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Chronik und Quellen
1940
April 1940

Verzweifelte Lage

Die Exil-SPD berichtet am 7. April 1940 über die verzweifelte Lage der Juden im Deutschen Reich:

Die Judenverfolgungen

Über die Lage der unter nationalsozialistischer Herrschaft lebenden Juden haben wir zuletzt in unserem Heft 7/1939 (Seite A 80 -119), das heißt in unserer letzten Vorkriegsnummer, Bericht erstattet. War schon damals die Lage der Juden verzweifelt genug, so ist seither noch weit Schlimmeres geschehen. Die Judenverfolgung ist seit dem Polenfeldzug in ihr letztes, grauenvollstes Stadium getreten.

Da das deutsche Volk in seiner Mehrheit den antisemitischen Exzessen heute weniger Sympathie entgegenbringt denn je, bemühen sich die Nationalsozialisten um die Aufput-schung des Judenhasses, indem sie den Juden die Schuld am Kriege zuschieben. Vor allem hat Julius Streicher nach einer kurzen Periode der Schweigsamkeit seine blutrünstige Hetze wieder aufgenommen. Der massenweise verbreitete „Stürmer“ variiert seit Kriegsbeginn in roten Balkenüberschriften, die sich auf jeder Seite wiederholen, und in den dazugehörigen seitenlangen, abscheulich illustrierten Texten unermüdlich das Thema, daß die Juden am Kriege schuld seien. Angebliche Soldatenbriefe aus Polen, die der „Stürmer“ erhalten haben will, berichteten im September und Oktober von jüdischen Greueltaten gegen die einmarschierenden deutschen Truppen, von vergifteten Brunnen und jüdischen „Meuchelmorden“ aller Art. Der Rundfunk unterstützte die Arbeit Julius Streichers durch fortgesetzte Judenhetze, und Hitler selbst hat in seiner Reichstagsrede am 6. Oktober 1939 von den „jüdischen Kapitalisten und Journalisten“ gesprochen, die am Kriege schuld seien und die im Kriege besser verdienen könnten als im Frieden. Gegenwärtig ist die deutsche Presse vor allem bemüht, den demokratischen Staatsmännern des Westens eine jüdische Blutbeimischung oder zumindest jüdische Versippung nachzuweisen. Soweit wir die Wirkung der Propaganda überblicken können, macht dieses Kriegs-Schuldmanöver auf das deutsche Volk wenig Eindruck, und die Judenverfolgungen werden nach wie vor abgelehnt. Anders steht es freilich mit den unter nationalsozialistischer Führung aufgewachsenen Jugendlichen, die der antisemitischen Propaganda größtenteils verfallen sind und auch, wo immer sich Gelegenheit bietet, in hellen Haufen an den Ausschreitungen gegen die Juden teilnehmen.

1. Die Juden im Reich

Der Hauptakt des grauenvollen Dramas spielt sich auf polnischem Boden ab. Im Reich selbst, aus dem die direkten Nachrichten über das jüdische Schicksal nur spärlich fließen, sind die Hauptwaffen gegen die noch nicht verschickten Juden offenbar Hunger und Kälte. Die Juden werden bei der Zuteilung von Lebensmitteln, Kohlen und allen anderen rationierten Artikeln grundsätzlich stark benachteiligt. Darüber liegen die beiden nachstehenden Berichte vor:

Berlin: 1. Bericht: Das Schicksal der jüdischen Familien - es handelt sich in der Hauptsache nur noch um Greise und Kinder - ist sehr hart. Die Juden werden bei der Nahrungsmittelzuteilung nur spärlich bedacht. Fleisch bekommen sie selten und in sehr geringen Mengen, Fisch, Geflügel, Milch und Butter gar nicht. Aber auch die Beschaffung der einfachsten Kost wie Hülsenfrüchte und Kartoffeln macht ihnen Schwierigkeiten, weil sie an besondere Einkaufszeiten gebunden sind. Sie werden erst kurz vor Geschäftsschluß in die Läden eingelassen, wenn alles Nahrhafte und Gute weggekauft und nur noch der Abfall vorhanden ist. Die Lebensmittelkarten der Juden sind mit einem „J“ gezeichnet. Sonderrationen, die gelegentlich verteilt werden, entgehen ihnen ganz.

