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Chronik und Quellen
1938
Dezember 1938

Alltag in der Auswanderungsstelle Wien

Fred Rodeck schildert 1940 im Rahmen eines Preisausschreibens der Harvard-Universitiy die Bürokratie in der Wiener Zentralstelle für jüdische Auswanderung Ende 1938:

Schliesslich wurden die gesamten jüdischen Passangelegenheiten im Palais Rothschild, in der Prinz-Eugen-Strasse im IV. Bezirk, konzentriert. Auch dort war stundenlanges Warten und wiederholte Vorsprache notwendig, aber immerhin: dieses Passamt funktionierte wenigstens.

Es ist der Mühe wert, einmal den Vorgang der Passbeschaffung zu verfolgen, wie er sich in den letzten Monaten des Jahres 1938 abspielte. Vorbedingung für die Erlangung eines Passes war vor allem der Nachweis einer Einreisebewilligung in irgendein anderes Land. Damit musste der jüdische Passwerber zunächst zur Kultusgemeinde gehen, wo der Einreisenachweis geprüft wurde und er ein ganzes Bündel von Formularen erhielt, die er ausfüllen musste. Dort erhielt auch der Passwerber eine Bestätigung (im Hinblick auf eine allfällige Wehrpflicht), dass er Jude sei. Ferner musste er dort nachweisen, ob er Vermögen habe oder nicht, und im ersteren Falle eine Abgabe bezahlen, die dazu diente, mittellosen Juden die Auswanderung zu ermöglichen. Schliesslich erhielt er dort einen Zettel, auf dem ihm vorgeschrieben war, an welchem Tage und zu welcher Stunde er sich beim Passamt im Rothschildpalais einzufinden habe. Bevor er aber zur Passtelle geht, muss er noch das Polizeibezirksamt (zwecks Identitätsbestätigung von Photographien und amtlicher Personenbeschreibung), die Bezirkshauptmannschaft und das Rathaus (zwecks Bestätigung über Bezahlung von Gemeindesteuern) aufsuchen.

In das Passamt im Rothschildpalais kommen die Leute immer schon einige Stunden vor der vorgeschriebenen Zeit, um bestimmt an die Reihe zu kommen, da wiederholt Leute trotz der Vorladung für eine bestimmte Stunde nach Hause geschickt wurden. Eine Zeitlang musste man sich schon in der Nacht anstellen. Nach vielstündigem Warten auf der Strasse und im Hofe des Gebäudes, allen Unbilden, nicht nur der Witterung, sondern auch der diensthabenden Nazi-Aufseher (meist 17-28 Burschen in SS-Uniform) ausgesetzt, werden die Leute schliesslich in das Haus hineingelassen. Dort haben sie zunächst ein weiteres Bureau der Kultusgemeinde (wenn sie Mischlinge sind, der Gildemeester-Aktion) zu passieren, wo ihre gesamten Dokumente und Formulare nochmals hinsichtlich Vollständigkeit und Richtigkeit der Ausfüllung geprüft werden. Nach weiterem stundenlangem Warten kommen sie endlich ins Allerheiligste: das eigentliche Passamt, wo Beamte der Gestapo, der Polizei, der Devisenstelle, Steuerbeamte usw. Dienst machen. Auf den Tischen der meisten dieser Herren stehen Orchideen, die jedesfalls nicht aus den eigenen Glashäusern dieser Beamten stammen dürften. Aber offenbar sind es diese Herren schon von Jugend auf gewohnt, kostbare Orchideen auf ihren Schreibtischen stehen zu haben. Ueberhaupt bildete die Pracht des Rothschildpalais mit seinen Gobelins, Marmorstatuen und Kristallüstern einen merkwürdigen Hintergrund für die gedrängten Massen armer, eingeschüchterter und verzweifelter Juden und die überhebliche Geschäftigkeit hochmögender Bürokraten, die mit verächtlicher Ueberlegenheit auf die vor ihnen stehenden armen Teufel herabsahen. Mir gegenüber war das Benehmen der Beamten im allgemeinen korrekt, vereinzelt sogar freundlich - andere Leute haben allerdings weit schlechtere Erfahrungen gemacht. Gehässigkeit habe ich nur seitens der Herren von der Devisenstelle gesehen, welche die Genehmigung zur Mitnahme von Umzugsgut zu erteilen haben. Der Auswanderungskandidat hat bei dieser Gelegenheit eine eidesstattliche schriftliche Erklärung abzugeben, dass alle Dinge, die er mitzunehmen beabsichtigt, schon vor dem 1. Jänner 1938 in seinem Besitz waren, eine Vorschrift, die später wesentlich verschärft wurde. Ebenso ist der Besitz von Schmuck genau anzugeben. Der Passwerber hat eine Reihe von 17 Schreibtischen zu passieren, wobei an verschiedenen Stellen auch Gebühren (Stempel) zu bezahlen sind. Jeder Passwerber hat eine Postkarte mit sei-er Adresse mitzubringen und erhält einige Wochen später die Verständigung, wann er seinen Pass abholen kann, was dann wieder ein mehrstündiges Anstellen erfordert. Voraussetzung für die Ausfolgung des Passes sowie für die Mitnahme irgendwelchen Umzugsgutes bildet jedoch die sogenannte „Steuerunbedenklichkeit“, eine amtliche Bescheinigung, dass der Passwerber keine Steuerschulden hat. Davon war bereits in einem anderen Zusammenhang die Rede.

