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Chronik und Quellen
1939
Februar 1939

Lebensumstände in Antwerpen

Simon Meisner[1] berichtet jüdischen Hilfseinrichtungen nach seiner Flucht am 21. Februar 1939 über die Lebensumstände in Antwerpen:

Liebe Winterhilfe, Hilfsverein, Büro Adler, Oberrat, Nothilfe!

Es wird eigentlich Zeit, dass ich von mir etwas hören lasse. Am 3.2. habe ich Deutschland verlassen, weil ich die Ausbürgerungsurkunde des Polenstaates nicht nach Freudental gesandt bekommen wollte, ln Kehl wurde ich aufmerksam gemacht, dass ohne Sichtvermerk ich nicht nach Deutschland zurück kann. Sonst ereignete sich gar nichts. Ich hatte allein einen Wagen und kam niemand zu mir. In Paris verbrachte ich einige frohe Tage und liess mir vom belgischen Konsulat ein Visum geben, um über Belgien nach Holland zu fahren. Die 2 holländischen Passkontrolleure beanstandeten meinen Pass und verweigerten mir die Einreise. Da ich nicht zufrieden war, riefen sie ihren Chef, welcher die Beanstandung aufrechterhielt. Da ich wieder nicht einverstanden war, wurden 2 Polizisten als Begleitung nach Rotterdam mitgesandt. Im Polizeiamt wurde ich von verschiedenen Beamten verhört, und das Ergebnis war: Ausweisung. Ich protestierte, und das Justizministerium Den Haag wurde angerufen, welches bestätigte, dass ich nicht aufs Schiff darf. An die holländische Königin habe ich mich von Belgien aus gewandt, bekam aber keine Antwort. In Begleitung wurde ich zur belgischen Grenze gebracht. Die Belgier wollten mich aber nicht zurückhaben und schickten mich zurück. Die Holländer nahmen mich auch nicht an, und so fuhr ich einige Stunden zwischen zwei Ländern. Da hab ich den Belgiern vorgeschlagen, mich nach Frankreich zu lassen. Der Vorschlag leuchtete ein, und ich erhielt ein Durchreisevisum. Mit diesem bin ich in Antwerpen ausgestiegen. Mit Schwierigkeiten habe ich gerechnet, aber nicht geglaubt, dass diese in Europa beginnen werden. Nun muss ich sehen weiterzukommen und will ich nach Frankreich oder England, um einen Weg nach Uebersee zu finden. Hier sind 5000 Flüchtlinge, die illegal kamen. Ein Comitee besteht hier, welches den Flüchtlingen Essen gibt und wöchentlich 30 Franken pro Person für Miete ausbezahlt. Da das Comitee nur Staatenlose (nachweisbar!) und deutsche Staatsangehörige auf Grund einer Vereinbarung mit der Regierung unterstützt, konnte das Comitee mich nicht annehmen, weil Polen, Tschechen, Ungarn, Rumänen ein Heimatland haben, wohin sie können. Für Belgien bin ich noch nicht staatenlos. Wenn ich die Ausweisung habe und nach 20 Tagen angetroffen werde, komme ich ins Gefängnis, bis ein Frachtdampfer nach Gdingen geht. Die Polen werden natürlich unbestellte Waren nicht annehmen wollen und die Landung nicht gestatten. Man erzählt aber, dass die Schiffe Weisung haben, einen unbewachten Augenblick zu benützen, um den Fahrgast an Bord zu setzen. Man kann dann einige Wochen im Hafen bleiben müssen. So etwa habe ich mir die Landung in Peru vorgestellt. Das Comitee hat mich zum Rabbiner geschickt und sollte ich zu dem gehen, der meiner Parteirichtung entspricht. Ich glaube bei allen gewesen zu sein und bin besonders darauf stolz, dass mich alle hinausgeworfen haben. Vielleicht war ich der 500. an einem Tag, der gehen musste, ohne angehört zu werden. Auf dem Rücken von 50 000 Juden leben hier 10 000 Berufsschnorrer und 5000 Flüchtlinge. Jede Massenerscheinung stumpft ab und erweckt kein Interesse. Damit muss man jeden Tag Leute trösten. Jeder erzählt, wie sehr er in Deutschland gespendet hat, und hier will niemand von Empfehlungen Kenntnis nehmen. Die meisten vergessen, dass man um der Hilfe willen hilft, und wer davon erzählt, annulliert, was er einst Gutes getan hat. -

