sprechen, als die Berufsarbeit erfordert. Am stärksten ist das Spitzelsystem unter den Frauen entwickelt, die jede Kleinigkeit, die sie bei der Nachbarin oder Freundin beobachten, dem Block-Zellenwart, dem Orts- oder Kreisleiter hinterbringen. So erhält diese Stelle mehr oder weniger zuverlässige Unterlagen über die Gesinnungsart der Gesamtbevölkerung.

Interessant ist das Verhalten der Reisenden in der Eisenbahn. Entweder sitzt jeder hinter einer Zeitung oder tut, als schlafe er. Weil keiner dem anderen traut, kommt nur selten ein Gespräch zustande. Wenn sich tatsächlich zwei gute Bekannte unterhalten, lauern die übrigen hinter ihren Zeitungen, ob kein verfängliches Wort gesprochen wird. In der Berliner Hochbahn hört man kaum mehr ein scherzhaftes Wort. Jeder sitzt schweigend und brütet vor sich hin.

Zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung bedient sich die Nationalsozialistische Regierung neben der durch die Partei und ihre Gruppierungen von Mund zu Mund betriebenen Propaganda des Lichtbilds, des Rundfunks und der Presse. Alle drei sind fest in ihren Händen und werden scharf von ihr überwacht. Die Presse ist vollständig gleichgeschaltet. Die größten Zeitungen in Berlin, ebenso die Frankfurter Zeitung, unterscheiden sich im wesentlichen nicht viel vom kleinsten Provinzblättchen, besonders da seit Beginn des Krieges infolge der herrschenden Papierknappheit ihr Umfang stark gekürzt wurde. Im großen und ganzen schenkt die Bevölkerung dem, was ihr die Presse bietet, keinen allzu großen Glauben. Ein im Winter 1940 von der Front nach Hause gekommener Soldat sagte, er halte von der Zeitung nur das Datum für wahr, alles übrige sei Schwindel. Ähnliche Bemerkungen konnte man vielfach und unumwunden hören. In gleicher Weise werden vielfach die Meldungen des Rundfunks beurteilt. Gleich bei Kriegsbeginn wurde das Abhören ausländischer Sender unter Androhung schwerer Zuchthausstrafen verboten. Bis zu meiner Ausreise aus Deutschland wurden jede Woche mehrere Verurteilungen von Personen bekanntgegeben, die trotzdem ausländische Sender gehört und die Nachrichten sofort weiterverbreitet hatten. Viele solcher Hörer sind vorsichtiger und behalten die ausländischen Nachrichten für sich. Aber in der Unterhaltung mit Geschäftsleuten u.a. bekommt man häufig Dinge erzählt, die nur durch den englischen oder schweizer Sender in Erfahrung gebracht werden konnten.

Es ist begreiflich, daß diese Knebelung der freien Meinung von vielen, besonders von denen, die andere Zeiten erlebt hatten, mit größtem Widerwillen ertragen wird. Hierzu kommt noch bei vielen eine Verbitterung gegen die Regierung, wegen ihrer feindseligen Einstellung gegen das positive Christentum. Welchen Umfang diese Mißstimmung genommen hat, kann ich, da es mir unmöglich war, diese Angelegenheit genau zu verfolgen, nicht angeben. Es scheint, daß während des Krieges ein gewisser Waffenstillstand eingetreten ist. Nach dessen, wie man hofft und dem Volke suggeriert wird, siegreicher Beendigung dürfte wohl die Streitaxt wieder ausgegraben werden.

In einem Punkte herrscht in allen Volksschichten völlige Übereinstimmung. In der Unzufriedenheit über die Höhe der Steuern und Abgaben. Die Bemerkung: Ich arbeite nur noch für das Finanzamt, konnte man schon vor Kriegsbeginn vielfach von Geschäftsleuten hören. Jetzt, nachdem die Steuerschraube noch viel fester angezogen wurde, ist der Unmut noch gewachsen.

Verbitterung in höchstem Grade verursacht auch die Machtfülle, welche sich die Nationalsozialistische Partei nach und nach angemaßt hat. Sie sowie die aus ihr hervorgegangene und ihr teilweise unterstehende Geheime Staatspolizei (Gestapo) bildeten eine Neben-regierung, die mächtiger ist als die eigentliche Regierung, deren Organe häufig mit verbissenem Ingrimm gegenüber der „Parteiwirtschaft“ den kürzeren ziehen. Da die Parteiinstanzen berechtigt sind, auch Nichtparteigenossen vor ihr Forum zu laden, und über alle Fragen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens gehört werden müssen, sind sie allgemein gefürchtet und gehören zu den Einrichtungen, die man am liebsten meidet. Diese Doppelregierung hat den weiteren Nachteil, daß einer dem anderen für ergangene Anordnungen die Verantwortung zuschiebt. Dies äußert sich ganz besonders in jüdischen Angelegenheiten. Ganz oft kam es vor, daß die Polizeibehörde hinsichtlich einer neuen Maßnahme erklärte, sie wisse gar nichts von der Sache. Sie habe überhaupt nichts damit zu tun, das könne nur von der Partei ausgegangen sein, während diese die Polizei verantwortlich machte.

