Kaum Berufsaussichten in den USA
Max Wiener macht Ernst Grumach aus Berlin in einem Brief vom 11. Dezember 1939 wenig Hoffnung auf eine Stelle an einem amerikanischen College:
Lieber Herr Grumach,
mit großer Spannung erwartete ich Ihren Brief vom 11. XI. (der erst vor etwa zwölf Tagen in meine Hände kam), und mit wirklich ausgehungerter Wißbegier las ich ihn. Zuerst zu dem Punkt, der Sie speziell betrifft und so auch mich höchlichst interessiert: Ganz nüchtern gesehen und nach Erfahrung von nunmehr zwei Monaten muß ich sagen: daß das College hier weitere Einladungen ergehen läßt, ehe das Schicksal der bisherigen entschieden ist, halte ich für ganz unwahrscheinlich. Außer mir, der ich immer noch das Glück habe, wenn auch nicht in meinem Fach, acht Stunden zu unterrichten, ist hier Landsberger, wie Sie wissen, bis 33 a. o. Kunstprofessor in Breslau und dann Museumsleiter bei der Gemeinde in Berlin, und ein Dr. Werner aus Breslau, Musikwissenschaftler und - wie er meint - Autorität auf dem Gebiet religiöser, besonders jüdischer Musik. Keiner von uns verdankt erfolgreichen Bemühungen des College das Herüberkommen. Ich, wie Sie wissen, hatte einen regulären Anstellungsvertrag, der der Form des Einwanderungsgesetzes vollkommen genügte. L. war in London Gast von Murray, der sich persönlich beim Konsulat bemühte und das Visum erwirkte. Werner war im Herbst vorigen Jahres als visitor hier, was die Sache natürlich außerordentlich erleichterte, und bekam dann, weil er am Breslauer Seminar in den letzten Jahren Musikunterricht gegeben hatte, hier einen Anstellungsvertrag, auf Grund dessen er von Cuba aus in gesetzlich einwandfreier Weise als Non-quota-Mann einwandern konnte. Dieser Tage hörte ich, daß Dr. Sonne, der am Seminar in Rhodos tätig war und nach dessen Auflösung nach Palästina ging, auf Grund einer schon seit langem ergangenen Berufung das Visum erhalten hat. Gottschalk und Franz Rosenthal scheinen definitiv abgelehnt; hinsichtlich Spanier und Lewkowitz, die beide in Holland sitzen, sagte mir der principal schon Anfang Oktober, daß von Washington aus, wo er eigens deswegen vorstellig war, entsprechende günstige Bescheide an die Konsuln ergangen seien. Aber noch immer höre ich nichts Positives. Hinsichtlich Alexander G. erklärte mir gestern der principal, es sei alles in bester Ordnung - bis auf die Kleinigkeit, daß wieder einmal die entsprechenden Dokumente von hier beim Konsulat nicht eingegangen seien, obwohl sie abgeschickt waren. Sie mußten also erneuert werden. Was dann geschehen wird, und ob sie dem Konsul genügen werden, steht dahin. Ich habe den Eindruck, daß die Konsuln in dieser Hinsicht völlig selbständig verfahren und von hier aus schwerlich wider ihren Willen bestimmt werden. Das ist also wenig erbaulich und ist von hier wohl nicht mit der nötigen Voraussicht behandelt worden, konnte es vielleicht auch nicht. Daß aber unter diesen Umständen zunächst keine Neuauflage von Berufungen erfolgen wird, ist klar. Kollege Eugen hat übrigens die Herrschaften hier ebenso im Ungewissen gelassen, wie er sich dort in ein Mysterium hüllt. - Für Sie, lieber Herr Grumach, müßten zwei Bedingungen erfüllt sein: ein allgemeines College müßte Sie vielleicht als Philologen engagieren, vorausgesetzt, daß Ihre Königsberger Universitäts-Antezedenzien, verstärkt durch die Lehranstaltstätigkeit, die europäische Basis dafür abgäben. Findet sich ein solches? Wenn für zwei Jahre das Gehalt gesichert wäre, auch von dritter Seite, was zulässig ist, dann müßte das nicht unmöglich sein. Aber wo einen Menschen finden, der einen Mindestbetrag