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Chronik und Quellen
1939
Juni 1939

Bericht über Schicksal jüdischer Flüchtlinge

Paul Eppstein von der Reichsvereinigung der Juden hält am 16. Juni 1939 in einem Vermerk fest, was er bei seiner Vorladung der Gestapo über das Schicksal jüdischer Flüchtlinge – u.a. jener auf der „St. Louis“ - vorgetragen hat:

1. Hapag-Dampfer „St. Louis“

Es wird über das Ergebnis der Verhandlungen in Paris und London berichtet. Aus diesen Verhandlungen ergibt sich folgendes:

a) Die Passagiere des Dampfers „St. Louis“ werden zu einem Zwischenaufenthalt bis zu ihrer Weiterwanderung in Belgien, England, Frankreich und Holland untergebracht. Die Verteilung wird voraussichtlich so vorgenommen, dass je 250 Personen in Belgien, England und Frankreich und der Rest in Holland untergebracht werden.

b) Der Joint hat eine finanzielle Garantie für ein Jahr in Höhe von $ 150.- je Kopf übernommen.

c) Die Landung der Passagiere soll voraussichtlich in Antwerpen erfolgen, von wo aus die Verteilung der Familien auf die in Betracht kommenden Länder vorgenommen werden soll. Die Hapag ist bereit, einen kleineren Dampfer zur Verfügung zu stellen, der die für England bestimmten Passagiere dorthin bringen wird und mit dem die für Frankreich bestimmten Personen, sofern belgische Transit-Visa nicht zu erlangen sind, nach Cherbourg fahren werden.

d) Unterbringungsmöglichkeiten in der Nähe von Cuba (Martinique, Guadalupe) Hessen sich trotz entsprechender Verhandlungen nicht ermöglichen. Das Projekt der Unterbringung eines Teils der Personen in Tanger hat sich ebenfalls zerschlagen.

Von den 937 Passagieren sind 743 Weiterwanderer nach USA. Die Zahl der Handwerker beträgt rund 200.

Befragt nach den Erfahrungen in diesen Verhandlungen wird geantwortet, dass Sir Herbert Emerson am 8.5.1939 ein Telegramm an die Hapag gerichtet habe, in dem er vor der Entsendung dieses Schiffes gewarnt hat, dass, soweit uns bekannt geworden sei, ein offizielles Schreiben des Hohen Kommissars abgegangen sei, dass dies das letzte Mal gewesen sei, dass die ausländischen Hilfsorganisationen für die Unterbringung von Passagieren von Sonderschiffen die Fürsorge übernehmen. Der Eingang dieses Briefes an Herrn Ministerialdirektor Wohlfahrt wird seitens des Herrn Reg. Rat Lischka bestätigt. Der Vorschlag in diesem Brief, dass die Passagiere nach Hamburg zurückkehren und von dort erst für die weitere Unterbringung ausgewählt werden sollen, wird auf Grund der Verhandlungen der letzten Tage als überholt bezeichnet.

Es wird im übrigen darauf hingewiesen, dass sich die Massnahmen der cubanischen Regierung nicht ausschliesslich gegen die Hapag richten, sondern dass auch die Passagiere des französischen Schiffes Flandre, soweit sie in Cuba nicht landen konnten, zurückgebracht werden müssen.

Auf einen schriftlichen Bericht über die Reise wird verzichtet, eine nochmalige Reise zur Ausschiffung und Verteilung der Passagiere voraussichtlich nach Antwerpen wird angekündigt.

2. Ausweisung von Polen

Es wird vorgetragen, dass durch die Praxis der kurzfristigen Ausweisungen die allgemeine Auswanderung beeinträchtigt zu werden droht. In England habe man davon gehört, dass, soweit den Ausweisungsfristen nicht entsprochen werde, die Durchführung der Abschiebungshaft der Polen in Konzentrationslager geplant sei. In diesem Falle bestehe die Gefahr, dass England auch für die Zwischenwanderung seine Grenzen sperre, da man in England der Auffassung sei, dass eine solche Massnahme nicht den Grundlagen des Statement entspreche, das das Intergovernmental Committee bezw. die Deutsche Regierung festgestellt habe. Wenn eine solche Gefahr für die allgemeine Auswanderung durch die Praxis in den Polen-Fällen drohe, sei wohl die Zuständigkeit der Reichszentrale einzuschalten notwendig, um die Durchführung der Ausweisungen in England mit den tatsächlichen Einwanderungsmöglichkeiten [in Einklang] zu bringen. Es wird berichtet, dass eine kurze Darstellung der wichtigsten Fragen an die Abteilung S.V. 7 des Innenministeriums (Oberregierungsrat Wetz) gesandt worden sei und dass es zweckmässig erscheine, wenn eine unmittelbare Fühlungsnahme der Behörde erfolge. Diese wird in Aussicht gestellt.

3. Verlegung der Ort-Schule

Unter Vorlage der Vorgänge wird gefragt, welche Förderung der Auswanderung die Verlegung der Ort-Schule nach England bedeute. Es handle sich doch nur um die Verlegung der derzeitigen Schülerzahl nach England, dagegen nicht um die Schaffung zusätzlicher Auswanderungsmöglichkeiten. Hierauf wird geantwortet, dass die Verlegung der Schule nach England die Auswanderung der etwa 140 Schüler ermögliche, die sonst hier bleiben würden, und dass die Schule jeweils wieder neue Praktikanten zur Ausbildung aufnehmen werde. Insoweit sei uns die Verlegung der Ort-Schule nach England erwünscht, zumal die Maschinen der Berliner Lehrwerkstätte Eigentum der englischen Ortgesellschaft seien.