Dass man hier meine Papiere nicht sehen wollte, trage ich niemandem nach. Es gibt hier eine sehr grosse Zahl Intellektueller und ehemalige Gemeindevorsteher. Das Schicksal aller Emigranten ist nicht das einer Vergangenheit, sondern eine Zukunftsfrage. Man muss Zukunftswege suchen und nicht Protektionen und Anleihen bei seiner Vergangenheit in Deutschland suchen. Wege zu finden sind schwer. Ich war bei einer grossen Zahl Diamantenschleifern, Metzgern, Bäckern, Schuhmachern usw. und habe mich überzeugt, dass auch eine kleine Verdienstmöglichkeit ausgeschlossen ist, weil die Kontrolle gegen Schwarzarbeit sehr streng ist und alle Flüchtlinge gefährden kann. Einen Plantagenbesitzer habe ich geplagt, mich nach Belgisch-Kongo mitzunehmen. Er hat es abgelehnt, weil er sagt, dass Weisse nicht die Arbeit der Schwarzen übernehmen können, aus klimatischen Gründen. Die französische Fremdenlegion nimmt keine Juden mehr an, da bereits 14 000 dabei sind. Einige Male war ich beim englischen Konsul und versuche ich, ihn zu überzeugen, dass er mir ein englisches Transitvisum geben muss. Er ist der einzige Konsul in Anvers, der meinen Pass noch ernst nimmt. Ich habe aber noch keinen Weg gefunden, dass mir der Beamte des Foreign Offices in London keine Landungsschwierigkeiten verursacht. Der franz. Konsul würde mir ein Visum geben, wenn Polen meine Staatsbürgerschaft anerkennt. Vorläufig setze ich alles auf England, und sollen die Engländer mich in eine Kolonie schicken, wenn sie mich in London nicht brauchen können. Das Leben ist hier sehr billig. Für 1 Franken = 8 Pfg. bekommt man ein Brot. Für 1 Ei zahlt man 45 Cent, 1 Tasse Tee oder Kaffee 50-60 Cent. 1 kg. Orangen 1,20 Franken. So kommt es, dass ich mit 2 Franken täglich durchkomme. 10 Reichsmark sind 112 belgische Franken. Ich bin also für 56 Tage versorgt. Da ich die ersten Tage eingeladen war, bin ich bis 15.4.39 versorgt. Miete kostet mich nichts. Mein Zimmer ist ein Dachboden und unterrichte ich hierfür die Kinder der Familie Anysz, Jordanstraat 24. (Wohnungen sind hier rar geworden, und jeder Keller und jeder Dachboden wird von Flüchtlingen bewohnt.) So habe ich mir wenigstens Wohnung aus meinem früheren Beruf retten können. Das Comitee zahlt den Besitzern von deutschen und Nansenpässen wöchentlich 30 Franken und täglich gibt es ein Mittagessen. In Brüssel gibt es 55 Franken pro Person ohne Mittagessen. Für 2-3 Franken gibt es schon einfache koschere Mittagessen. Billiger ist dran, wer selbst kocht. Wäsche wäscht man selbst, und wer vom Schuhmacherhandwerk was versteht, kauft Leder und Nägel und spart 12 Franken für Schuhsohlen. Wer rauchen will, bekommt für 1,10 Franken 1 Dutzend Zigaretten. Wenn das Comitee durchhalten kann, sind die Flüchtlinge nicht schnell daran. Sorge machten uns die Zurückgebliebenen in Deutschland. Wenn man nur genügend Devisen beschaffen könnte, um allen einen Transitaufenthalt ermöglichen zu können, bis die Weiterwanderung nach USA oder nach sonstigen Ueberseeländern möglich ist. Unter grossem moralischen Druck spendet hier jeder für die Flüchtlinge, die hier sind, und das erschwert die Hilfe für die Auswanderungswilligen in Deutschland, die man durchsetzen muss. Wie weit ist es beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart, und was tut sich sonst im Gemeindeleben? Ich habe das Interesse für Württemberg hier nicht verloren und grüsse Sie alle herzlichst

Ihr

Fußnoten

[1] Simon Meisner (1912-1994) war von 1933 bis April 1938 als Religionslehrer und (ab 1935) als Leiter der jüdischen Schule in Freudental tätig. Er betätigte sich als Fluchthelfer, war dann seit November 1938 Leiter der jüdischen Schule Rexingen bis er im Februar 1939 über Frankreich nach Belgien emigrierte. Er Überlebte die NS-Zeit.

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