Situation in Lublin
Am 16. Dezember 1939 druckt „The Times“ folgenden Artikel über die Situation der in das Gebiet Lublin deportierten Juden:
Lublin den Juden. Der Nazi-Plan. Ein steiniger Weg zur Vernichtung.
Von einem Korrespondenten
Das deutsch besetzte Polen umfasst ein Gebiet von etwa 70 000 Quadratmeilen mit einer etwa 22,5 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung. Die bis 1918 preußischen Provinzen - Posen, Pommern und Oberschlesien - sind in das Reich eingegliedert worden, ebenso das nördliche Randgebiet sowie eine breite Zone im Westen, die bis vor dem letzten Krieg als Kongresspolen bezeichnet wurde: insgesamt eine Fläche von etwa 27000 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von nahezu acht Millionen Menschen. Der übrige Teil wird von den Nazis treffend als polnischer Reststaat bezeichnet.
In diesem „Reststaat“ ist in der unwirtlichen Region um Lublin ein Gebiet als Judenreservat vorgesehen. Die Schätzungen über die geplante Größe dieses Areals schwanken stark; in manchen werden ein paar hundert Quadratmeilen genannt, in anderen 3000 und mehr. Nicht dass dies eine große Rolle spielen würde, denn ins Auge gefasst wird ein Ort, der eindeutig der schrittweisen Vernichtung dienen soll und nicht etwa als Lebensraum, wie es die Deutschen nennen würden. Im äußersten Fall umfasst das Deportationsprogramm alle Juden, die sich inzwischen unter deutscher Kontrolle befinden: 180 000 aus dem ursprünglichen Reich, 65 000 aus Österreich, 75 000 aus dem Tschechischen Protektorat, etwa 450 000 aus den annektierten polnischen Provinzen und fast 1,5 Millionen aus dem polnischen Reststaat. Diese Zahlen sind nur statistische Näherungswerte. Werden nicht-arische Christen auch einbezogen? Und wie viele Juden sind mittlerweile in Polen unter der deutschen Besatzung umgekommen bzw. wie viele konnten über die russische Grenze fliehen?
Die Zahl der Toten geht in die Zehntausende, die der Flüchtlinge in die Hunderttausende. Doch der Umfang des Programms ist wiederum nahezu irrelevant: Es läuft auf ein Blutbad hinaus, wie es zwar [nur] einem Nazi-Hirn entspringen kann, das jedoch selbst die Nazis in der Praxis kaum vollständig werden durchführen können. Unterdessen dient es dazu, viele Tausende zu foltern und alle Übrigen zu terrorisieren.
Einige, denen die Flucht gelang
Es ist unmöglich festzustellen, wie viele Juden inzwischen in das Lubliner Reservat deportiert worden sind. Genaue Angaben könnten nur die deutschen Behörden machen oder die jüdischen Gemeinden, die gezwungen werden, sich an dieser grauenvollen Arbeit zu beteiligen; doch die Deutschen wollen nichts sagen, und die Juden wagen es nicht. Verlässliche Informationen über diese Vorgänge stammen in erster Linie von Einzelnen, denen es gelungen ist, über die russische Grenze zu fliehen. Sie kennen die Größe und das Schicksal ihres eigenen Transports und erhielten zudem von Personen, denen sie zufällig begegnet sind, Informationen über andere. Doch keiner von ihnen kann das gesamte Vorhaben überblicken. Vor einigen Wochen wurde die Zahl 45 000 in der Weltpresse verbreitet, bei der es sich offenbar um eine Übertreibung handelte. Zu diesem Zeitpunkt kann die Zahl der nach Lublin deportierten Juden 10 000 kaum überstiegen haben. Bislang ist bekannt, dass Transporte aus Wien, Mährisch-Ostrau, Teschen und Kattowitz in Schlesien das Reservat erreicht haben, offenbar jedoch keiner aus dem Altreich oder dem polnischen Reststaat.
