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Chronik und Quellen
1939
Juni 1939

Bericht zur Reise der „St. Louis“

Der Zahlmeister der „St. Louis“ berichtet zwischen dem 2. und 11. Juni 1939 über die Fahrt des Flüchtlingsschiffes nach dem Landeverbot in Havanna:[1]

18.2.6.

Heute morgen kurz vor der Abfahrt wurden 6 Passagiere mit Permit laut Presidential Order gelandet. Der über Bord gesprungene Dr. Loewe bleibt im Hospital in Habana, so dass die Gesamtzahl der ausgeschifffen Passagiere 29 beträgt und 907 an Bord verbleiben. - Die beiden Herren vom Joint Relief Committee, die gestern abend an Bord waren, sprachen noch einmal vor der Abfahrt zu den versammelten Passagieren und ermahnten sie, die Ruhe zu bewahren; es würde bestimmt eine Lösung gefunden werden, und nur durch das Auslaufen der „St. Louis“ wären die Voraussetzungen für weitere Verhandlungen gegeben. - Die Agentur überbrachte dem Kapitän die telegrafische Order von Hamburg, die Heimreise anzutreten, und teilte mit, dass Herr Direktor Schröder aus New York telefoniert hätte, dass das Schiff langsam nach Norden fahren sollte. Gleichzeitig teilte die Agentur mit, dass mit der Möglichkeit einer Rückkehr nach Habana gerechnet werden müsste und dass sich die Republik St. Domingo bereit erklärt hätte, die Passagiere aufzunehmen. Hierauf verliessen wir um 11 Uhr den Hafen und fuhren langsam nach Norden. Laut telegrafischer Weisung von Hamburg wird ab heute für alle Passagiere einheitlich III. Klasse-Verpflegung - laut Verpflegungsvorschrift 33 gegeben; die Passagiere sind hiermit vollkommen einverstanden. Für die Reisenden, welche rituell essen, werden Milchspeisen, Teigwaren und Hülsenfrüchte zu jeder Mahlzeit bereitgehalten. - Wegen der langsamen Fahrt des Schiffes und durch ermunternde Telegramme des Joint ist die Stimmung der Passagiere zuversichtlich.

19.4.6.

(Wir fahren mit voller Kraft nach Norden.) Das Schiff fährt mit langsamer Fahrt durch die Florida-Strasse nordwärts. Während des Tages liefen verschiedene Telegramme vom Joint ein, welche besagen, dass die Verhandlungen weitergehen und dass noch Hoffnung auf Habana besteht. Herr Direktor Schröder telegrafierte aus New York, dass Aussicht auf Landung in Habana besteht und dass das Schiff 24 Stunden auf der Stelle bleiben solle. Die Passagiere werden durch Anschläge laufend von den eingegangenen Nachrichten unterrichtet. Zur Beruhigung wurde ihnen noch mitgeteilt, dass ein in der Nähe liegender Staat sich bereit erklärt habe, sie aufzunehmen.

[20.]4.6.

Wir fahren mit voller Kraft nach Norden. Der Kapitän gab den Passagieren bekannt, dass die Verhandlungen ununterbrochen weitergeführt würden und dass keinesfalls die Hoffnungen auf Habana aufgegeben werden dürften. Das Schiff führe heute aus der Florida-Strasse heraus und hielte auf einen Punkt zu, welcher von New York, Habana und Haiti [gleich] weit entfernt sei. Da die Passagiere unruhig waren, wurden sie dringend aufgefordert, die Ruhe zu bewahren und keine unnötige Kritik an den Massnahmen der Schiffsleitung und an der Mitarbeit des Passagierausschusses zu üben.

[21.] 5.6.

In der Nacht traf Order von Hamburg ein, dass erst heute wegen des zu erwartenden Ergebnisses der Unterhandlung des Joint mit dem Präsidenten von Cuba bis auf weiteres langsam gefahren werden sollte. Die langsame Fahrt des Schiffes beruhigte die Passagiere, welche gestern abend sehr unruhig waren, sehr, und die Stimmung wurde wieder etwas zuversichtlicher. Gegen Abend lief ein Telegramm des Centro Israelita ein, dass die Landung der Passagiere auf der Insel Pinos an der Südküste Cubas behördlich genehmigt sei. Diese Nachricht wurde von den Passagieren mit ungeheurer Freude aufgenommen, welches auch darin zum Ausdruck kam, dass die Abendunterhaltungen, welche seit der Abfahrt von Habana sehr wenig Zuspruch hatten, stark besucht waren.