Daß die Zwangswirtschaft und Rationierung aller Güter allenthalben Mißstimmung verursacht, wissen wir aus den Jahren 1914-18. Sie ist jetzt wieder in mindestens gleichem Maße vorhanden. Die Hausfrau, besonders die in der Stadt, ist übelgelaunt, wenn sie übernächtigt, nach stundenlangem Umherirren und Anstehen, das, was ihr markenmäßig zusteht, ergattert hat und sorgenvoll feststellen muß, daß das wenige nicht ausreicht, ihrem schwer arbeitenden Mann und ihren heranwachsenden Kindern ein kräftiges, bekömmliches Essen vorzusetzen. Bei mancher, die bisher in der „Frauenschaft“ mit Eifer mitgearbeitet hatte, ist bereits eine Ernüchterung eingetreten.

Mißgestimmt ist auch die Bauersfrau, deren Mann im Kriegsdienst steht und die jetzt allein das Gut bewirtschaften muß.

Der Arbeiter geht schlaftrunken, abgehetzt und ungenügend ernährt zur schweren Arbeit, die ihn in der Regel 10 Stunden, häufig noch mehr, beansprucht, und für die er einen geringen Lohn erhält, von dem ihm lA bis 16 für Steuern, Versicherungen, Abgaben an die Partei usw. einbehalten werden. Auch die Nährmittel, die er als Schwerarbeiter zusätzlich bekommt, reichen nicht aus, um ihn seinen Leistungen entsprechend bei Kräften zu erhalten. Er weiß, daß er im Dritten Reich nichts anderes als ein rechtloser Lohnsklave geworden ist, und sieht die Arbeitsfront als eine von der Regierung geschaffene Peitsche an, durch die er niedergehalten werden soll. Den nationalsozialistischen Schlagworten mißtraut er. Ich hörte, wie ein Arbeiter zu einem anderen in gut süddeutschem Dialekt sagte: „Geh mir weg mit Deiner Volksgemeinschaft, des ist ein uffgelegter Schwindel.“ Ein anderer sagte: „Es mag ausgehen, wie es will, der Arbeiter muß die Zeche bezahlen.“ Der Bauer ist unzufrieden, weil er über das, was er dem Boden abgerungen hat, nicht mehr frei verfügen darf, und nach seiner Meinung zu viel abliefern muß. Die „Bauernschaft“ sieht er als eine Einrichtung an, die nur geschaffen wurde, um ihn zu schädigen. Der Ortsbauernführer ist sein größter Feind, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hat. Der Handwerker ist unzufrieden, weil er infolge Materialknappheit überall behindert ist und ihm die Hilfskräfte fehlen. Die Arbeiter, die ihm geblieben sind, sind minderwertig und machen, was sie wollen. Mit besonderer Wut spricht er vom Innungsmeister, der nach seiner Ansicht in die eigene Tasche arbeitet.

Der Einzelhändler ist unzufrieden, weil er sich durch die täglich neu erfolgenden, sich vielfach widersprechenden Anordnungen behindert sieht und immer mehr mit unproduktiver Arbeit belastet wird. Er ist, wie ich aus eigenem Munde hörte, kein Kaufmann mehr, sondern nur noch Verteiler, der gewärtig sein muß, daß ihm wegen irgendeines Verstoßes der Laden geschlossen wird.