Das vorrangige Ziel ist die Gewinnung von Raum und Kriegsbeute für die Deutschen in den Gebieten, die zur systematischen Germanisierung ausgewählt wurden. Deshalb scheint die Gefahr einer systematischen Evakuierung im Protektorat sowie in den westlichen Provinzen Polens am größten zu sein - während beispielsweise in Wien der Sadismus lokaler Nazis zur Entsendung eines Transports führen kann.
Der folgende Bericht wurde aus Informationen von „Evakuierten“ zusammengestellt, denen es gelang, via Russland ein neutrales Land im Norden zu erreichen. Anfang Oktober wurde die jüdische Gemeinde von Mährisch-Ostrau aufgefordert, eine Namenliste aller Männer im Alter zwischen 17 und 55 [Jahren] aufzustellen sowie Freiwillige für ein „Umerziehungslager“ im Zusammenhang mit dem geplanten jüdischen Reservat bei Lublin einzuziehen. Da nur sehr wenige dem Aufruf gefolgt waren, befahlen die Nazis allen Juden zwischen 17 und 70, sich registrieren zu lassen und sich am 17. Oktober um acht Uhr morgens in der Reitschule in Ostrau einzufinden.
Ein geschlossener Zug
Jeder Mann erhielt die Anweisung, einen Rucksack, einen Koffer und Proviant für drei Tage sowie einen Betrag von höchstens 300 Mark mitzunehmen. Man sagte ihnen [den Männern], sie sollten sich zu Hause von ihren Familien verabschieden, da es niemandem gestattet sei, sie zu begleiten, und in der Schule absolute Ruhe zu herrschen habe. Dort werde eine medizinische Untersuchung durchgeführt, und als Invaliden eingestufte Männer würden wieder zurückgeschickt werden. Doch die sogenannte Untersuchung erwies sich als Farce, und selbst schwere Erkrankungen wurden nicht als ausreichender Grund zur Freistellung anerkannt. Ungefähr 1000 Männer wurden in Bussen zum Bahnhof gebracht. Als dieser makabre Zug durch die Straßen von Mährisch-Ostrau fuhr, sah man nicht-jüdische Tschechen und selbst einige deutsche Frauen bitterlich weinen.
Der Zug stand bis zum nächsten Morgen im Bahnhof. Die Reise nach Nisko, südwestlich von Lublin, dauerte drei Tage. Hinter Krakau wurde es verboten, die Zugfenster zu öffnen oder an Bahnhöfen Wasser zu besorgen. In Nisko wurde der Transport in zwei Gruppen geteilt. Ungefähr 650 jüngere und arbeitsfähige Männer wurden nach Zarzecze geschickt und etwa 450 alte Männer und Invaliden nach Pysznica. In Zarzecze hatten die jüngeren Männer auf einem an einen Bauernhof angrenzenden Feld anzutreten. Die SS-Wachen wurden in einer Scheune untergebracht, die Ärzte in einem anderen Nebengebäude; den Männern wurde befohlen, unter Anleitung der jüdischen Ingenieure aus dem Transport Baracken zu bauen. Völlig erschöpft von der Reise, mussten sie in strömendem Regen mit der ihnen völlig fremden Arbeit beginnen. Drei Tage und Nächte verbrachten sie im Freien, und es dauerte zwei oder drei Wochen, bis die Baracken einigermaßen bewohnbar waren. Es wurde weder Lohn gezahlt noch Essen verteilt. Die Juden mussten von dem leben, was sie mitgebracht hatten. Die Gruppe älterer Männer und Invaliden, die nach Pysznica geschickt worden war, wurde in der ersten Nacht von örtlichen Bauernbanden angegriffen. Ein Jude wurde getötet, ein anderer schwer verletzt, und alle wurden sie ihrer Habe beraubt. Sie stoben in der Dunkelheit auseinander, manche verirrten sich in den umliegenden Sümpfen und Wäldern.