Hat der Auswandernde endlich seinen Pass, so muss er, nachdem er sich bei den ausländischen Konsulaten die notwendigen Einreise- und manchmal auch Durchreisevisa beschafft hat, nochmals zur Kultusgemeinde gehen, um dort die von der Devisenstelle erteilte Genehmigung zur Mitnahme von 30 Mark pro Person in ausländischer Währung zu erhalten. Wenn er, wie dies zur Regel geworden ist, nicht mehr über das Reisegeld verfügt, muss er sich nochmals bei der Kultusgemeinde anstellen, die ihm Reisegeld oder Fahrkarten zur Verfügung stellt. Dann kann er sich endlich für dreissig Mark in der Bank ausländisches Geld kaufen - manchmal gibt es auch hier Schwierigkeiten, da die notwendigen Valuten nicht immer vorhanden sind - und reisen.

Wie aus alledem hervorgeht, ist die Beschaffung eines Reisepasses sehr zeitraubend, anstrengend und kostspielig. Alte Leute sind kaum in der Lage, alles dies selbst durchzuführen. Ganz armen Leuten muss die Kultusgemeinde off auch das Geld zur Dokumentenbeschaffung zur Verfügung stellen. Der ganze Vorgang aber mit allen seinen Begleiterscheinungen ist furchtbar niederdrückend. Vor allem die verelendeten Massen in der engen düsteren Gasse vor der Kultusgemeinde. Neben den um Passformulare Angestellten warten andere auf die Verteilung von Speisemarken und Unterstützungen. Wieder andere sprechen in Wohnungsangelegenheiten, weitere in Angelegenheit ihrer Verwandten vor, die sich im Konzentrationslager in Dachau oder in Buchenwalde befinden. Quer über die Gasse sind Stricke gespannt, um das Zusammenströmen allzu grösser Menschenmassen zu verhindern. Die Ordnung wird von uniformierten Beamten der Gestapo und freiwilligen jüdischen Ordnern der Kultusgemeinde aufrechterhalten, soweit von Ordnung überhaupt die Rede sein kann.

Bis Ende des Jahres 1938 dürften auf diese Weise etwa 60 000 bis 70 000 Juden ausgewandert sein. Es dürfte kaum ein Land in der Welt geben, in das nicht Juden aus Oesterreich ausgewandert sind. Vor dem chinesischen Konsulat z.B. standen die Leute genauso angestellt wie vor dem mexikanischen Konsulat, vor den Vertretungen süd- und mittelamerikanischer Republiken sowie gewisser Schiffahrtslinien.

Die Schwierigkeiten der Passbeschaffung und Auswanderung riefen auch Passchwindel und Passfälschungen hervor, wobei Nationalsozialisten selbst keine geringe Rolle spielten. In Interessentenkreisen waren die Namen einer Anzahl von Nazis bekannt, die sich nicht nur mit illegaler Beschaffung in- und ausländischer Pässe, sondern auch von Visa bestimmter ausländischer Staaten befassten. Die „Passbeschaffung“ erfolgte zum Teil auch in der Weise, dass anderen Leuten ihre gültigen Pässe konfisziert und nach entsprechender Behandlung weiterverkauft wurden.

So hatte sich z. B. eine Frau, die seit langem in Wien ansässig, aber tschechoslowakische Staatsbürgerin war, nach vieler Mühe und mit grossen Opfern einen tschechoslowakischen Pass beschafft. Am gleichen Tage erschien in ihrer Wohnung ein SA-Mann, fragte sie, ob sie ihre Dokumente in Ordnung habe, und verlangte diese zu sehen. Dann erklärte er, den Pass und den Heimatsschein (die beiden wichtigsten Dokumente) zur Kontrolle auf die Polizei mitnehmen zu müssen, dort könne sich die Frau in einigen Tagen diese Papiere wieder abholen. Ueber ihre Bitten beliess er der Frau dann schliesslich ihren Heimatschein. Auf der Polizei aber wusste man von der ganzen Sache nichts und erklärte der Frau, man habe keine Ahnung, wo ihr Pass sei, und solche Fälle seien nicht selten. Die Stellungnahme der Nazi zur Frage der jüdischen Auswanderung war vollkommen uneinheitlich. Es waren deutlich vier verschiedene Richtungen zu unterscheiden. Eine Gruppe steht auf dem klaren und einfachen Standpunkt: Juda verrecke! Die Juden sollen überhaupt nicht ins Ausland, weil sie dort Greuelpropaganda gegen uns machen, sie sollen einfach krepieren. Eine grosse und sehr einflussreiche Gruppe steht auf dem Standpunkt: „Juden hinaus! Für uns ist die Judenfrage erst gelöst, bis der letzte Jude das Land verlassen hat. Sie müssen so bald wie möglich hinaus, dürfen aber selbstverständlich so wenig als möglich mitnehmen.“ In Wirtschaftskreisen, insbesondere von manchen wirtschaftlichen Körperschaften, wurde die Meinung vertreten, dass die jüdische Auswanderung nicht zu sehr beschleunigt werden solle, um wirtschaftliche Schäden zu vermeiden. Auch von verschiedenen Steuerbehörden wurde immer wieder der Vorrang der Steuerzahlung vor der Auswanderung betont, was praktisch auf eine Verlangsamung der Auswanderung hinauslief.

Schliesslich ist noch eine Gruppe vorhanden, welche die Juden gewissermassen als Geiseln zurückbehalten möchte oder sie gewissermassen als Mittel zur Beschaffung von Auslandsdevisen betrachtet und sie nur gegen ein Lösegeld (z.B. in Form einer Anleihe „zur Finanzierung der jüdischen Auswanderung“) freigeben möchte. Pläne dieser Art hat insbesondere Dr. Schacht praktisch zu verwirklichen versucht, und seine Verhandlungen darüber standen gerade am entscheidenden Punkte, als er zurücktreten musste.

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