Der Industrielle ist unzufrieden, weil er in seinem Betriebe nichts mehr zu sagen hat. Einige seiner Angestellten sind ständig damit beschäftigt, die neu erlassenen Anordnungen der Behörde zu studieren und durchzuführen. (Das Tempo, mit welchem die Gesetzgebungsmaschine arbeitet, läßt sich ermessen, wenn man den Umfang des „Reichsgesetzblattes“ und anderer Nachrichtenblätter der Behörden der letzten 7 Jahre mit dem der früheren Jahre vergleicht.) Die „Arbeiterfront“ übt fortgesetzte Kontrolle über seinen Betrieb aus. Ohne ihren Willen ist er außerstande, Arbeiter einzustellen oder zu entlassen. Aber auch unter den geistigen Arbeitern, soweit sie nicht öffentliche Beamte sind, besteht eine Mißstimmung. So klagte mir ein Herr aus einer kleinen Stadt, der sich seit langem mit Heimat- und Familienforschung befaßte, über den Tiefstand der gegenwärtigen Fachzeitschriften. Ich sagte ihm: „Ihr habt es ja eigentlich so gewollt“, worauf er erwiderte: „Nein, so haben wir es nicht gewollt!“

Wie weit die Behandlung der Kirchenfrage die Unzufriedenheit in allen Volkskreisen erhöht, das läßt sich, wie bereits bemerkt wurde, nicht angeben.

Haß und Unzufriedenheit erregt auch in weitesten Volkskreisen die Leichtfertigkeit, mit der der Nationalsozialismus mit dem Menschenleben umgeht. Vollziehungen der Todesstrafe waren lange Zeit alltägliche Vorgänge.

Ganz besonders aufreizend wirkte die Tötung vieler Geisteskranker, Idioten, Epileptiker und sonstiger nicht Vollsinniger in Anstalten, die durch Einspritzungen aus dem Leben geschafft wurden. Den Angehörigen wurde kurzerhand das Ableben mitgeteilt. (Diese Nachricht ist absolut zuverlässig.) Auch die vielen Unfruchtbarmachungen, wovon viele dem Nationalsozialismus mißliebige Personen betroffen wurden, sind ein Kapitel, über das man häufig abfällige Urteile hört.

Über die Stimmung der Bevölkerung gegen die Regierung kann ich deshalb nicht urteilen, weil ich fast nur mit Personen Umgang hatte, die ihr feindlich gegenüberstanden. Die einzigen, die restlos für sie eintreten, sind die Nutznießer des Nationalsozialismus, die mit seiner Hilfe gute Posten ergatterten, während sie vordem vielfach zweifelhafte Existenzen waren. Und nun wollen sie den Platz an der Futterkrippe nicht verlieren. Das „Bonzentum“, das der Nationalsozialismus bei der Machtergreifung ausrotten wollte, ist seit 1933 üppig ins Kraut geschossen. Ein Geschäftsmann sagte mir: „Der Schmutz, der sich im Dritten Reich angesammelt hat, übersteigt jetzt schon den, den die Novemberverbrecher hinterließen.“

Das Verhalten der Bevölkerung bei Beginn und während des Krieges muß noch kurz gestreift werden. Als im September 1939 der Krieg ausbrach, merkte man nichts von der Begeisterung, wie wir sie in den ersten Augusttagen 1914 erlebt haben. Mit ängstlicher Spannung lauschte man den Rundfunkmeldungen und hoffte sehnlichst, daß der Frieden erhalten bliebe. Der überwiegende Teil der Bevölkerung wollte keinen Krieg. Noch viele hatten die Jahre 1914-18 miterlebt und kannten die Leiden, die jene Zeit gebracht hatte, noch zu genau. Auch der waffenfähigen Jugend fehlte jede Begeisterung. Sie beugte sich dem starken Druck. Man erkannte in weiten Kreisen der Bevölkerung, daß der Krieg von Hitler lange vorbereitet und im vermeintlich günstigen Augenblick frivol unternommen wurde. Wenig Begeisterung riefen auch die Erfolge der deutschen Waffen im Sommer 1940 hervor. Man beflaggte die Häuser, weil es so vom Reichspropagandaminister angeordnet worden war. Die innere Teilnahme fehlte. Jeder dachte an seine Angehörigen an der Front, an die Schwierigkeiten zu Hause und wünschte ein baldiges Ende des „Schwindels“, einerlei, zu wessen Gunsten es auch ausgehe. Eine siegesstarke Zuversicht, wie sie namentlich bei der Beamtenschaft zum Ausdruck kommt, scheint das Ergebnis einer Propaganda zu sein, die, von der Partei betrieben, die Stimmung der öffentlichen Meinung hochhalten möchte. Wie weit es mit der Siegeszuversicht im arbeitenden Volke bestellt ist, beweist folgender Einzelfall:

Ein jüdischer Arbeiter besprach mit dem Vorarbeiter die politische Lage und sagte: „Jetzt wird der Krieg doch hoffentlich bald zu Ende sein.“ - „Da sind Sie aber im Irrtum“ -sagte dieser. „Der Krieg fängt erst richtig an. Warten Sie ab, wenn im Frühjahr die englischen und amerikanischen Flieger über uns wegsausen, dann haben wir nichts zu lachen. Dann werden wir es so bekommen, wie wir es verdient haben.“