4 .Auswandererabgabe von Ruhegehaltsempfängern

Der Entwurf des Rundschreibens wird gebilligt. Über die devisenrechtliche Frage, ob die Abtretung der Auswandererabgabe aus dem Konto Versorgungsbezüge vor der Auswanderung des Ruhegehaltsempfängers von diesem beantragt werden könne, wird eine nochmalige Nachprüfung und Bericht anheimgegeben.

5. Auswanderung nach Südamerika

Es wird nach den Einwanderungsmöglichkeiten für Handwerker in Chile gefragt im Zusammenhang mit einer besonderen Antragstellung der Wiener Kultusgemeinde an die Hilfsorganisation in Santiago.

Ferner sei bekannt geworden, dass Brasilien auf eine Intervention des Papstes etwa 3500 Personen zulassen wolle, vermutlich nichtarische Christen." Dies wird zur Nachprüfung und Verwertung mitgeteilt.

6. Fritz Warburg

Es wird danach gefragt, ob inzwischen die Bemühungen von Herrn Fritz Warburg betr. Lehrfarm in Schweden zu einem Erfolg geführt hätten. Hierüber wird Bericht angefordert.

7. Camp-Fall Karminski

Seitens der Behörde wird mitgeteilt, dass Herr Pfarrer Grüber davon Kenntnis gegeben habe, dass die Unterbringung des Herrn Karminski in dem Transit-Camp in England unmöglich geworden sei, vermutlich auf Veranlassung der Reichsvertretung. Auf Befragen wird mitgeteilt, dass die Meldungen der nichtarisch christlichen Camp-Anwärter unmittelbar von den entsprechenden Organisationen nach England gerichtet werden, dass also im Hinblick auf die Auswahl die Reichsvertretung keinerlei Einfluss genommen habe und in diesen Fällen auch keinen Einfluss nehme. Die Bestätigung Karminskis sei zurückgenommen worden, nachdem in dem Camp selbst die bevorstehende Ankunft des Herrn Karminski bekanntgeworden sei und unter den Camp-Insassen grösste Beunruhigung hervorgerufen habe, da Herr Karminski in seiner Eigenschaft als Vorarbeiter in Sachsenhausen die dort befindlichen Juden in besonderer Weise behandelt habe. Die Ankunft in Richborough hätte in bezug auf seine Person zu erheblichen Befürchtungen Anlass gegeben, so dass die Leitung in Richborough die Zurücknahme der Bestätigung des Home Office veranlasst habe. Die Angelegenheit wird nach dieser Erklärung seitens der Behörde als erledigt betrachtet.

8. Palästinawanderung

Es wird über die Londoner Besprechungen im Hinblick auf die am 15.6.1939 zur Veröffentlichung gelangende Schedule berichtet, ferner über die Devisenschwierigkeiten bei der Durchführung von Transporten zur Sonderhachscharah.

9. Durchführung der Arbeit des Hilfsvereins

Seitens der Behörde wird von einem Schreiben des Herrn Paul Israel Toller, Mahlsdorf, Tresckowstr. 60 (50-8467), Kenntnis gegeben, in dem Beschwerden über die Arbeit im Hilfsverein, namentlich in bezug auf drei Einzelfälle: Schlesinger, Löwenthal und Rubin geführt werden. Im Falle Löwenthal wird ausdrücklich erwähnt, dass ein Schreiben vom 17.5. erst am 9.6. an den Sachbearbeiter gelangt sei. Der Schreiber behauptet in diesem Brief, er arbeite ehrenamtlich bei der Reichsvertretung und bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin mit. Was die Reichsvertretung angeht, wird erklärt, dass von einer solchen Mitarbeit nichts bekannt sei. Die Angaben des Herrn Toller sollen nachgeprüft werden.

10. Lehrerauswanderung

Es wird gefragt, ob Grund dafür vorliege, die Auswanderung von jüdischen Lehrern unter dem Gesichtspunkt der Versorgung der jüdischen Schulen nunmehr offiziell zu behandeln und gegebenenfalls Entbehrlichkeitsnachweise einzuführen. Nachprüfung und Bericht wird in Aussicht gestellt.

11. Verwaltung der Fürsorge

Der Behörde liegt ein Schreiben des Provinzialverbands Rheinprovinz vom 17.4.1939 an die Abteilung Fürsorge vor, in dem die Einführung einer neuen Buchhaltungs- und Abrechnungsmethode als bürokratisch dargestellt und kritisiert wird. Über den Sachverhalt wird Bericht angefordert mit dem Bemerken, dass es in diesem Stadium nicht angemessen sei, eine Erschwerung der Verwaltungsarbeit durch formelle Komplikationen herbeizuführen.

12. Berichte zur Erörterung

Es soll berichtet werden über folgende Angelegenheiten:

a) Auswandererabgabe Elli Weil, Beuthen
b) Bescheinigungen über landwirtschaftliche Betätigung
c) Brief der Paltreu über Schulgeldkontingent

13. Sudetengau

Unbeschadet der noch ausstehenden generellen Entscheidung kann die Bekanntgabe des Verbots der Benutzung von Schlaf- und Speisewagen durch Juden an die jüdischen Gemeinden im Sudetengau vorgenommen werden.18

14. Bekanntmachung Gailingen

Die Bekanntmachung des Bürgermeisters in Gailingen mit den beschränkten Ausgehzeiten für Juden wird vorgelegt und eine Abschrift des in Betracht kommenden Teils der Bekanntmachung zu den Akten gegeben.

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