Wer in der kältesten Zeit überhaupt noch ein paar Kohlen im Hause hatte, war nicht sicher, ob er sie behalten durfte. Bei vielen Juden hat man die Heizvorräte einfach „beschlagnahmt“. Daß Juden keine Kleiderkarten bekommen, wißt Ihr wohl schon. Zum Ausbessern ihrer alten Sachen erhalten sie vierteljährlich ein Röllchen Nähgarn. „Jüdische“ Schuhe dürfen nicht besohlt, Wäschestücke nicht ersetzt werden. Vor allem die alten Leute haben unter der grimmigen Kälte bitter gelitten. Zum Glück finden sich doch sehr häufig mutige - fast darf man sagen todesmutige - arische Freunde, die diese Unglücklichen nicht im Stich lassen und ihnen heimlich dies oder jenes zustecken.

2. Bericht: Frau X. berichtet Fürchterliches aus der Hölle Berlin. Die Juden wissen wirklich nicht mehr, was sie tun dürfen und was nicht. Lebensmittel gibt es für Juden erst nach 12 Uhr, überall sind Schilder, daß Juden vor 12 Uhr das Betreten der Läden verboten ist. Man verhaftet Juden, die nach 8 Uhr abends auf der Straße sind. Dem ... hat man seine Kohlenvorräte einfach weggenommen. Dort ist es überhaupt grausig. Wußten Sie, daß die Nazis am 9. November wieder Verhaftungen vorgenommen haben, besonders in Breslau, zur „Erinnerung“ an den vorjährigen Pogrom?

Die Juden, die sich sozusagen auf freiem Fuß befinden, werden kaum besser behandelt als Sträflinge. Auch darüber geben zwei Berichte nähere Einzelheiten:

Süddeutschland: Die schneeschaufelnden „Judenkolonnen“ haben hier nicht dazu beigetragen, die Stimmung zu heben. Diese ausgemergelten Gestalten könnten einen Hund jammern. Jüdische Zwangsarbeiter im Alter zwischen 16 und 60 Jahren werden jetzt überhaupt zu den schwersten Arbeiten herangezogen, zum Straßenbau, zur Entladung von Eisenbahnzügen usw. Es sind viele Intellektuelle darunter, Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller usw. Man erzählt, daß manche bei der Arbeit zusammenbrechen. Ich habe das nicht selbst gesehen, aber wie sollte es anders sein? Die Leute sind noch schlechter ernährt als der Durchschnittsdeutsche, sie reißen ihre Kleider herunter und bekommen keine neuen geliefert, auch keine Arbeitssachen. Die Entlohnung ist ganz unterschiedlich geregelt. Bei uns bekommen die Judenkolonnen wohl ein völlig unzureichendes Kantinenessen, aber keinen Barlohn. Anderwärts sollen ein paar Groschen bezahlt, aber gar keine Lebensmittel verabreicht werden. Die deutschen Behörden bemühen sich, die jüdische Auswanderung trotz des Krieges zu unterstützen, gelegentlich zu erzwingen. Aber wohin sollen die Juden auswandern? Erst nimmt man ihnen das Geld ab, und wenn dann kein anderes Land die mittellosen und zermürbten Menschen aufnehmen will, behauptet man noch, die Juden betrieben ihre Abreise nicht energisch genug, es gefalle ihnen viel zu gut in Deutschland. Das hat wirklich unlängst - wenigstens dem Sinne nach - in unserer Zeitung gestanden.