Zusammenfassend läßt sich feststellen:

Es besteht in Deutschland in weiten Kreisen der Bevölkerung eine sehr große Unzufriedenheit gegen die Regierung. Die durch die Partei und die Gestapo jedem einzelnen angelegte Zwangsjacke macht es jedoch unmöglich, daß diese Mißstimmung deutlich zum Ausdruck kommt und daß sich die Menge zur gemeinsamen Abwehr zusammenfindet. Ob man geheim irgendwelche Propaganda zu diesem Zweck betreibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Regierung mag die Volksstimmung nicht unbekannt sein. Sie sucht die Erbitterung der Massen durch eine Judenhetze abzulenken, die beispiellos in der Geschichte ist. Durch das Schlagwort: „Es gibt keine anständigen Juden“, das durch die Partei in die entlegensten Gegenden getragen und an alle Kreise als Parole ausgegeben wurde, wurden die Juden als minderwertig erklärt. Beamten und deren Angehörigen wurde der Verkehr mit Juden unter Androhung der Disziplinierung verboten, ebenso auch der Einkauf in jüdischen Geschäften. Systematisch ging die Partei vor, Juden aus allen Ämtern, allen Zweigen des wirtschaftlichen Lebens und den freien Berufen zu verdrängen. Ein großer Teil der nichtjüdischen Bevölkerung ließ sich trotz aller Drohungen und Gewaltmittel nicht davon abhalten, weiter mit Juden geschäftlich und privat zu verkehren, bis Reichsminister Funk 1938 die Juden auf dem Wege der Gesetzgebung zwangsweise aus der Wirtschaft beseitigte. Welch himmelschreiendes Unrecht mit Hilfe der deutschen Gesetze bei der sogenannten Arisierung der Geschäfte sowie beim Verkauf des ganzen Eigentums Juden zugefügt wurde, kann hier nur angedeutet werden. Eingehend muß dieser Gegenstand erst in einer Zeit behandelt werden, in der die Gerichts- und andere Archive wieder zur freien Benutzung zugänglich sind. Jener Zeit muß auch die Darstellung der Vorgänge überlassen werden, die sich am 9. und 10. November 1938 in Deutschland zutrugen, angeblich von der Volksmenge hervorgerufen, in Wirklichkeit vom Nationalsozialismus von langer Hand vorbereitet und bis ins einzelne angeordnet. Es sei nur festgehalten, wie in jenen Tagen in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald u. a. Zehntausende jüdischer Männer verbracht, vielfach infolge erlittener Mißhandlungen sterbend eingeliefert wurden und Tausende unter unsäglichen Qualen den Tod fanden; wie vieler Juden Hab und Gut in ihren Wohnungen und Geschäften in sinnloser Weise zerstört wurde, wie fast alle jüdischen Gotteshäuser in Flammen aufgingen und mit ihnen Dinge, die jedem Juden heilig sind und deren Wert vielfach in künstlerischer und historischer Hinsicht unersetzlich war.

