Oktober 1940
Am 7. Oktober flogen britische Bomber ihren bisher schwersten Luftangriff auf Berlin. Weitere Ziele der britischen Luftwaffe waren und blieben vor allem Großstädte und industrielle Ballungsgebiete wie Hamburg, München, Mannheim, insbesondere aber Köln und das Ruhrgebiet mit den besonders stark betroffenen Städten Duisburg, Gelsenkirchen und Essen. Vor diesem Hintergrund begann am 3. Oktober offiziell die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ (KLV), indem die ersten 3.000 Kinder aus Berlin und Hamburg in weniger von Bombenangriffen bedrohte ländliche Regionen evakuiert wurden.
Die zunehmende Zahl und Intensität von Alarmen und Angriffen provozierten immer neue Reaktionen von Regimeseite. So ordnete Reichskirchenminister Hanns Kerrl am 29. Oktober an, dass an Tagen nach nächtlichen Fliegeralarmen, Gottesdienste erst um 10 Uhr beginnen dürften – zugleich ein Affront gegen die Kirchen. Auch an der Effektivität der Verdunklungsmaßnahmen wurde gearbeitet. Seit dem 1. Oktober waren im Reichsgebiet Kraftfahrzeuge mit sogenannten Tarnscheinwerfern auszurüsten.
Andererseits war man bestrebt, die Bevölkerung zu beruhigen. So beurteilte Richard Walther Darre, Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, am 1. Oktober in einer Erklärung vor der Presse die Lebensmittellage im Deutschen Reich ausdrücklich als zufriedenstellend. In ähnliche Richtung zielte eine Erklärung von Reichskohlenkommissar Paul Walter vom 23. Oktober, in der er versicherte, dass alle Versorgungslücken bei den Kohlelieferungen rechtzeitig vor Winterbeginn geschlossen würden.
Ob das tatsächlich zur erwünschten psychischen Stabilisierung der „Heimatfront“ beitrug, muss zumindest in Teilen bezweifelt werden, denn nach Ablauf des 1936 in Kraft gesetzten Vierjahresplanes wurde Hermann Göring am 18. Oktober von Hitler mit der Durchführung eines weiteren, auf vier Jahre befristeten Wirtschaftsplans beauftragte, der eine neue Phase staatsmonopolistischen Wirtschaften einleiten und insbesondere die inländische Rohstoffbasis ausweiten sollte. Das „versprach“ neue Einschränkungen und Versorgungsengpässe. Fünf Tage später wurde als ein Beispiel von Rohstoffeinsparung dann in Berlin ein Holzgas-Omnibus mit einer Leistung von 75 PS vorgestellt, dessen Holzverbrauch bei etwa 80- 100 kg je 100 km liegen sollte.
Als eine Art Gegengewicht hatte Robert Ley als Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bereits am 9. Oktober in einer Rede vor Stettiner Industriearbeitern die Zeit nach dem Krieg in rosigen Farben dargestellt: „Jeder Deutsche wird seinen Urlaub so verbringen können, dass seine kühnsten Träume noch übertroffen werden.“
Im Oktober legte Dietrich Bonhoeffer, Mitbegründer der oppositionellen Bekennenden Kirche und seit dem Vormonat seiner Lehr- und Predigtbefugnis beraubt, das Schuldbekenntnis „Die Kirche bekennt“ vor. Darin hieß es unter anderem: „Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der keine anderen Götter neben sich leidet, nicht deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihre Zugeständnisse. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie.“
Zu diesen Unschuldigen zählten vor allem die Juden im Reichsgebiet und in den besetzten Gebieten. Zum einjährigen Bestehen des Gaus Danzig-Westpreußen erklärte etwa der NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Albert Forster am 13. Oktober: „Der Gau Danzig-Westpreußen kann mit Stolz von sich behaupten, dass er von den vier Ostgauen der einzige ist, der keine Juden mehr hat.“ In anderen Reichsteilen war man bestrebt, ihm nachzueifern. So wurde am 21. Oktober damit begonnen, mehr als 6.500 Juden aus Baden und Saarpfalz ins unbesetzte Südfrankreich zu deportieren. Dort wurden sie unter oft unmenschlichen in Internierungslagern – vor allem in Gurs - am Fuß der Pyrenäen untergebracht. Schon auf dem Transport und bald nach der Ankunft starben rund 2.000 der Verfolgten. Und jede Hilfestellung für die von den NS-Rassenideologen Verfolgten wurde genau beobachtet und barg Gefahren. Am 14. Oktober wurde beispielsweise ein Rechtsanwalt, der die Rechtsvertretung von jüdischen Bürgern übernommen hatte, vom Ehrengerichtshof der Reichsrechtsanwaltschaftskammer ausgeschlossen und so mit einem Berufsverbot belegt.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Am 7. Oktober wurde auf Anordnung des Reichsluftfahrtministeriums Juden der Zutritt zu öffentlichen Luftschutzräumen gewährt. Dieses Zugeständnis folgte aber nicht etwa mitmenschlichen Motiven, sondern wurde verfügt, „da andernfalls Unzuträglichkeiten zu befürchten sind, die sich auch auf die deutschblütige Bevölkerung nachteilig auswirken könnten“. Es war aber unbedingt darauf zu achten, „daß die Juden getrennt von deutschblütigen Insassen den LS-Raum benutzen können“.
Im Oktober wurde die Zwangsarbeit für Juden, die schon seit längerem über die offiziell verfügte Altersbegrenzung von 18 bis 55 Jahren ausgedehnt worden war, auch für jüdische Kinder unter 16 Jahren verfügt, die nunmehr zur Arbeit verpflichtet werden konnten.
Am 22. Oktober verbreiteten sich schlagartig Angst und Schrecken unter der noch im Reichsgebiet lebenden jüdischen Bevölkerung. An diesem und am folgenden Tag wurden nämlich zwischen 6.000 und 7.500 Juden aus Baden und Saarpfalz über Nacht ins unbesetzte Frankreich deportiert, von wo aus die weitaus meisten später in die Vernichtungslager im Osten weitergeschickt werden sollten. Bei dieser „Bürckel-Aktion“ genannten Maßnahme handelte es sich um die bis dahin mit Abstand größte Deportation von Juden aus Deutschland. Ähnlich wie bei späteren Massendeportationen entzogen sich zahlreiche Betroffene ihrem Abtransport durch Selbstmord. Zugleich wurde der jüdischen Bevölkerung ihre Hilf- und Rechtlosigkeit vor Augen geführt. Als die Reichsvereinigung der Juden gegen die Aktion scharfen Protest erhob, reagierte das Reichssicherheitshauptamt mit schweren Strafmaßnahmen gegen deren führende Vertreter. Alle jüdischen Gemeinden setzten als Ausdruck ihrer Trauer einen Fastentag an, Rabbiner beteten in den Gottesdiensten für die Deportierten, eine Woche lang fanden keine Kulturveranstaltungen statt.
Aber bereits im Oktober 1940 wurde überdeutlich, dass es sich bei der „Bürckel-Aktion“ wohl lediglich um einen Auftakt zu weitaus Schlimmeren handeln würde. Am 22. kündigte nämlich Himmler vor der NSDAP-Landesgruppe in Madrid die Abschiebung aller Juden aus dem Großdeutschen Reich in das Generalgouvernement an. „Alles fremde Volkstum“ sollte demnach dorthin umgesiedelt werden, „wobei die Juden in einem gesonderten Ghetto untergebracht werden sollen, und zwar alle Juden aus dem ganzen Großdeutschen Reich“.