Leben im Lager Salaspils
1949 legte Alex Salm (vermutlich im Rahmen seines Wiedergutmachungsverfahrens) folgende Erlebnisse im in der Nähe von Riga gelegegen Lager Salaspils nieder, in dem er von Dezember 1941 bis Mai 1942 interniert war:
Alex Salm Wegberg, den 18. Mai 1949.
Wegberg (22c)
Venloerstr. 6
An den
Magistrat von Groß-Berlin
Büro des Oberbürgermeisters
Hauptamt Opfer des Faschismus II
Berlin N 4
Oranienburgerstr. 28
Betr.: Ihr Schreiben vom 12. Mai 49 OdF II Ei/Ka AK-Vorordn.
Zimmer 29
Nachstehend gebe ich Ihnen einen Bericht der damaligen Geschehnisse, bitte Sie jedoch gleichzeitig, mir über das weiter geschehene Nachricht zukommen zu lassen. Der Zeitraum meiner Schilderung erstreckt sich von Dezember 1941 bis Mai 1942.
Ich befand mich seinerzeit im Lager Salaspils, etwa 20 km von Riga entfernt. Dr. Lange der damalige Kommandeur SD Lettland kam fast jede Woche Sonnabends oder Sonntags nachmittags allein oder auch mit anderen SS-Offizieren ins Lager. Wenn er jemanden von uns Häftlingen sah, der nicht emsig arbeitete so schoß er diesen auf Ort und Stelle nieder. Zwei Fälle habe ich selbst mit angesehen. Ausserdem sind mir folgende Fälle besonders in Erinnerung.
Etwa Mitte Dez. 1941 waren zwei Jugendliche aus dem nicht umzäunten Lager entflohen. Diese beiden Kameraden hatte die SS in Riga wieder aufgegriffen. Das gesamte Lager mußte nun zur Erschießung bei ca 25 Grad C Kälte 4-5 Std. auf dem Lagerplatz stehen und auf Dr. Lange warten, der die Erschießung nach einer Ansprache an uns Häftlinge leitete. Damals gab uns Lange bekannt, daß für jeden Flüchtling, der nicht ergriffen würde, zehn Häftlinge aus unserer Mitte erschossen würden.
Dem zweiten Fall muß ich vorausschicken, daß die Kost im Lager Salaspils zu dieser Zeit und schon lange vorher aus folgendem bestand. (Etwa Febr. 42) ca. 300 gr. Häftlingsbrot und ¾ l Suppe deren Beschreibung unglaubhaft klingen würde. Weihnachten hatten wir 3 Tage kein Brot und Sylvester einen Tag.
Als derartig ausgehungerte Menschen wurden wir alle beordert, einen Gepäcktransport, (6 Waggons) Rucksäcke und Koffer Wiener Juden die sich nicht im Lager befanden, und die fast nur Lebensmittel enthielten, zu entladen und und mehrere hundert m ins Lager zu schleppen. Wir taten alle das in diesem Falle Natürlichste. Wir aßen von den Lebensmitteln. (Brot etc.). Plötzlich kam Dr. Lange mit dem Lagerältesten Einstein dazu, zog einen von uns der
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sich etwas Brot unvorsichtigerweise in die Tasche gesteckt hatte, aus dem Waggon und erschoß den Kameraden, nachdem er diesen die Taschen entleeren ließ. Dann ging er an den nächsten Waggon und holte einen zweiten Kameraden, Aaronsohn aus Hamburg, heraus und erschoß diesen, nachdem er durch den Lagerältesten dieses vorher durch Aufforderung: „Einstein, ruf aus, jetzt wird der zweite erschossen!” bekannt machen ließ. Sein drittes Opfer war Heinz Freund aus dem hiesigen Kreis gebürtigt und aus Rheydt deportiert. Auch dieses mußte Einstein vorher ausrufen. Die beiden letzten Erschießungen habe ich selbst gesehen, dagegen die des ersten Kameraden nicht.
Die nächsten Begebenheiten habe ich selbst ganz mit angesehen und benenne Ihnen hierfür folgende Personen als Zeugen:
Heinz Bärmann und Rudi Billig, Simmern/Hunsrück,
Artur Kann, die genaue Adresse können Sie bei Bärmann erfahren.
Siegfried Kaufmann, Korbach/Waldeck, als oberster Polizist des Lagers.
Max Leib bei Paul Kleinschmidt, RAANANA, Bramdaisstr. Israel.
Eines Tages (Anfang April 42) waren zwei Kameraden, Erich Kahn aus Köln und Ballon aus Brünn geflüchtet. Erich Kahn fing man wieder ein. Unter der Leitung Dr. Langes wurde er, nachdem das gesamte Lager angetreten war, gehängt. Vorher erhielt Kahn noch 30 Schläge mit einer geflochtenen Lederpeitsche auf Befehl Langes auf das nackte Gesäß. Der mit Kahn geflüchtete Ballon wurde nicht ergriffen. Dafür ließ Lange durch den Barackenältesten der Baracke 3 in der Ballon lag 10 Personen aus dieser Baracke zu Erschießung heraussuchen. Als diese beisammen waren, fragte Lange woher Ballon sei. Als man ihm sagte aus Brünn, fragte Lange weiter, wer von uns aus Brünn wäre. Es meldete sich ein Kamerad. Diesem ließ Lange mit den Worten: „Du hast ihn gekannt, Du Schwein.” ebenfalls 30 Schläge mit der Lederpeitsche auf das nackte Gesäß schlagen. Darauf ließ er den Kameraden durch die lettische SS-Lagerwache erschießen.
Daraufhin konnte das gesamte Lager außer derjenigen, die sich als Autoschlosser gemeldet hatten, wegtreten. Während wir, d. h. die vorhin erwähnten Kameraden außer Kaufmann, stehen blieben, geschah folgendes.
Der Kamerad Hans Hirschfeld aus Hannover wurde von Einstein und Kaufmann Dr. Lange vorgeführt. Er war von der lettischen Wache wegen versuchten Tauschhandels gemeldet worden, da ein Wachmann gesehen hatte, daß Hirschfeld zwei Röcke übereinander anhatte. Es war jedoch zu der Zeit noch so kalt, daß dieses gerechtfertigt war. Am 9. Mai 42 fiel in Riga noch Schnee. Der Posten nahm jedenfalls an, daß Hirschfeld die zweite Jacke gegen Lebensmittel vertauschen wollte. Als die Angelegenheit Lange vor-
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getragen wurde, ließ er Hirschberg sich umdrehen und hinknien. Er nahm seine Pistole heraus und zielte auf Hirschbergs Genick, überlegte es sich aber im Moment, ließ Hirschberg wieder aufstehen, sich Mantel und Rock ausziehen, damit diese nicht beschmutzt würden. Dann erschoß Lange den Kameraden, nachdem dieser sich wieder hingekniet hatte. Nach einigen Minuten stöhnte der Erschossene laut auf, da er offenbar nicht tötlich getroffen war. Nachdem der Lagerführer Oberscharführer Nickel herbeigerufen worden war, wurde Hirschberg erst durch diesen durch vier Schüsse getötet.
Ferner habe ich noch mehrere Erhängungen unter der Leitung Langes in Salaspils mitangesehen.
Ich versichere ausdrücklich, das vorstehende Angabe der Wahrheit entsprechen.
Salm