[22.] 6.6.

Heute Morgen traf Order aus Hamburg ein, mit voller Kraft Kurs auf Hamburg zu fahren. Einige Stunden später telegrafierte New York, dass Aussicht auf Landung auf Pinos bestehe und dass wir Instruktionen aus Hamburg erhalten würden. Den Passagieren wurde bekanntgegeben, dass eine offizielle Bestätigung der gestrigen Nachricht wegen Pinos jede Minute erwartet würde und dass die Hapag sich bereit erklärt hätte, nach einem anderen Hafen Mittelamerikas zu fahren, wenn alle Passagiere einverstanden wären, dass alle Extrakosten von dem Rückreisedepot abgezogen würden. Da bis abends noch keine Bestätigung wegen Pinos eingetroffen war, wurden die Passagiere wieder sehr unruhig und nervös.

23.11.6.

Da auch am 7. Juni keine Bestätigung über Pinos einlief, wurde den Passagieren mitgeteilt, dass Verhandlungen mit St. Domingo im Gange seien. Die eingegangenen und abgesand-ten Telegramme wurden den Passagieren laufend bekanntgegeben, und es musste immer wieder etwas Neues erfunden werden, um die Ruhe einigermassen aufrechtzuerhalten. Am 8. Juni wurde von jedem Passagier eine schriftliche Erklärung abgegeben, dass sie damit einverstanden seien, dass die der H.A.L. entstehenden Kosten von dem Rückreisedepot abgezogen würden. Der Kapitän erhielt ein Telegramm aus New York, wonach die Landung in Cuba nicht mehr in Frage kam. Die Passagiere setzten jetzt alle Hoffnung auf St. Domingo, waren aber sehr misstrauisch und wollten nichts mehr glauben. Die Stimmung wurde immer unruhiger und nervöser; um sie zu beruhigen, wurde ihnen mitgeteilt, dass das Schiff immer noch zurückkehren könne. Am meisten befürchteten die Passagiere, von denen ca. 300 im Konzentrationslager waren, dass sie wieder nach Deutschland zurück müssten, und sprachen offen aus, dass in diesem Falle zahlreiche Selbstmorde begangen würden. Um Verzweiflungstaten zu verhüten, wurden die Wachen überall im Schiff verstärkt, und um das ganze Schiff herum wurde die Reling ständig beobachtet. Wir sind alle der Meinung, dass die getroffenen Sicherheitsmassnahmen zweckmässig und notwendig sind. Als dann am 9. Juni die endgültige Bestätigung kam, dass sowohl St. Domingo als auch Habana nicht mehr in Frage kämen, bemächtigte sich der Passagiere eine sehr grosse Unruhe, sie scharten sich in Gruppen zusammen und diskutierten und weinten. Der Kapitän ging über Deck und sprach überall zu den Gruppen beruhigende und ermunternde Worte. Hierauf wurde eine Versammlung in der Halle auf dem Promenadendeck zusammengerufen, worin zuerst der Rechtsanwalt Joseph und dann der Kapitän zu den Passagieren sprach. Hierdurch wurden die Passagiere etwas ruhiger, waren jedoch sehr niedergeschlagen. Gestern kam die Nachricht, dass zwecks vorübergehender Aufnahme mit England verhandelt würde. Heute wurde auf Anfrage der Hapag festgestellt, wieviel Passagiere mit englischem Visum an Bord seien. Zur Beruhigung der Passagiere wurden in der Zahlmeisterei alle Passagiere mit erteilten oder beantragten Permits für England und mit Visen für andere Länder registriert. Die Passagiere haben sich jetzt einigermassen wieder beruhigt und setzten jetzt ihre ganze Hoffnung auf England.

Fußnoten

[1] Das Kreuzfahrtschiff „St. Louis“ hatte am 13.5.1939 Hamburg Richtung Kuba verlassen. Die meisten der 937 Passagiere waren Juden auf dem Weg in die Emigration, denen der Chef der kubanischen Einwanderungsbehörde Einreisegenehmigungen ausgestellt hatte, ohne dazu befugt zu sein. Bereits am 6.5.1939 hatte die kubanische Regierung diese Bescheinigungen für ungültig erklärt, doch erfuhren die Passagiere der „St. Louis“ dies erst, als dem Schiff Ende Mai in Havanna die Landung verweigert wurde.

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