Tränenden Auges stand ich vor den Trümmern der ehrwürdigen Synagoge in Worms, deren 90ojähriges Bestehen im Jahre 1934 gefeiert wurde; tiefe Wehmut überkam mich jedes Mal, wenn ich im Vorbeifahren von der Hochbahn aus das gesprungene, rauchgeschwärzte Mauerwerk des prächtigen Tempels in der Fasanenstraße in Berlin erblickte. Als letztes Glied in der Leidenskette der deutschen Juden - ob es das allerletzte sein wird, weiß nur Einer - ist die Verbringung der Juden in Stettin im Frühjahr 1940 nach Lublin zu verzeichnen, der am 22. Oktober 1940 die Evakuierung der Juden aus Baden und der Rheinpfalz nach dem Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen folgte. Als ich Ende 1940 Deutschland verließ, lebten im Altreich noch etwa 150000 Juden, hiervon mehr als die Hälfte in Berlin, wohin im Laufe der letzten Jahre viele aus allen deutschen Gegenden übergesiedelt waren. Der weitaus größte Teil sind Menschen, die das fünfzigste Lebensjahr überschritten haben. Ihre Lage war in jeder Hinsicht eine überaus traurige. Nur ein geringer Teil besaß noch das Vermögen, das zum Lebensunterhalt nötig ist. Die meisten zehrten ihren Besitz nach und nach auf und lebten in der dauernden Sorge, eines Tages vis ä vis de rien zu stehen, oder, falls sie zur Auswanderung gelangen sollten, mittellos zu sein. Die wenigen Reichen, deren Zahl ständig abnimmt, sind nicht imstande, für die Besitzlosen einzutreten, deren Zahl ständig größer wird. Die öffentliche Wohlfahrt ist für Juden gesperrt. Die private Wohltätigkeit ist dadurch eingeengt, daß so ziemlich alle jüdischen Vermögen durch die Devisenstellen der Finanzämter gesperrt wurden und jedem von seiner Bank nur so viel ausgehändigt werden darf, wie ihm für den monatlichen Verbrauch bewilligt wurde. Auch Gehälter und Löhne sind für Arbeitnehmer auf solche Sperrkonten durch den Arbeitgeber zu überweisen. Die Bedürftigen werden von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland versorgt, die für Wohlfahrts- und Auswanderungszwecke ein beschränktes Besteuerungsrecht besitzt und an die die Auswanderer, bevor sie Deutschland verlassen, eine Auswandererabgabe zu entrichten haben, die nach der Höhe des Vermögens bemessen wird. Die Reichsvereinigung ist eine von der Reichsregierung anerkannte Stelle, an die die Behörden, besonders die Gestapo, Weisungen ergehen lassen, die die Juden in Deutschland betreffen, und für deren Vollzug sie verantwortlich ist. Manchen der leitenden Männer sind aus ihrer Tätigkeit schon große Schwierigkeiten erwachsen; einzelne waren schon wochenlang aus nichtigen Gründen in Haft. Da es an Arbeitskräften auf allen Gebieten fehlt, wurden im Sommer 1940 sehr viele Juden in den Arbeitsprozeß eingegliedert. Besonders war dies in Berlin der Fall, wo über 20 000 jüdische Männer und Frauen in Fabriken und sonstigen Betrieben angestellt waren. Im Oktober 1940 sprach man davon, daß deren Zahl noch wesentlich erhöht werden sollte. Männer sollten bis zum sechzigsten und Frauen bis zum fünfzigsten Lebensjahre herangezogen werden. Es ist begreiflich, daß es viele dieser Zwangsarbeiter, denen die neue Tätigkeit völlig fremd und ungewohnt war, große Anstrengungen kostete, sich zurechtzufinden. Viele brachen nach kurzer Zeit zusammen und wurden krank, andere fühlten sich jedoch, sobald sie an die neue Lebensweise gewöhnt waren, wohl und waren froh, daß sie nicht müßig gehen brauchten und auch etwas Geld verdienten. Die Löhne bewegten sich vielfach nicht ganz in der Höhe der der nichtjüdischen gleichartigen Arbeiter. Über die Behandlung seitens der Arbeitgeber und anderer wurde wenig Klage geführt. Auch soll das Verhältnis zu den übrigen Arbeitsgenossen durchweg ein günstiges sein. Nur einige Kassenärzte sollen erkrankte Leute kurzerhand für gesund erklärt haben, auch wenn ihre Arbeitsunfähigkeit noch so offenkundig zutage trat.

In Berlin wurde von Fällen berichtet, in denen nichtjüdische Arbeiter ihren Werksgenossen, denen keine Schwerarbeiter-Zulage bewilligt wurde, Milch und andere Lebensmittel zukommen ließen.

Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung sind die Juden, wie schon erwähnt wurde, wesentlich schlimmer dran als die andere Bevölkerung. Für sie gibt es keine Kleiderkarten und Bezugscheine für Schuhwerk. Diejenigen, welche anfangs in der Bezugscheinstelle wegen einer Anweisung für Kleider oder Schuhe vorsprachen, wurden mit der Bemerkung abgelehnt: „Geht zu Chamberlain, der soll auch für Schuhe und Kleider sorgen.“ Größere jüdische Gemeinden richteten Kleider- und Schuhkammern ein, wohin die reichlicher Versorgten, besonders die Auswanderer, das Entbehrliche ablieferten, von wo aus es an diejenigen abgegeben wurde, die es nötig brauchten. Für Juden gab es auch keine Sonderzulagen für Lebensmittel, z. B. Bohnenkaffee, der aus den von Holland nach Deutschland verbrachten Beständen kurze Zeit ausgegeben wurde, usw.

In manchen Städten dürfen Juden nur in bestimmten Geschäften kaufen; in anderen zu bestimmten Zeiten. In wieder anderen war beides vorgeschrieben. In Berlin war die Einkaufszeit von 16 -17 Uhr. Geschäftszwang bestand nicht. Das, wofür der nichtjüdischen Hausfrau der ganze Tag zur Verfügung steht, muß die jüdische in einer Stunde erledigen. Mit welcher Eile sich die jüdische Frau zum Einkauf begibt und wie erschöpft und abgehetzt sie wieder nach Hause kommt, erübrigt sich zu schildern. Der Geschäftsmann, der außerhalb der angegebenen Zeit an Juden oder für Juden Ware abgibt, hat Schließung seines Betriebes zu gewärtigen.