Am meisten fürchten sich die Juden vor der Verschickung ins „Judenreservat“ nach Lublin. Mancher hat schon aus Furcht vor diesem Schicksal Selbstmord begangen. Südwestdeutschland: In ... hat sich folgender Vorfall abgespielt. Hier war ein höherer arischer Beamter seit dreißig Jahren mit einer Jüdin verheiratet. Ihr fehlten die äußeren Merkmale ihrer Rasse so vollkommen, daß auch nach dem Tode ihres Mannes ihre Abkunft völlig verborgen blieb. Die beiden Kinder aus dieser Ehe wagten es unter Hitler, ihre halbjüdische Abstammung zu verbergen. Die Tochter war bis zuletzt städtische Bibliothekarin, während der Sohn einen gut dotierten Posten als Ingenieur bekleidete. Mutter, Tochter und Sohn haben buchstäblich keine ruhige Stunde mehr gehabt und zitterten vor der Entdeckung, da sie sich im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung fortlaufend strafbar machten. Zu Beginn des Krieges wurde der Sohn eingezogen und ist in Polen gefallen. Bei der Feststellung der Rentenverpflichtungen für seine Frau kam alles heraus: Mutter und Schwester haben sich Ende Januar durch Gas vergiftet.

Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden geht weiter, das heißt sie geht ihrem Ende entgegen, denn schon jetzt sind nur noch winzige Reste des jüdischen Vermögens vorhanden. Den jüdischen Wohlfahrtsinstitutionen wird das Arbeiten außerordentlich erschwert. Soweit die den jüdischen Gemeinden gehörenden Häuser noch nicht beschlagnahmt sind, gehen sie nach und nach in den Besitz des Staates und der Städte über. So wurde z. B., wie die „Leipziger Neuesten Nachrichten“ Mitte Januar meldeten, das israelitische Krankenhaus in Leipzig von der Stadt übernommen und in ein städtisches Hospital verwandelt. Die jüdischen Kranken mußten abtransportiert werden. Die jüdischen Schulgebäude in Berlin sind bereits im Oktober beschlagnahmt worden, man hat Evakuierte aus dem Rheinland darin untergebracht.

Auch aus ihren privaten Wohnungen werden die Juden entfernt, ohne daß sie eine Möglichkeit sähen, anderwärts Quartier zu finden.

Hamburg: Eine jüdische, alteingesessene Familie, Mann 66, Frau 64 Jahre alt, vermögend gewesen, besitzt seit 14 Jahren eine große Wohnung. Der Hauswirt kündigte ihnen am 1. März 1940 zum 31. März 1940, entgegen den Kontraktbestimmungen ohne Begründung. Sie können keine neue Wohnung bekommen. In der Familie wohnt seit vielen Jahren ein 77jähriger Verwandter. Ihn trifft also das gleiche Schicksal.

Sachsen: Einer jüdischen Familie ist die Wohnung zum 1. April 1940 durch den Hauswirt ohne Angabe von Gründen gekündigt worden. Eine neue Wohnung ist nicht zu erhalten. Der Mann ist kein Jude, nur die Frau ist Jüdin. Er, ein Ausländer, bekam zur Weimarer Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft. Das Dritte Reich hat ihn vor einigen Monaten ausgebürgert. Die Frau ist 40, der Mann 45 Jahre alt.

Wenn einige wenige Juden bisher dem Ärgsten entgehen konnten, so danken sie das dem Umstand, daß der deutsche Antisemitismus eben nicht echt, sondern von der Partei künstlich aufgezogen ist. Ein kleines Beispiel dafür gibt der folgende Bericht: Mitteldeutschland: In einer großen Maschinenfabrik in X. arbeiteten seit langem einige jüdische Ingenieure, die ihre Stellung behalten konnten, weil sie infolge ihrer Spezial-kenntnisse im Einvernehmen mit der deutschen Arbeitsfront als Angestellte anerkannt worden waren. Bei den Pogromen vom November 1938 blieben auch ihre Wohnungen vom „Ausbruch des Volkszornes“ verschont. Aber schließlich legte sich die Partei ins Mittel und verlangte, daß man eine „Lösung“ finden müsse. Der Betriebsführer fand sie auf folgende Weise: er erklärte, daß man den arischen Ingenieuren nicht mehr länger zumuten könne, mit den jüdischen Kollegen zusammenzuarbeiten - und mietete für diese besondere Büroräume, wo sie ungestört weiter für den Betrieb tätig sind.

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