Ein paar Tage später trafen weitere Transporte aus Wien und Kattowitz ein, einige Kleinkinder waren dabei. Die Juden, die auf verschiedene Gemeinden und Dörfer verteilt worden waren, wurden von den dortigen Bauern angegriffen und etwa 15 von ihnen getötet. Danach nahmen die Juden Kontakt zu den polnischen Bürgermeistern und Geistlichen auf und sicherten sich im Austausch gegen medizinische Leistungen in einer Gegend, in der Epidemien weit verbreitet und Ärzte rar sind, etwas Hilfe und Schutz. Doch die Bauernwachen erwiesen sich nicht immer als verlässlich, ln einem Fall führten sie eine Gruppe von Juden in einen Sumpf, raubten sie aus und überließen sie ihrem Schicksal; sechs Männer kamen um.
Dann organisierten die Juden ihre Selbstverteidigung, und dies ermöglichte ihnen zusammen mit der medizinischen Hilfeleistung, sich heil querfeldein zur russischen Grenze durchzuschlagen. Eine beträchtliche Anzahl Juden, vor allem der jüngeren und kühneren, hat es seitdem geschafft, über die Grenze in das Land zu gelangen, das für sie vergleichsweise Freiheit und Sicherheit bedeutet. Ob solche Massenfluchten auch noch möglich sein werden, wenn die Zahl der Deportierten zunimmt, ist allerdings fraglich. Es gibt ein weiteres Lager in Tomashov bei Lublin, wo etwa 700 Juden unter strenger SS-Bewa-chung stehen. Zwar sind sie dort offenbar keinen körperlichen Misshandlungen ausgesetzt, doch lässt man sie langsam verhungern.
Im Niemandsland
Ein anderer Bericht stammt von einem Mann, der in dem Transport aus Teschen war. Die Jüdische Gemeinde von Teschen erhielt den Befehl, binnen 48 Stunden alle Männer zwischen 14 und 60 [Jahren] antreten zu lassen und zum Bahnhof zu schicken; aus Teschen kamen 145 und aus dem umliegenden Bezirk etwa 350 [Männer], Jeder Einzelne durfte 600 polnische Zloty und 60 Pfund Gepäck mitnehmen, aber nicht weit entfernt, in Bielitz, wurden ihnen ihr Geld und ihre Habseligkeiten geraubt. Danach wurden sie zu je 90 bis 100 Mann trotz schlechten Wetters auf offene Viehlaster gedrängt; sie mussten während der ganzen Fahrt stehen. Dieser Transport ging nach Ulanow am San. Ein paar Tage lang lagerten sie im Freien. Danach wurden die Jüngeren und Kräftigeren herausgesucht und zur Arbeit gebracht, die Älteren und Schwächeren brachte man weg. Als sie nach dreistündigem Marsch den Fluss erreichten, der die Grenzlinie zu Russland bildet, zeigte man ihnen, in welche zwei Richtungen sie das deutsch besetzte Gebiet verlassen sollten, und sagte ihnen, dass sie erschossen würden, wenn sie zurückkehrten. Einige haben Lemberg erreicht, doch von vielen anderen hat man seither nichts mehr gehört; sie sind möglicherweise ertrunken bzw. erschossen worden oder irren irgendwo im Niemandsland umher.
In einigen Lagern in der Gegend um Lublin ist es den Juden erlaubt, hin und wieder nach Hause zu schreiben; in anderen ist jeder Kontakt zur Außenwelt verboten. Nichtsdestoweniger haben sich die Nachrichten über die Bedingungen im Lubliner Konzentrationsgebiet in allen jüdischen Gemeinden unter der Nazi-Herrschaft verbreitet, und häufig verschwinden Männer, die von Transporten bedroht sind oder dies befürchten, oder begehen Selbstmord. Die Nazis setzen die Angst vor Lublin zum Teil ganz bewusst ein. In Wien wurde den Juden von einer der Nazi-Größen mitgeteilt, dass die Stadt bis Februar judenrein zu sein habe; sie müssten entweder emigrieren oder würden nach Lublin geschickt oder auf andere Weise ausgemerzt. Aber wo sollen sie hin?