von 3500 - 4000 $ ä fonds perdu zur Verfügung stellte? Wenn ich an Ihre Frau und deren außerordentliche Tüchtigkeit und Fähigkeit auf kunstgewerblichem Gebiet denke, so brauchte dieser Fonds gar nicht einmal perdu zu sein. Aber wenn ich das glaube, wird es auch schon der präsumptive Geldgeber glauben? Oder haben Sie hier einen Goldonkel, auf den Sie mich hetzen können? - Ich kenne einen Fall in Berlin, der genau so verlief. Aber das ist natürlich alles sehr vage. Sie haben ja augenblicklich dort noch an unserm Haus eine Tätigkeit. - Daß Sie mit ihrer Frau in einem der südamerikanischen Länder, nach allem, was ich über die dortigen Dinge höre, bestimmt nicht verloren sein würden, ist ein gar nicht zu verachtender Ausweg. Man weiß ja gar nicht, was in Europa wird. Schicken Sie mir jedenfalls, ohne daß ich irgendwelche Hoffnungen erwecken möchte, alles, was Sie von sich haben. (Sehr dankbar wäre ich Ihnen auch, wenn Sie mir von meinen eigenen Schriften, die Sie in Händen haben, einiges überließen bezw. die Lehranstalt bäten, mir das als Drucksache zu schicken. Ich habe ja nichts von mir selbst. Ferner wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie in meinen ausgewählten Luzzato-Briefen blätterten und die Nummern der von mir aus dem Hebräischen bezw. Italienischen usw. [übersetzten] genau angäben. Vielleicht mache ich hier eine englische Ausgabe.) Heute erhielt ich Korrekturbögen meines Monatsschriftaufsatzes. Kommt nun der ganze Band? Ich schicke keine Korrekturen zurück, was ja zu lange dauerte. Daß Gross und Joseph „aus persönlichen Gründen“ auf ihr Zertifikat verzichtet haben, bedaure ich sehr, namentlich [bei] Gross. - Was meint Dr. Fabian dazu, der sich doch gerade persönlich um Gross und das Zustandekommen von dessen Alija bemüht hat? Grüßen Sie beide besonders von mir, ebenso natürlich die ändern Kollegen und Studenten! Wenn man nur wüßte, was mit den Jungens zu machen wäre! Mit dem principal habe ich öfters darüber gesprochen. Er vertritt den Standpunkt, gegen den sich gar nichts einwenden läßt, daß, wenn Dutzende von ausgewachsenen Kollegen herüberkamen und -kommen, mit denen schlechterdings nichts anderes anzufangen ist, als ihnen höchst bescheidene Stellungen in ihrem Beruf zu beschaffen, was überaus schwer ist, man also unmöglich junge, noch umschichtungsfähige Leute herübernehmen kann, ganz abgesehen von den kaum zu überwindenden Schwierigkeiten ihrer Immigration. - Sagen Sie, bitte, Baeck, daß ich aus einem von seinem Schwiegersohn hierher gesandten Brief entnahm, daß es den Seinigen offenbar gut geht. Er kann ja direkt von ihnen nichts hören. - Die Lehranstalt kann sich vielleicht noch jetzt sehen lassen. Der hiesige Betrieb ist natürlich ein rein schulmäßiger, d. h. wesentlich auf den Durchschnitt der Menschen abgestellt und auf die angebliche Erfahrung, daß junge Leute nur gezwungenerweise lernen. - Sagen Sie Schaefer, den ich grüßen lasse, er soll mir von sich aus der Schule schreiben! - Sie schreiben, Sie hätten in Vertretung von Strauss Lateinunterricht geführt. Wo ist eigentlich Strauss? - Im Nachrichtenblatt, das ich regelmäßig erhalte, habe ich noch keinen Nekrolog auf ihn gelesen. Was dort steht, ist noch weniger als ein Stahlgerippe der Ereignisse in der Gemeinde. Einiges hört man ja auch sonst aus Briefen usw; aber es ist doch ein großes Schweigen, und so würden Sie mich sehr erfreuen, wenn Sie mir bald wieder einmal einen Brief schrieben, der nicht bloß auf die Fragen und Anregungen dieser Zeilen eingeht. - Meine Frau und ich grüßen Sie mit Weib und Kind recht herzlich.
Ihr