Besonders schlimm war es in Berlin für den, der bei der Abgabestelle für Lebensmittelkarten zu tun hatte. Meine Frau befand sich einmal in dieser unangenehmen Lage. Die betreffende Stelle war zweimal wöchentlich für Juden, und zwar in einem gesonderten Raum, geöffnet. Als meine Frau gegen 9 Uhr hinkam, hatten sich im Hofe schon mindestens 100 Personen in zwei Reihen aufgestellt. Die vordersten standen auf der Treppe, die zum Amtszimmer führte. Die übrigen mußten bei empfindlicher Kälte stundenlang warten und langsam nachrücken. Als meine Frau die oberste Treppenstufe erreicht hatte und vor dem Dienstraum stand, schlug es 12 Uhr und das Büro wurde geschlossen. Einen zweiten Versuch, dort anzukommen, unterließ sie.

Da den Juden der Besuch von Gaststätten, Kinos, Theatern, Museen sowie die Benutzung öffentlicher Büchereien verboten ist, fehlt es an geistiger Anregung und Erfrischung. Das gesellschaftliche Leben verbietet sich infolge der Verordnungen gegen Fliegerangriffe von selbst sowie auch durch die Anordnung, daß Juden nach 20 Uhr der Aufenthalt auf der Straße untersagt ist. Eine gegenseitige Fühlungnahme durch den Fernsprecher ist unmöglich. Ab 1. Oktober wurden allen Juden, mit nur geringen Ausnahmen, die Telephonanschlüsse entzogen. Hier ist auch zu bemerken, daß ihnen bei Reisen der Aufenthalt im Speisewagen und die Benutzung des Schlafwagens untersagt wurde. In Berlin gibt es wohl jüdische Lichtspielstätten, von Juden und für Juden veranstaltete Theateraufführungen und Konzerte, die aber nicht stark besucht werden. Es ist begreiflich, daß Abgehetzten und Abgearbeiteten nicht der Kopf nach solchen Veranstaltungen steht, die von der Gestapo genehmigt und überwacht werden.

Die einzige noch erscheinende jüdische Zeitung, das „Jüdische Nachrichtenblatt“, macht einen kläglichen Eindruck. Bedauernswert ist der ständig mit beiden Beinen im Zuchthaus stehende Schriftleiter, der nur das bringen darf, was die Gestapo gestattet oder ihm zur Veröffentlichung auferlegt. Als z. B. in einem jüdischen Altersheim in Berlin eine englische Bombe niederging, mußte das Nachrichtenblatt ausführlich berichten, mit welchem Eifer die deutsche Feuerwehr den durch englische Flieger im jüdischen Altersheim verursachten Brand löschte.

Ebenso traurig wie mit der Pflege der kulturellen Belange ist es mit dem religiösen Leben bestellt. In den meisten Orten, wo noch Juden leben, kann kein Gottesdienst abgehalten werden, weil es an Gebetsstätten, an Vorbetern und Rabbinern fehlt. Nur in größeren Städten besteht noch die Möglichkeit. In Berlin sind noch Gotteshäuser erhalten geblieben, wovon jedoch einzelne für die Heeresverwaltung als Bekleidungsämter u. a. beschlagnahmt wurden. Trotzdem war es noch möglich, daß für einen großen Teil der Juden in Berlin immer noch ein geregelter Gottesdienst stattfinden kann. Die Sorge um die Sicherheit und das Leben der Juden hatte die Gestapo allerdings an den Herbstfeiertagen zu der Anordnung veranlaßt, daß nicht mehr Personen zu gleicher Zeit in den Synagogen sein dürfen, als in den zu ihnen gehörigen Luftschutzräumen Platz fanden. Immerhin ist den Juden in Berlin und Orten, wo noch eine Vielzahl vorhanden ist, eine Spur religiösen Lebens erhalten geblieben. Beklagenswert hingegen ist das Los der vereinzelten Personen, die noch in kleineren Orten wohnen, wo ihnen jeglicher religiöser Zuspruch fehlt, wo es schwer fällt, Tote zu bestatten, weil niemand die Leiche zum Friedhof bringen will und weil die Friedhöfe, darunter solche, die seit Jahrhunderten bestehen, vielfach geschändet und verwüstet sind.

