Lebensbedingungen in München und Berlin
Ein anonymer Verfasser schildert am 16. Juni 1940 die Lebensbedingungen für Juden in München und Berlin:
Meine Lieben!
... Am 7.5. verließ ich München, war bei G. noch einen Tag und besuchte mit ihr ihre Freunde und arischen Verwandten, bei denen sie aus- und eingeht. Sie ist noch am besten von allen untergebracht, hatte stets genug zu essen und schickte noch viel an uns nach Berlin. Auch wir kamen dort ja durch, aber der Einkauf selbst der einfachsten Gemüse war ein täglicher Kampf, der für die Juden noch schwieriger wurde, da sie Lebensmittelund auch einen großen Teil anderer Läden - in den letzten Monaten erst nach 12 Uhr betreten durften. Zwar hoben sehr viele Kauf- und Marktleute Ware für ihre alte jüdische Kundschaft auf, und es spielten sich überhaupt sehr viel rührende Szenen ab, da die Geschäftsleute im allgemeinen sehr verbittert waren, aber viele mußten doch unter diesen Zuständen leiden.
In München gab es viel mehr und ohne stundenlanges Anstehen zu kaufen, aber hier mußten die Juden ihre Lebensmittel nur in wenigen Geschäften kaufen, die hierfür extra ausgesucht wurden, und aus ihren Wohnungen wurden sie ausgewiesen oder auf einzelne Zimmer beschränkt, nebst anderen Schikanen. Dazu wurden in allen kleineren und mittleren Städten sämtliche Vermögen beschlagnahmt und nur wenig Geld zum Leben freigegeben. In Berlin war dies nicht so allgemein, wenn auch der größte Teil der vermögenden Leute davon betroffen wurde.
Ich fürchte, daß die Lebensmittel während der letzten Offensive noch mehr den Städtern entzogen wurden, da ja alles Verfügbare an die Front ging, wo alle Soldaten gut verpflegt wurden. Nun, es wird immerhin auszuhalten sein, zumal durch die Invasion in Frankreich nun wohl wieder neue Reserven für Militär und Zivilbevölkerung geschaffen wurden und weitere Vorräte nach dem Erliegen Frankreichs ja nicht mehr geschaffen zu werden brauchen. Auch sonst gab es übrigens fast nichts mehr zu kaufen. Kein Geschäft konnte mehr existieren, das nichts zuzusetzen hatte. Die Industrie war restlos auf Kriegsoder Frontbedarf umgestellt, und es wird Monate brauchen, bevor wieder die Privatindustrie in Gang kommen wird, besonders wenn England nicht nachgibt. Die Juden wurden, gerade als ich wegging, aufgefordert, sich beim Arbeitsnachweis zu stellen: Männer bis zu 55, Frauen bis zu 50 Jahren. Vielen war dies angenehm, da sie ja nichts mehr zum Leben hatten, viele aber waren auch schon vorher in Arbeit in Fabrikbetrieben und Stra ßenbau, Schneeschippen im Winter etc. Nun ist ja leider zu befürchten, daß sämtliche Juden wieder aus allen Betrieben herausgeworfen werden, um den zurückströmenden Massen Platz zu machen. Noch furchtbarer, wenn gleichzeitig eine allgemeine Evakuierung nach polnischen Gegenden eintreten würde. In welches Elend s.Z. die Juden aus Stettin hineingepfercht wurden, ist grausig. Mitte Mai sind ja inzwischen auch die Juden aus Ost-Oberschlesien in die Umgebung von Krakau oder sonstwohin gebracht worden. Diese Umsiedlungen drohten ja dauernd über uns hereinzubrechen und wurden wohl stets nur abgesagt, weil man doch noch die Juden zur Arbeit heranziehen wollte. Vielleicht ist inzwischen diese Umsiedlung besser vorbereitet worden, so daß in den neuen Gebieten ein Aufbau möglich ist. Aber auch alte und kranke Leute wurden bisher ohne Rücksicht verschickt. E. zitterte besonders darum, weil sie in Breslau noch schärfer bedrängt wurden und vor die Gestapo geladen wurden, um zur Auswanderung gepreßt zu werden ...
G., die in München durch die frühere Mischehe fast den Ariern gleichgestellt ist, auch [eine] Kleiderkarte erhielt, während das für die ändern Juden ein bitterer Mangel war, da sie ja nicht einmal Zwirn und Stopfzeug bekamen (erst in letzter Zeit ein wenig), wird wahrscheinlich auch bei einer Evakuierung nicht wegkommen ...
Bevor ich von hier zu berichten anfange, noch das folgende: In besseren deutschen Kreisen sagte man: Den eingebrockten Krieg müssen wir ja nun wohl oder übel gewinnen, aber dann muß das Hitler-System verschwinden ...
Mit herzlichen Grüßen rundum Euer F.