Auch fehlt es den Juden vielfach am nötigen Wissen und der inneren Sammlung. Während sich die Vorfahren durch ihr Festhalten an der Tradition eine Standhaftigkeit erwarben, die ihnen den Druck von außen als eine „wegen ihrer Sünden“ auferlegte Prüfung erscheinen ließ, sie aber auch mit Opferwillen und stolzem Trotz erfüllte, ist das heutige traditionslose Geschlecht vielfach kleinlich und verzagt. Es hadert mit sich selbst, mit der Welt und Gott. Es empfindet seine Abstammung als lästige Fessel, die es, wenn es ginge, am liebsten abstreifen möchte.

Nur hinsichtlich der steuerlichen Leistungen steht der Jude auf höherer Stufe als die Nichtjuden. Jeder einkommensteuerpflichtige Jude wird nach dem für Junggesellen vorgesehenen erhöhten Steuersatz eingeschätzt. Auch die Vermögenssteuer beginnt für ihn mit einer niedrigeren Vermögenssumme als für andere Steuerzahler. Neuerdings wurde für Juden die Einkommensteuer um RM 15 % erhöht. Und zwar soll dies, wie die Begründung dieser Anordnung angibt, ein Ausgleich für die „soziale Minderwertigkeit“ der Juden sein. Die New Yorker Staats-Zeitung und Herold bemerkte in einer Briefkastennotiz hierzu: eine angebliche Minderwertigkeit ließe sich durch Geld nicht ausgleichen. Die Maßnahme sei nichts anderes als eine Erpressung.

Die gegenwärtige Lage der Juden in Deutschland ist schlimmer als die ihrer Vorfahren im Mittelalter. Damals gab man ihnen wenigstens die Möglichkeit, das zu erwerben, was für den Lebensbedarf und ihre mannigfachen Abgaben nötig war. Damals genossen sie Rechtsschutz. Man störte selten ihre religiösen Belange und ließ es zu, daß ihre Häuslichkeit durch eine tiefinnere religiöse Weihe verklärt war. Das heutige Geschlecht kann infolge seiner verfehlten Erziehung, die aus einer falschen Weltanschauung hervorging, seine Behausung wohl noch als einzigen Ort, der ihm Frieden und Ruhe gewährt, ausgestalten, aber nicht zu einer Stätte, in der jüdisches Wissen und jüdische Religion gewährt werden. Die Erlebnisse der letzten Jahre haben den deutschen Juden zu einem scheuen Wesen gemacht, das, wie die Thora sagt, „ein wehendes Blatt erschrickt.“ Eine Angstpsychose lastet auf allen, die jeden Tag andere Gerüchte von neu bevorstehenden Maßnahmen erdichtet, und diese Gebilde der überreizten Phantasie werden unbesehen geglaubt und in erweiterter Form mit Windeseile verbreitet. In Berlin bezeichnet man solche Meldungen als „den Jüdischen Mundfunk“.

Wie niederdrückend die Nachricht von der Evakuierung der Juden in Baden und in der Pfalz wirkte, läßt sich nicht schildern. Ein lähmender Schrecken lastete auf allen. In Berlin verbreitete der Mundfunk, daß auch die Glaubensgenossen in Württemberg, Hessen, Frankfurt und im Rheinland das gleiche Schicksal getroffen habe und daß die Judenschaff allenthalben sich darauf gefaßt machen müßte, Haus und Hof zu verlassen. Vorsichtshalber suchte man alle für das Flüchtlingslager nötigen und wichtigen Sachen zusammen und verpackte sie.

Nach dem Bekanntwerden des über die badischen und pfälzischen Juden hereingebrochenen Unglücks schrieb die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland für die Juden in Berlin einen Fasttag aus, wurde aber von der Gestapo mit einer Geldstrafe belegt, weil diese Anordnung ohne ihre Genehmigung getroffen worden war. (5 oder 6000 RM.) Ihren Höhepunkt erreichte die Angstpsychose Anfang November 1940. Gerüchte kamen in Umlauf, am 10. November würden Massenverhaffungen vorgenommen, auch seien Haussuchungen durch die Gestapo im Gange, die es auf die Lebensmittelvorräte und Wäsche der Juden abgesehen hat. Viele jüdische Männer verließen damals Berlin, um sich bei arischen Bekannten zu verbergen. Bei solchen wurden auch Geld, Lebensmittel und Wäsche versteckt. Der 10. November kam heran, und es ereignete sich glücklicherweise nichts besonderes.

Die von den Drahtziehern des Nationalsozialismus eingeleitete und durchgeführte Judenpolitik wird keineswegs von der Gesamtbevölkerung gutgeheißen. Wenn auch die Geistlichkeit aller Konfessionen, die Universitätsprofessoren, die höchsten Richter und andere Prominente zu Beginn der Bewegung nicht den Mut aufbrachten, öffentlich gegen diese Ungeheuerlichkeiten Stellung zu nehmen, so gibt es doch weite Kreise, die dieses Treiben mit Abscheu und Ekel erfüllt. Dies trat ganz besonders am 10. November 1938 zutage, wo das Wüten der wildgewordenen SA- und SS-Männer die anständig gesinnte Bevölkerung mit Entsetzen erfüllte. Man hörte häufig von Nichtjuden: Das, was den Juden geschehen ist, werden unsere Kinder büßen müssen. Rührende Beispiele edler Hilfsbereitschaft von Nichtjuden gegenüber jüdischen Freunden und Bekannten ließen sich beibringen. In vielen Fällen schützten Arier das Leben und das Vermögen von Juden und versorgten sie mit Speise und Trank in den Tagen, an denen sie nirgends etwas verabreicht bekamen. Man sagte in jüdischen Kreisen mit Recht: Wenn die ganze Bevölkerung so wäre, wie ihre Führer, wären wir schon längst alle totgeschlagen worden. Noch heute gibt es kaum einen Juden in Deutschland, der nicht einen oder mehrere christliche Freunde hat, die ihm, soweit sie es tun können, helfend beistehen. Ganz besonders ist dies an kleineren Plätzen der Fall. Viele Nichtjuden ergreifen gerne die Gelegenheit, bei Juden ihrem Unmute gründlich Luft zu machen. Sie wissen, daß sie dies tun können, ohne denunziert zu werden.

Erstaunlich ist auch, daß die meisten Nichtjuden überhaupt nicht wissen, welche Maßnahmen gegen die Juden getroffen worden sind. Wenn man ihnen z. B. erzählt, daß alle Juden ihre Silber-, Gold- und Schmucksachen abliefern mußten, so halten sie dies für ein Greuelmärchen. Auswandernde Juden, besonders solche, die seit Menschengedenken am Platze seßhaft waren, sieht man einerseits mit Bedauern scheiden, andererseits beneidet man sie, weil sie die Möglichkeit haben, aus diesem unerträglichen Zustand herauszukommen. Daß der Antisemitismus nicht mehr so zieht wie vor wenigen Jahren, sieht man auch daran, daß „Der Stürmer“ nicht mehr die Rolle spielt wie am Anfang des nationalsozialistischen Regimes. Seine ständig wiederkehrenden Ritualmorde und sonstigen Greuelmärchen verfangen nicht mehr wie früher. Er muß wohl noch von allen Dienststellen und Betrieben bezogen werden, wird aber vielfach nicht mehr gelesen.

Selbst unter dem vollständig versklavten Beamtentum - namentlich unter den ältern, die noch andere Zeiten gesehen haben - gibt es noch Personen, denen die Behandlung der Juden zuwider ist und die ihnen, soweit es ihnen die angelegten Fesseln möglich machen, gerne behilflich sind. Andere Beamte - es gibt deren in der unteren, mittleren und oberen Schicht - sind ebenfalls gefällig, wenn man es versteht, in einem geeigneten Augenblick einen der Leistung und dem Rang entsprechenden Geldschein unbemerkt ihm zuzustecken. Auch im Dritten Reich fährt derjenige gut, der gut zu schmieren versteht.

Ich selbst konnte die Formalitäten für meine Auswanderung reibungslos erledigen und fand bei allen Dienststellen weitgehendes Entgegenkommen. Nur die jungen Beamten, die auf den Krücken der Partei in ihre Stellungen gekommen sind, sind mehr oder weniger unnahbar und suchen am Juden ihr Mütchen zu kühlen. Solche Trauergestalten traf man vielfach in Berlin. Dort gibt es junge Beamte, die von der gesamten Judenschaft gefürchtet sind.

Mit Gottes Hilfe, die ersichtlich über uns waltete, konnten meine Frau und ich aus Europa scheiden und in das Land der Freiheit gelangen.

Meine Erinnerung an mehr als 50 glückliche Jahre nehme ich mit in die neue Welt, ebenso an die Schreckenstage seit 1933. Sie verfolgen mich in meinen Träumen, voll Kummer denke ich derer, die noch in Deutschland leben müssen und sich nach Erlösung sehnen, ganz besonders aber der vielen Bekannten und Freunde, die im Camp de Gurs schmachten. Ihnen rasche Hilfe bringen zu können, das wäre mein sehnlichster Wunsch.

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